23. Münchner Bohemisten-Treffen

23. Münchner Bohemisten-Treffen

Organisatoren
Collegium Carolinum – Forschungsinstitut für die Geschichte Tschechiens und der Slowakei
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.03.2019 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Matthias Melcher, M.A. Osteuropastudien, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Die Gäste des 23. Bohemisten-Treffens, das vom Collegium Carolinum traditionell Anfang März ausgerichtet wird, begrüßte MARTIN SCHULZE WESSEL (München) in diesem Jahr an einem ungewohnten Ort. Denn aufgrund der andauernden Bauarbeiten im Sudetendeutschen Haus fand die Kurztagung im Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität statt. Schulze Wessel wies auf das vielfältige Programm dieses Forums für Tschechien- und Slowakei-Forschung hin, das von Wirtschaftsgeschichte bis zu literaturwissenschaftlichen Arbeiten eine breite Perspektive aktueller Forschung bot. Die Generalkonsulin der Tschechischen Republik KRISTINA LARISCHOVÁ (München) hieß die Anwesenden ebenfalls mit einem herzlichen „Grüß Gott!“ willkommen und freute sich über die große „bohemistische Begeisterung“ mit der die ForscherInnen zu einer Verbesserung der bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien beitragen und verwies auf Tschechien als Gastland der diesjährigen Leipziger Buchmesse.

In der anschließenden ersten Sektion befassten sich zwei Forscherinnen unter der Moderation von STEPHANIE WEISS (München) mit eben diesen inter- und transnationalen Beziehungen und gingen auf die Themen Wirtschaft und Nachbarschaft ein. EVA SCHÄFFLER (München) stellte ihre Arbeit zur „Privatisierung in der Tschechischen Republik der 1990er Jahre“ vor, die im Kontext eines Projekts des Instituts für Zeitgeschichte zur Geschichte der Treuhandanstalt entsteht. Ausgehend von der Forderung, sich nicht auf den Singularitätsdiskurs über die tschechische Transformation zu beschränken, möchte sie eine detaillierte Analyse der wirtschaftlichen Entwicklungen vornehmen, um nicht in ein „Erfolg-/ Misserfolg-Narrativ“ zu fallen. Schäffler fokussiert sich bei ihren Untersuchungen auf Tschechien und behandelt die Slowakei nur punktuell. Sie geht in ihrer Arbeit sowohl auf wirtschaftliche Reformszenarien, die unterschiedlichen diesbezüglichen Vorschläge in den 1990er-Jahren, sowie deren internationale Implikationen ein. Dabei stellt sie vor allem internationale Joint Ventures in den Vordergrund und analysiert beispielsweise auch tschechische Investitionen in Deutschland. Auf einer breiten Quellenbasis aus unter anderem Unternehmensarchiven, Gesetzestexten und Zeitungen analysiert Schäffler zudem das Spannungsfeld zwischen marktliberaler Rhetorik und ihrer tatsächlichen Umsetzung, denn sie fasst die Privatisierung in der Tschechoslowakei als Ergebnis eines Aushandlungsprozesses mit vielen Beteiligten auf. In diesem Kontext wird vor allem die sogenannte „Große Privatisierung“ diskursiv analysiert. In der folgenden angeregten Diskussion wurden weitere Faktoren der Privatisierung – so auch der Begriff des „sozialen Kapitals“ nach Bourdieu – ins Spiel gebracht, die für die Arbeit fruchtbar gemacht werden könnten.

HANA FORMÁNKOVÁ (Leipzig) präsentierte im Folgenden ihr Dissertationsprojekt zu den „Möglichkeiten und Grenzen einer transnationalen deutsch-tschechischen Nachbarschaftspolitik“. Dabei handelt es sich um eine Politikfeldanalyse, die den Fokus jedoch nicht auf die internationalen Beziehungen zwischen Regierungen, sondern auf das transnationale Handeln von Nichtregierungsorganisationen und anderen Körperschaften legt. Im Zentrum stehen die vier nach 1990 entstandenen sächsisch-tschechischen Euroregionen. Formánková untersucht in ihrem Projekt Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Euroregionen bezüglich Faktoren wie Formalisierung und Organisationsstruktur und geht damit über bereits bestehende lokale und oft geografische Studien hinaus. Sie fragt nach den unterschiedlichen Steuerungsmöglichkeiten des Staates und verfolgt nach dem Konzept der „Governance“ vor allem den partizipatorischen Prozess der Problemlösung in den genannten Gebieten.

Die zweite Sektion gab (Forschungs-)Institutionen die Möglichkeit, sich kurz vorzustellen und wurde von ULRIKE LUNOW (München) moderiert. Zunächst sprach JOHANNES GLEIXNER (Prag) über die 2017 eröffnete Außenstelle des Collegium Carolinum in Tschechien, die nicht nur durch ihre privilegierte Lage in der Prager Altstadt, sondern auch in ihrer Rolle als Vermittler zwischen WissenschaftlerInnen aus Deutschland, Tschechien und der Slowakei, sowie durch ihr buntes Vortragsprogramm besticht. LADISLAV FUTTERA (Prag) berichtete schwungvoll und mit Humor über das neue Germanobohemistische Team am Institut für Tschechische Literatur der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Dieses widmet sich der Erforschung deutsch-tschechischer Verflechtungen und stellt mit einem Schwerpunkt auf das lange 19. Jahrhundert die Frage, wie man eine transkulturelle Literaturgeschichte schreibt. SOPHIE STRAUBE (München) gab einen Einblick in das Portal „osmikon“1, das in Kooperation von Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Herder-Institut, Collegium Carolinum und der Bayerischen Staatsbibliothek entstanden ist. Als Nachfolgeprojekt der Virtuellen Fachbibliothek Osteuropa (ViFaOst) kann es NutzerInnen nicht nur als Rechercheportal dienen, sondern bietet zudem auch Materialien (z. B. Rechercheguides), Publikationsmöglichkeiten, Themendossiers, ein Forschungsdatenmanagementsystem (im Aufbau) und spezielle Services wie ein Wunschbuch, das über das klassische Anschaffungsbuch hinausgeht. RADKA BONACKOVÁ (Regensburg) berichtete über die Tätigkeit der Bayerisch-Tschechischen Hochschulagentur (BHTA) und verwies auf die Möglichkeit, sich um Stipendien und andere Förderprogramme zu bewerben; gerade Mittel für kleinere Projekte und Mobilitätsbeihilfen werden relativ unbürokratisch vergeben, um die Vorbereitung größerer Nachfolgeprojekte zu ermöglichen.2 Abschließend stellte ULF FELGENHAUER (Bayreuth) das Projekt „Hüben und drüben“3 vom oberfränkischen Verein „Oberfranken offensiv“ vor. Dabei handelt es sich um einen „kulturellen Führer“ für die Region Westböhmen und Ostoberfranken, der sowohl digital als auch gedruckt vorliegt. Vor der Mittagspause präsentierten zahlreiche ForscherInnen unter der Moderation von ROBERT LUFT (München) insgesamt 27 Exposés zu unterschiedlichen Projekten und Veranstaltungen. Die Exposés werden auf der Homepage des Collegium Carolinum im Internet zur Verfügung gestellt.

In der dritten Sektion, die MARION DOTTER (München) moderierte, ging es um Kooperation, Dialog und Krisen. JIŘÍ SMRŽ (Prag) zielt mit seiner Arbeit über die „Zunftmeister und die Verwaltung der Prager Städte in der Frühen Neuzeit“ auf eine Neubewertung der gängigen Analysen der Wirtschaft in dieser Epoche. Anhand der Prager Zunftmeister und ihrer politischen Rolle in den Verwaltungsgremien der Prager Städte zeigt er auf, dass die Zünfte – vertreten durch die ihnen vorstehenden Meister – während der gesamten Frühen Neuzeit maßgeblichen Einfluss auf das politische Geschehen in den Prager Städten hatten. Die Analyse fußt auf detaillierter Quellenarbeit. Smrž nutzt die städtischen Verzeichnisse der „erneuerten Beamten“ der Prager Verwaltungsgremien, um eine Datenbank der Zunftmeister zu erstellen, die wiederum mit den Zunftbüchern abgeglichen werden kann. So kann trotz der komplizierten Verwaltungsstruktur der Prager Städte ein relativ kohärentes Bild des Einflusses der Zunftmeister gezeichnet werden, der sich statistisch in der großen Beteiligung der Zunftmeister im Stadtrat niederschlägt. In der Diskussion wurden die Grenzen dieser Statistik ausgelotet – so kann beispielsweise nicht aufgrund des Namens eines Zunftmeisters auf seine Nationalität geschlossen werden – und auch die Rolle von Frauen als Meisterinnen erörtert. Dies kam in Prag nach den von Smrž analysierten Daten jedoch nicht vor.

MARIE BRUNOVÁ und LUCIE ANTOŠÍKOVÁ (beide Prag) stellten in ihrem Vortrag „Möglichkeiten des Dialogs? Tschechen, Deutsche und die Literatur im Protektorat Böhmen und Mähren“ ihre Arbeit über die deutschsprachige Literatur in der Protektoratszeit zur Diskussion, die im Kontext eines größeren Handbuch-Projekts der Tschechischen Akademie der Wissenschaften steht. Dabei gingen sie zunächst auf die Hürden in ihrer Forschung ein, die oft bereits damit beginnen, die Primärquellen zu finden. Auch bestehen – trotz der Pionierarbeit von Peter Becher zur Literatur (-politik) im Protektorat4 – große Forschungslücken. Das erläuterten Brunová und Antošíková, die sich mit verschiedenen literarischen Gattungen befassen, anhand der gegenseitigen (deutsch-tschechischen) Rezeption. Es scheint vor allem auf der tschechischen Seite eine (nachvollziehbare) größtmögliche Ignoranz gegenüber der deutschsprachigen Literatur gegeben zu haben. Diese erschöpft sich in Heimatmotiven (Stichwort Böhmerwald) und im „Kampf um die schönste deutscher Städte“ – Prag. Hier besteht indessen ein Vergleichspunkt mit der zeitgenössischen tschechischen Literatur, die Prag ebenfalls für sich reklamierte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, handelt es sich bei den untersuchten Texten nicht um Höhenkammliteratur. Dennoch möchten die beiden Prager Forscherinnen für dieses bislang wenig bearbeitete Gebiet Interesse wecken und konnten in der Diskussion noch weitere Anregungen für ihre Arbeit mitnehmen – so z. B. die Frage nach der Rolle der Zensur oder dem Einfluss der örtlichen (Schul-)Behörden, die lokal sehr unterschiedlich agierten.

PAVLA ŠIMKOVÁ (München) moderierte die vierte Sektion, die unter dem Motto „Erinnerung und Gegenwartsliteratur“ stand. Im ersten Vortrag des abschließenden Blocks präsentierte LUCIE VOITOVÁ (Hamburg) ihre Forschungen zur Erinnerungskultur der Shoah unter dem Titel „Anwesend in Abwesenheit. Leerstellen als Kernelement der Shoah-Vergegenwärtigung in der deutschen und tschechischen Gegenwartsliteratur“. Voitová widmet sich der Frage nach Erinnern und Vergessen der Shoah in der zweiten und dritten Generation nach dem Völkermord der Nationalsozialisten. Das rezeptionsästhetische Konzept der Leerstellen, die vom Leser mit Bedeutung aufgeladen werden, erscheint in diesem Kontext besonders fruchtbar, da sich auch die Shoah durch eine Abwesenheit, die gewissermaßen in die gegenwärtige Gesellschaft eingreift, beschreiben lässt. So sind beispielsweise ermordete Familienmitglieder „abwesend anwesend“ und informationelle Leerstellen verlangen nach Erklärungen. Literarisch wird dieser Themenkomplex oft in den einschlägigen Formen des Brief- oder Tagebuchromans verhandelt, so auch bei den Voitovás Studie zugrunde liegenden Texten. Sie untersucht je drei deutsche und tschechische Romane der Gegenwartsliteratur, die verschiedene Leerstellen in unterschiedlicher Intensität aufweisen. Diese Leerstellen können als allgegenwärtige Elemente der behandelten Literatur einen transnationalen Vergleich ermöglichen. In der folgenden Diskussion wurde der Begriff der Leerstelle einer kritischen Reflexion unterzogen und mit dem Motiv des Schweigens in Relation gesetzt, was der genaueren Profilierung der Studie dienen kann.

In seinem thematisch anschließenden Vortrag über „Das Gedächtnis der Vertreibung. Deutsche und tschechische Gegenwartsliteratur und Erinnerungskulturen“ befasste sich VÁCLAV SMYČKA (Regensburg / Prag) ähnlich wie Voitová mit Fragen von Erinnerung und Gedächtnis. Er geht in seiner Dissertation von dem seit etwa zwei Jahrzehnten anhaltenden „Erinnerungsboom“ in Tschechien und Deutschland aus und stellt die Fragen, wie Erinnerung überdauern kann und wie es um ihre Übersetzbarkeit im deutsch-tschechischen Kontext bestellt ist. Dem Assmannschen Konzept der „floating gap“ folgend analysiert Smyčka unterschiedliche Erinnerungsstrategien, die dem Verlust der Unmittelbarkeit (d. h. dem Aussterben der Erlebnisgeneration) entgegenstehen. In seiner Studie unterscheidet Smyčka beispielsweise Kategorien wie „dokumentieren“, „deuten bzw. mythologisieren“, „Trauma beschwören bzw. inszenieren“ oder „in Landschaften lesen“. Es geht ihm jedoch nicht um eine eindeutige Zuordnung von Akteuren zu bestimmten Strategien, sondern eher um eine Analyse der unterschiedlichen textimmanenten Herangehensweisen an das Problem der Erinnerung. Dies wurde in der Diskussion noch einmal verdeutlicht. Im transkulturellen Teil seiner Arbeit zeigt sich, dass mit der Übersetzung immer auch eine Verschiebung des Fokus – eine Veränderung, die beispielsweise an zentralen Begriffen wie „Vertreibung“ sichtbar wird – einhergeht. Die große Frage, inwieweit der neue Erinnerungsboom jedoch zum tatsächlichen Erinnern oder eher zum beginnenden Vergessen beiträgt, muss jedoch auch Smyčka unbeantwortet lassen.

Nach sechs gehaltvollen Vorträgen und zahlreichen Kurzvorstellungen beschloss Robert Luft als Organisator des Bohemisten-Treffens die Tagung und dankte allen Beteiligten. Das traditionelle gemeinsame Abendessen bot zudem die Gelegenheit, sich informell auszutauschen und weckte bereits Interesse für das kommende Bohemisten-Treffen im nächsten Jahr.

Konferenzübersicht:

Martin Schulze Wessel (München) / Kristina Larischová (München): Begrüßung

Teil 1: Wirtschaft und Nachbarschaft
Moderation: Stephanie Weiss (München)

Eva Schäffler (München): Privatisierung in der Tschechischen Republik der 1990er Jahre: eine historische Analyse

Hana Formánková (Leipzig): Möglichkeiten und Grenzen einer transnationalen deutsch-tschechischen Nachbarschaftspolitik

Teil 2a: Kurzinformationen von Einrichtungen
Moderation: Ulrike Lunow (München)

Johanes Gleixner (Prag): Die Prager Außenstelle des Collegium Carolinum

Ladislav Futtera (Prag): Das Germanobohemistische Team des Prager Instituts für tschechische Literatur

Sophie Straube (München): „osmikon“ – das neue Forschungsportal Ost-, Ostmittel und Südosteuropa

Radka Bonacková (Regensburg): Die Bayerisch-Tschechische Hochschulagentur / Česko-bavorská vysokoškolská agentura, Regensburg (btha)

Ulf Felgenhauer (Bayreuth): „Hüben und drüben“. Fränkisches und Böhmisches zum Entdecken

Teil 2b: Kurzvorstellungen der Exposés
Moderation: Robert Luft (München)

Vorstellungen der einzelnen vorliegenden Exposés durch die anwesenden Forschenden – sowie weitere Kurzmitteilungen

Teil 3: Kooperation, Dialog und Krisen
Moderation: Marion Dotter (München)

Jiří Smrž (Prag): Die Zunftmeister und die Verwaltung der Prager Städte in der Frühen Neuzeit

Marie Brunová (Prag) / Lucie Antošíková (Prag): Möglichkeiten des Dialogs? Tschechen, Deutsche und die Literatur im Protektorat Böhmen und Mähren

Teil 4: Erinnerung und Gegenwartsliteratur
Moderation: Pavla Šimková (München)

Lucie Voitová (Hamburg): Anwesend in Abwesenheit. Leerstellen als Kernelement der Shoah-Vergegenwärtigung in der deutschen und tschechischen Gegenwartsliteratur

Václav Smyčka (Regensburg / Prag): Das Gedächtnis der Vertreibung. Deutsche und tschechische Gegenwartsliteratur und Erinnerungskulturen

Anmerkungen:
1 Vgl. https://www.osmikon.de/ (04.03.2019).
2 Zu den Stipendien und Förderprogrammen: http://www.btha.cz/de und http://www.uni-regensburg.de/bayhost/tschechien (04.03.2019).
3 Digital unter https://boehmen-franken.de/ (04.03.2019).
4 Peter Becher, Literatur und Literaturpolitik im Protektorat, in: Ders. / Steffen Höhne / Jörg Krappmann / Manfred Weinberg (Hrsg.), Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder, Stuttgart 2017, 242–249.