Vernetzt, entgrenzt, prekär? Arbeit im Wandel und in gesellschaftlicher Diskussion. Kulturwissenschaftliche Perspektiven

Vernetzt, entgrenzt, prekär? Arbeit im Wandel und in gesellschaftlicher Diskussion. Kulturwissenschaftliche Perspektiven

Organisatoren
Dr. Stefan Groth / Dr. Johannes Müske, Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft, Universität Zürich; Dr. Sarah May, Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, Universität Freiburg
Ort
Zürich/Winterthur
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2019 - 14.09.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Lisa Maria Eidenhammer, Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, Karl-Franzens-Universität Graz; Catharina Rische / Sophia Schütz, Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, Universität Freiburg

BERNHARD TSCHOFFEN (Zürich) eröffnete die 18. Arbeitstagung der dgv-Kommission Arbeitskulturen in Zürich und hob hervor, dass der Untertitel der Tagung das Programm der Kommission fasse, die wechselseitige Durchdringung von Arbeit, Kultur und Technik zu erforschen. In der Einführung verdeutlichte das Organisationsteam STEFAN GROTH, SARAH MAY und JOHANNES MÜSKE, dass Arbeit aufgrund ihrer sich verändernden Modalitäten einem ständigen Wandel ausgesetzt sei. Aktuell seien es vor allem die Digitalisierungs- und Flexibilisierungsprozesse, die Vernetzung, Entgrenzung als auch Prekarisierung in der Arbeitswelt bewirkten.

Der Vortrag von INGA WILKE (Freiburg) fragte nach dem Verhältnis von Arbeit und Nicht-Arbeit in „Muße-Kursen“. Wenn Muße Arbeit am Selbst ist, ist Muße also Arbeit? Oder auch, ausgehend von der Dichotomie Leben und Arbeit, die Arbeit als Gegenspieler der Muße: Gibt es ohne Arbeit auch keine Muße? CLÉMENT BARBIER und CÉCILE CUNY (beide Paris) zeigten, wie deutsche und französische Logistikarbeiter/innen Machtverhältnisse deuten. Es scheinen vor allem die unterschiedlichen arbeitsrechtlichen und finanziellen Bedingungen, teils auch Diskriminierung, im jeweiligen Land zu sein, die die Arbeiter/innen Machtverhältnisse in ihrem Arbeitsalltag verschieden deuten und auch erleben lassen. In Deutschland sei eher die Festanstellung zentrales Thema, in Frankreich seien es die Arbeitsbedingungen. Dem geplanten Wandel der Arbeitswelt aus der Sicht von „Change Managern“ widmete sich MICHAEL MAILE (Tübingen). Change Manager gehen grundsätzlich von der Annahme aus, Veränderungen planen zu können. Der Beitrag gab aufschlussreiche Einblicke in ein Feld, zu dem der Kulturwissenschaft oftmals der Zugang fehlt.

Der erste Vortrag des zweiten Panels beschäftigte sich mit der Musealisierung von Arbeit. SIMONE EGGER (Klagenfurt) stellte die aktuelle Konzeption eines Museums in Wattens (Tirol) zum Thema Alltags- und Industriegeschichte(n) vor. Neben einer Dauerausstellung soll das Museum auch als Laboratorium genutzt werden, das als Raum für Beschäftigung mit unterschiedlichen, wechselnden Fragestellungen konzipiert ist. Masterstudierende der Universitäten Tübingen und Freiburg setzten sich in einem mehrsemestrigen Forschungsprojekt mit volkskundlichen Sammlungen auseinander. Aus den Ergebnissen entstand eine Ausstellung in Freiburg und Waldenbuch. Vier Studierende stellten die Zugänge zum Projekt vor. Was ist Arbeit? Was sagen Objekte über Arbeit aus? Welche Objekte wurden zu Arbeit gesammelt? Verschiedene Sammlungsbestände wurden vor dem Hintergrund aktueller Themen neu betrachtet und somit Arbeit neu interpretiert.

KATRIN PETERSEN (Dortmund) arbeitet bei der DASA – Arbeitswelt Ausstellung an einem neuen Konzept zum Thema Heilen und Pflegen. Essentiell ist für Petersen die interaktive hands-on Methode um vor allem das Interesse junger Besucher/innen zu wecken. SABINE KRITTER (Bochum) fragte, wie Arbeit im Museum dargestellt wird, und vergleicht dafür das Ruhr Museum Essen mit dem Chicago History Museum. In Essen gehe es vorrangig um die Darstellung des Proletariats, in Chicago hingegen wird keine Lebenswelt gezeigt, vielmehr gehe es um einen wirtschaftshistorischen Blick. In der Diskussion stellte sich die Frage, wie dematerialisierte Arbeit heute ausstellbar ist.

DOROTHEE HEMME und ANN-KATHRIN BLANKENBERG (Göttingen) starteten das dritte Panel. In ihrer Forschung zur Lebenszufriedenheit von Handwerker/innen stellten sie die These auf, Handwerk könnte eine entscheidene Rolle in der Steigerung des Wohlbefindens spielen. Die Befragten bewerteten beispielsweise positiv, dass durch handwerkliche Tätigkeiten Arbeit sichtbar werde, da regelmäßig ein Endprodukt angefertigt wird. LINA FRANKEN (Hamburg) thematisierte Strategien von Lehrerenden im Umgang mit zeitlicher und räumlicher Entgrenzung von Arbeit. Durch die einerseits immaterielle als auch entgrenzte Arbeit eignen sich Lehrer/innen Strategien zur zeitlichen und räumlichen Einteilung der Arbeit an. Franken verglich die Arbeit von Lehrer/innen mit Lehrenden an Universitäten. Beide Arbeiten seien entgrenzt, jedoch seien Lehrer/innen kaum von Prekarität betroffen, während sich Dozierende erst zu einem späteren Zeitpunkt ihrer Karriere in einem abgesicherten Arbeitsverhältnis befinden würden. Laut LINDA MÜLLI (Basel) wird Privilegiertheit und Prekarität häufig als Dichotomie gedacht. In ihrem Vortrag argumentierte sie, dass sich diese augenscheinlichen Gegensätze nicht ausschließen. Mülli betonte, dass vor allem das „doing good“ und die moralische Verantwortung „die Welt zu verbessern“ von UN-Mitarbeiter/innen als Privileg empfunden werde. Ihre Arbeit sei aber gleichzeitig insofern prekär, dass diese in der Regel von kurzfristigen Arbeitsverträgen, schlechtem Zugang zum Sozialsystem, finanzieller Unsicherheit sowie konstantem, emotionalem Druck geprägt sei.

ROMAN TISCHBERGER (Augsburg) betrachtete Fehlerkulturen in der Software-Arbeit, die vom ständigen Umgang mit Fehlern (definiert unter anderem als Abweichung von der Norm) geprägt ist. Er arbeitete zweierlei Strategien heraus, wie mit Fehlern umgegangen werde: Menschen können Fehler einerseits als unvermeidlich und als Teil der Arbeit ansehen oder andererseits versuchen, Fehler durch Kontrollinstanzen in Arbeitsprozessen zu minimieren. Tischberger leistet damit einen wichtigen Beitrag zu Forschungen über die Beziehung von Mensch und Maschine. Im Anschluss stellte JUDITH SCHMIDT (Mainz) ihre Forschung zu Saisonarbeiter/innen in der Landwirtschaft vor. Sie argumentierte in ihrem Vortrag, dass landwirtschaftliche und industrielle Arbeit zur immateriellen Arbeit werde, da notwendige Kalkulationen auf Intellekt und Wissen basieren. Schmidt betonte die emotionale Komponente der Arbeit ihrer Interviewpartner/innen. Diese würden immer wieder kalkulieren, ob der finanzielle Gewinn gegenüber Einschränkungen wie der Trennung der Familie aufwiegt.

Panel 4 leitete MANFRED SEIFERT (Marburg) ein. In seinem Vortrag ging er der Frage nach, wie Arbeitnehmer/innen mit Herausforderungen wie Kostendruck oder Beschleunigung umgehen. Damit gehe eine weitere Frage einher: Welches Verständnis von Arbeit haben Arbeitnehmer/innen? Seifert widmete sich im Vortrag vor allem dem Wechsel der Arbeitsstelle als Themenfeld der Studie, denn Bewerber/innen befinden sich laut Seifert in einer situativen Schwellensituation. Anschließend stellteMONIKA LITSCHER (Vaduz) ihre Studie vor, in der sie die Qualitäten von Zukunftsfähigen Arbeitskulturen in Liechtenstein analysierte. Ziel der quantitativen Studie war es, Strategien zu entwickeln und jungen Menschen Arbeitsmöglichkeiten aufzuzeigen. Des Weiteren sollte sie Unternehmen zu arbeitskulturellen Einblicken verhelfen, einen Beitrag zu einer kohäsiven Gesellschaft leisten und zu hoher Lebensqualität beitragen.

CONSTANZE SCHMIDT (Hamburg) berichtete von zwei künstlerisch-wissenschaftlichen Projekten mit Jugendlichen zur Berufsorientierung. In ihrem Vortrag stellte sie die Ergebnisse beider Projekte vor. Das erste der Forschungsprojekte fokussierte Handlungsanweisungen, durch die die Schüler/innen ermutigt wurden, ihre Handlungsmacht wahrzunehmen und zu nutzen. Im zweiten Projekt wurden die Teilnehmer/innen angehalten, die eigenen Wertevorstellungen des Berufslebens zu hinterfragen. ANKE BAHL (Bonn) diskutierte im letzten Vortrag das Spannungsverhältnis zwischen Ausbilder/innen, Betrieb, Management, Schule und Auszubildenden. Oft werde von diesen Akteur/innen und Institutionen Erwartungen an Ausbilder/innen in Betrieben gestellt. Was sollen und können Ausbilder/innen bezüglich ihres Vermittlungsauftrags leisten? Die Wichtigkeit einer pädagogisch geführten Ausbildung werde häufig vernachlässigt. Eine Grundvoraussetzung für die Sicherung einer qualitativ hochwertigen Ausbildung sei eine gute Zusammenarbeit zwischen Management, Ausbilder/innen und Auszubildenden. Lösungsansätze werden derzeit bundes- und europaweit zwischen Bund, Ländern, Arbeitgeber/innen und Gewerkschaften diskutiert.

KLAUS SCHÖNBERGER (Klagenfurt) beendete die Tagung mit einem Resümee. Deren Titel sei eine passende Wahl gewesen. Schönberger lobte die breite Themenwahl und das vielseitige Feld. Die Vortragenden hätten keinen sozialromantischen Blick auf die Phänomene gehabt und wichtiges research-up miteingebracht. Einhergehend wurden unter anderen die Forschungen zu Führungskräften in Transformationsprozessen von Michale Maile, zu arbeitsplatzsuchenden “Professionals” von Manfred Seifert und zu Mitarbeitenden in den Vereinten Nationen von Linda Mülli hervorgehoben. Eine historische Perspektive auf Arbeitskulturen sei in den Tagungsbeiträgen zu kurz gekommen. Schönberger betonte die Prekarität der Arbeit in Pflegeberufen. Carework habe keine angemessene Wertigkeit, weshalb Beiträge zum Thema wie der Vortrag von Katrin Petersen wichtig seien. Themen wie Robotisierung und die Ersetzung von menschlicher Arbeit durch Maschinen sei dagegen nicht ausreichend behandelt worden. Auch hob Schönberger den Einbezug von Darstellungen von Arbeit in Museen positiv hervor. Laut Schönberger muss unterschieden werden, welche Arbeiten nicht gesehen werden und welche nicht mehr gesehen werden. Gerade in Bezug auf die Vorträge von Simone Egger und Sabine Kritter sei der Bezug dieser Fragen wichtig gewesen. Das Studienprojekt zu Arbeitskultur in volkskundlichen Sammlungen nannte Schönberger ein besonderes Highlight der Tagung. Insgesamt bewertete Schönberger die Tagung als erfolgreich, produktiv und anregend. Das Organisationsteam regte zu weiterer Forschung und Vernetzung in der Kommission an.

Konferenzübersicht:

Bernhard Tschofen (Zürich): Begrüssung

Stefan Groth (Zürich) / Sarah May (Freiburg) / Johannes Müske (Zürich): Einleitung

Panel 1: Konzepte – Ideale und Modalitäten der Arbeit

Inga Wilke (Freiburg): Zum Verhältnis von Arbeit und Nicht-Arbeit in „Muße-Kursen“. Ethnografische Einblicke

Clément Barbier / Cécile Cuny (Paris): Wie Logistikarbeiter/innen Machtverhältnisse deuten. Ein deutsch-französischer Vergleich

Michael Maile (Tübingen): Change Manager. Wie Führungskräfte in Transformationsprozessen sich selbst und ihr Handeln deuten

Panel 2: Arbeit und Museum

Stefano Mengarelli und Andrea Keller (Museum Schaffen, Winterthur): Begrüßung

Simone Egger (Klagenfurt): Musealisierung von Arbeit. Alltags- und Industriegeschichte(n) erzählen

Franziska Dölling, Nathalie Feldmann, Ophelia Gartze, Katharina Löw, Alice Rasp, Catharina Rische, Tim Schaffarzcik, Polina Stohnushko, Karin Bürkert, Matthias Möller (Tübingen und Freiburg): Gesammelte Werke neu geordnet. Arbeitskultur in volkskundlichen Sammlungen revisited

Katrin Petersen (Dortmund): Gesund Arbeiten. Wie kann die Kulturanthropologie dazu beitragen, dass „Schwester Gabi“ mehr verdient und weniger raucht?

Sabine Kritter (Bochum): Als Arbeit noch Geschichte machte. Bilder der Arbeit in Stadt- und Regionalmuseen

Christian Ritter (Collegium Helveticum, Zürich): Begrüßung

Panel 3: Vernetzung, Entgrenzung und Prekarisierung von Arbeitsalltagen

Dorothee Hemme / Ann-Kathrin Blankenberg (Göttingen): Handwerkstolz.de. Ein Projekt inter- und transdisziplinärer Glücksforschung im Handwerk

Lina Franken (Hamburg): Abgesichert – dabei gleichzeitig immateriell und entgrenzt? Zur Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern im 21. Jahrhundert

Roman Tischberger (Augsburg): Computer sagt Nein. Fehlerkulturen in der Software-Arbeit

Judith Schmidt (Mainz): „Man erntet, aber man weiß noch nicht, was man dafür kriegt.“ Kalkulationen in einer Lebenswelt auf dem Feld

Linda Mülli (Basel): Flexibilisierungs-, Prekarisierungs- und Subjektivierungsmechanismen in den Vereinten Nationen

Panel 4: Orientierungen – Arbeitskontexte in Veränderung

Manfred Seifert (Marburg): „Also mir ist schon wichtig, dass mir die Arbeit ausreichend Flexibilität gewährt.“ Berufsfeldorientierte Erwartungen und Wünsche von arbeitsplatzsuchenden Professionals

Monika Litscher (Vaduz): „Zukunftsfähige Arbeitskulturen“

Anke Bahl (Bonn): Pädagogisierung des Ausbilders? Ethnografische Einblicke in Aushandlungsprozesse an der Schnittstelle von Bildung und Arbeit

Constanze Schmidt (Hamburg): I do. Wie Jugendliche durch künstlerisches Handeln die eigene Berufsorientierung zum Working Citizen gestalten

Klaus Schönberger (Klagenfurt): Kommentar & Tagungsresümee


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts