Verfassungskultur in der Weimarer Republik

Verfassungskultur in der Weimarer Republik

Organisatoren
Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg; Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages, Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.02.2019 - 13.02.2019
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Von
Tobias Weidner, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Das gegenwärtige Weimarer Gründungsjubliäum ist von einer auffälligen politischen Aufladung geprägt. Davon zeugte auch die Tagung der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte zur Weimarer Verfassungskultur. Sie fand in Räumen des Bundestages statt, war von Abendveranstaltungen im Sitzungssaal der SPD-Fraktion und in den Räumen der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft gerahmt. Ihren Auftakt fand sie in einer Matinee im Schloss Bellevue, die durch weite Teile des poltischen Parteienspektrums hochrangig besetzt war.

Im Zentrum der Matinee stand die 100 Jahre zurückliegende Wahl Friedrich Eberts zum Reichspräsidenten. Bundespräsident FRANK-WALTER STEINMEIER (Berlin) entwarf in seiner Rede1 für sein eigenes Amt eine dezidierte Traditionslinie von Ebert über Theodor Heuss. Die Verdienste des ersten Reichspräsidenten sehe man heute – bei allen Widersprüchen – deutlich klarer und differenzierter. Dass sich Steinmeier mit Ebert prominent eines Verteidigers der Demokratie „in schwierigsten Zeiten“ annahm, passt zu einer Tendenz, die sich für Steinmeiers Amtszeit immer deutlicher abzeichnet: Das „demokratische Mittun“ schält sich – wie auch der Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung Henning Scherf in seinem Grußwort konstatierte – als ein Leitthema heraus, in das sich das Ebert-Gedenken treffend fügt.

Auch andere politische Grußworte mit ähnlicher Stoßrichtung im Tagungsrahmen zeugten vom Interesse an Linien der Traditionsbildungen. So betrachtete Bundestagsvizepräsident THOMAS OPPERMANN (Berlin) Ebert und die Weimarer Reichsverfassung vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen für die Demokratie in innen- und außenpolitischer Hinsicht. Auch DIRK SCHUMANN (Göttingen), Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der veranstaltenden Stiftung, rekurrierte während der Tagung auf die Gegenwartsrelevanz: Es sei eine Gelegenheit, über Grundlagen der Demokratie nachzudenken, um Sensibilität für gegenwärtige Problemlagen zu schärfen, ohne sich der „Tagespolitik“ auszuliefern.

JÖRN LEONHARDs (Freiburg) Festvortrag zur „belagerte[n] Republik und [der] Würde der Demokratie“ bei der Matinee in Bellevue schlug eine Brücke zwischen politischem Gedenken und aktueller wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Er knüpfte an die von Steinmeier vorgegebene traditionsbildende Stoßrichtung an und ordnete im Zuge dessen Eberts Ringen um die politische Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg in die längeren Linien deutscher Demokratiegeschichte ein. Was er über Ebert zuspitzte, wies aber bereits über die Logik politischer Erinnerungsveranstaltungen hinaus und entsprach der differenzierten Abwägung der Potenziale und Probleme, die die Weimarer-Forschung inzwischen prägt.2 Insgesamt zeichnete er ein vielschichtiges Bild Eberts, das dessen kompromissorientiertes Agieren in doppelter Frontstellung gegen Angriffe von rechts und links zeigte, aber beispielsweise Eberts „blauäugige“ Kooperationen mit den Militärs nicht verdeckte.

Die Tagungsorganisatoren um Dirk Schumann betonten in ihrem Konzept auch für die Weimarer Verfassung eine ähnliche komplexe Mischung aus Chancen und Aporien. Schumann regte eingangs des ersten Panels an, die Verfassung nicht als „statisch“ zu betrachten, sondern „Text und Praxis“ im Dialog zu lesen. Wie stark die Verfassung letztlich von ihrer praktischen ‚Ausfüllung‘, unterschiedlichen Modi der Aneignung und nicht zuletzt ihrer symbolischen Repräsentation abhing, war der zentrale übergreifende Befund der diskussionsfreudigen Panels der drei Tagungstage.

Die Tagung setzte damit den geschichtswissenschaftlichen Trend fort, Kernelemente des Politischen kulturgeschichtlichen Neuinterpretationen zu unterziehen. Drei wiederkehrenden Stoßrichtungen, die unabhängig von der Chronologie zahlreiche Vorträge überwölbten, sollen im Folgenden betont werden.

Erstens wurde eine kompensatorische Geste gegenüber älteren Forschungstendenzen deutlich, die Republik vornehmlich von ihrem dramatischen Ende her zu interpretieren und im Zuge dessen die Defizite der Verfassung zu betonen. Demgegenüber prägte Tagungsmitorganisator CHRISTOPH GUSY (Bielefeld) zuletzt das Diktum von einer „gute[n] Verfassung in schlechter Zeit“.3 Plastisch wurden die Implikationen dieser Sichtweise in den rechtswissenschaftlichen und politikwissenschaftlichen Vorträgen der Tagung, die von stark gegenwartsbezogenem Interesse geprägt waren. KATHRIN GROH (München) lenkte in ihrer Verhältnisbestimmung von „‚parlamentarische[m]‘ und ‚unmittelbare[m]‘ Volkswille[n]“ in der Weimarer Parlamentarismusdiskussion den Fokus auf demokratische Staatsrechtslehrer sowie die Frage, wie aus deren Sicht politische Willensbildung beschaffen sein sollte, um als demokratisch gelten zu können. Ohne die strukturelle Defensive, in der die behandelten Akteure sich spätestens seit 1923/24 befanden und ihre unfruchtbare Verstrickung in Grundlagendebatten zu leugnen, kam sie zu dem Schluss, dass sich aus den „Fragmenten“ der Debatte durchaus Lösungen „herausschälen“ ließen, die heutigen Standards der Parlamentarismustheorie genügten.

Ebenfalls mit Gegenwartsbezug widmete sich ALMUT NEUMANN (Berlin) Diskussionen über die vor der Zwischenkriegszeit sehr umstrittene Vereinbarkeit von Föderalismus und Demokratie. Für die Weimarer Zeit konstatierte sie – trotz eines ausgeprägt „krisenhaften Diskurses“ der Staatsrechtler – ein relativ gutes Funktionieren der Verbindung und zeichnete damit ebenfalls ein „überwiegend positives Bild“ der Verfassungspraxis. Sie konstatierte ein Fortwirken des föderalistischen Mehrebenenmodells der Verfassung: Die Weimarer Verfassung und insbesondere Hugo Preuß hätten einschlägige Debatten auf bundesrepublikanischer und sogar europäischer Ebene in vielerlei Hinsicht vorweggenommen.

GERD BENDER (Frankfurt am Main) bezeichnete in seiner in Abwesenheit vorgelesenen Bestandsaufnahme das Arbeitsrecht in der Weimarer Verfassung sogar unumwunden als rechtsgeschichtliches „Prunkstück“. Er konstatierte zwar eine „Erosion“ sozialpartnerschaftlicher Ansätze seit 1923, lies die von Konsens und Kompromissbereitschaft geprägte Weimarer Frühphase aber insgesamt in positivem Licht erscheinen. Der Kompromiss und die damit verbundenen Ideale rückten insgesamt vielfach ins Zentrum der Tagung. Wiederum in normativer Perspektive behandelte der ideengeschichtlich arbeitende Politikwissenschaftler MARCUS LLANQUE (Augsburg) liberale Beiträge zu Weimarer Verfassungsdebatten, die um die Vereinbarkeit von Liberalismus und Demokratie kreisten. Er bezeichnete dabei die Reichsverfassung selbst als „Kompromiss im positiven Sinne“, belegte aber auch den großen Stellenwert wissenschaftlicher Annäherungen an Konzeptionen des „Kompromisses“ in den Weimarer Diskussionen.

Methodisch aus gänzlich anderer Richtung kommend, lief interessanterweise auch KIRSTEN HEINSOHNS (Hamburg) Vortrag zu den Verwerfungen zwischen „Verfassungsauftrag und politische[r] Kultur“ in den Weimarer Diskussionen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau auf eine positive Einordnung der Verfassung hinaus. Sie sei vor dem Hintergrund zeitgenössischer Maßstäbe auch in emanzipatorischer Hinsicht keineswegs eine „Fehlkonstruktion“ gewesen. Der durchaus enthaltene Auftrag, die Gleichberechtigung umzusetzen, habe aber nicht mit dem „kulturellen Verständnis der Aufgaben von Mann und Frau“ harmoniert. Dass sämtliche Weimarer „Kulturkämpfe“ letztlich von konservativer Seite gewonnen worden seien, sei weniger auf Verfassungsdefizite zurückzuführen; vielmehr seien die Potenziale „politisch und kulturell“ nicht genutzt worden.

Auch ANDREAS WIRSCHING (München) kam in seiner abendlichen Keynote im Sitzungsaal der SPD-Fraktion zu einer differenzierten, aber letztlich ähnlich positiven Wertung der parlamentarischen Verfassungsdebatten. In einer an Reinhart Kosellecks Theorie historischer Zeiten orientierten Perspektive widmete er sich den inhärenten temporalen Strukturen zentraler Diskussionsstränge. Er unterschied die spezifischen Spannungen von Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten in Aussagemustern verschiedener Abgeordnetengruppen. Besonders verglichen mit den Siegermächten des Ersten Weltkrieges fiel dabei eine Omnipräsenz von Ungeduld und großem Zeitdruck ins Auge. Im Gang durch unterschiedliche Phasen der Verfassungsdebatten interpretierte Wirsching konkurrierende Zeitdeutungen der Parteien und Flügel als entscheidende „trennende Erfahrung“ unterschiedlicher Abgeordnetengruppen. In Wirschings Deutung erschienen die an der „Verheißung“ (Weisbrod) von „Koalitionsmacht“ und Kompromiss orientierten Verfassungsdebatten aber dennoch als „von gegenseitigem Respekt“ getragen. Ähnlich wie die anderen bisher behandelten TagunsgbeiträgerInnen, schrieb Wirsching den Verfassungsdebatten selbst für das Scheitern der Republik eine relativ geringe Bedeutung zu. Viel stärker gewichtete er ein allgemeines „Vakuum der Zeitdeutungen“ in einer Gesellschaft der vor dem Hintergrund konkurrierender Zeitdeutungen eine gemeinsame „Fortschritts- oder Leidensgeschichte“ gefehlt habe.

Heinsohns und Wirschings Interpretationen zeigen in ihrer kulturgeschichtlichen Fundierung bereits einen zweiten Schwerpunkt an: Das im Titel der Tagung prominent gemachte Konzept der Verfassungskultur erwies sich als Chiffre für diese Stoßrichtung durchaus als tragend, wurde von den Teilnehmern aber auch immer wieder problematisiert. Ohne am Ende eine vollständige Definition zu bieten, befasste sich ANTHONY MCELLIGOTT (Limerick) am ausführlichsten mit dem Konzept Verfassungskultur selbst: Er betonte die „Wichtigkeit des Alltäglichen und Unscheinbaren“ der Verfassung und zeigte am Beispiel von Herbert Otto Rudolf von Bismarck (zwischen 1918 und 1931 Landrat im Pommerschen Kreis Regenwalde) ex negativo die Wichtigkeit einer affirmativen Verfassungspraxis in der „alltäglichen Kultur“ auf. Durch anfangs subtile, später immer deutlichere symbolische Verweigerungspraktiken – zum Beispiel der Verwendung kaiserlichen Briefpapiers aus „Sparsamkeit“ oder des „versehentlichen“ Verzichts, die Flagge der Republik zu hissen – zielte der Landrat auf eine systematische Schwächung der Staatsautorität durch „kleine, alltägliche Verweigerungen“.

ANDREAS BIEFANG (Berlin) befasste sich mit einer weiteren grundlegenden Dimension politischer Praxis: Dem Problem des Reichstages, sich symbolische Macht zu „erwirtschaften“. Ausgehend von der Beobachtung, dass der Weimarer Reichstag im Moment des „instrumentellen Machtgewinns“ die Zuschreibung von Macht abrupt einbüßte, kreiste der Vortrag um ein Ensemble von Faktoren, die diese Entwicklung beförderten. Neben dem Wandel der Wahlkultur durch die Einführung des Verhältniswahlrechts und der negativen Wahrnehmung von „Wahlschlachten“, die letztlich Stereotype der Republikgegner bedienten, betonte Biefang besonders Probleme „medialer und ästhetischer Muster“ in der Zwischenkriegszeit. Nicht zuletzt habe die „Krise des realistischen Portraits“ in der Avantgardekunst zu Repräsentationsproblemen geführt: Ein annähernd „repräsentationstauglicher Stil“ sei erst mit den Künstlern der „moderaten Moderne“ Mitte der 1920er-Jahre wieder in Sicht gewesen.

Während McElligott und Biefang also eher Defizite der symbolischen politischen Praxis herausarbeiteten, hinterfragte NADINE ROSSOL (Essex) die oft betonten „Repräsentationsdefizite und Symbolarmut“ der Verfassung beziehungsweise ihrer Unterstützer. Sie beleuchtete „Verfassungsfeiern als Teil der republikanischen Demokratiekultur“. Rossol wollte über ihre detailreichen lokalen Differenzierungen zwar keineswegs zu einer kompletten Revision der kritischen Sicht auf die Defizite der Weimarer Verfassungskultur kommen, konnte aber zeigen, wie stark die symbolische Praxis vor Ort von den Einstellungen lokaler Funktionsträger abhing. Naheliegender Weise räumte sie in ihren Analysen dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold viel Raum ein, dem es durchaus gelungen sei, einen „demokratischen Festzyklus“ zu etablieren, dessen Bedeutung nicht zuletzt in der schroffen Kritik der Republikgegner erkennbar wurde.

Anregende Symbiosen aus klassischen, an zentralen politischen Einzelakteuren orientierten und neuen kulturgeschichtlichen Zugriffen lieferten sowohl WALTER MÜHLHAUSEN (Darmstadt) als auch WOLFRAM PYTA (Stuttgart). Sie widmeten sich der Ausfüllung und Aneignung der Verfassung am Beispiel der beiden Reichspräsidenten Ebert und Hindenburg. Mühlhausen ging unter anderem dem „Rollenverständnis“ Eberts nach und rekonstruierte die Handlungsmöglichkeiten des Reichspräsidenten gegenüber der Verfassung. Ebert habe sich in seiner nüchternen Abgrenzung von Pomp, „Glanz und Gloria“ als Träger einer neutralen Gewalt und „Hüter der Verfassung“ geriert, seine Rolle aber zugleich als überaus machtvolle Instanz neben dem Parlament ausgefüllt. Die ihm verfassungsgemäß zugestandenen Rechte habe er besonders in außenpolitischer Hinsicht voll ausgenutzt.

Auch wenn es zunächst wenig überraschte, dass das von Pyta skizzierte Amtsverständnis Hindenburgs davon in entscheidender Hinsicht abwich, erwies sich die detaillierte Quellenauswertung in diesem Fall doch als besonders aufschlussreich: Pyta rekonstruierte Hindenburgs persönliche Lektüre der Verfassung an dessen handschriftlich annotierter Ausgabe. Der Referent zielte einerseits auf eine Rekonstruktion der „Lektüreerfahrung“ und andererseits auf die pragmatische Aneignung des Textes durch den Reichspräsidenten. Hindenburg habe die Verfassung intensiv durchgearbeitet und sie in überaus „robustem“ Umgang als eine Art „Steinbruch“ benutzt, um seine eigenen (in Tradition einer Manöverkritik stets blau unterstrichenen) Kompetenzen gegenüber denen von Regierung und Parlament (durchgängig rot unterstrichen) maximal auszuschöpfen. In seinem Selbstverständnis habe er sich insgesamt als Verkörperung des „Einheitswillens der Nation“ oberhalb der Verfassung angesiedelt und die äußersten – buchstäblich – „roten Linien“ der Verfassung lediglich aus pragmatischen Gründen akzeptiert.

Jenseits der kulturgeschichtlichen Lesart der Verfassungspraxis kristallisierte sich in den Beiträgen der Tagung eine dritte Gruppe von Leitfragen heraus, die auf eine Differenzierung beziehungsweise Schärfung der Befunde in räumlicher Hinsicht hinausliefen. In den oben skizzierten Beiträgen von Rossol und McElligott wurde in Ergänzung der forschungsstrategisch lange privilegierten Befunde zur Reichsebene bereits der Mehrwert lokaler Rekonstruktionen der Verfassungspraxis deutlich. Wie wichtig darüber hinaus bereits in einer engeren verfassungshistorischen Perspektive die regionale Differenzierung nach Ländern ist, zeigte der Vortrag von Christoph Gusy. Er rekonstruierte die Verfassungsgebung der Länder und konstatierte, dass zwar die „vereinheitlichende Wirkung der Revolutionen“ ähnliche „Aufgaben und Perspektiven“ für die Verfassungsdiskussionen nach sich gezogen hätte. Lokale Eigenlogiken und Traditionen hätten aber zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen geführt. Parlamentarismus- und parteiengeschichtlich, so Gusy, würden die Befunde zur Stabilität mancher Landtage und Kabinette „früheren Stereotypen“ der Forschung widersprechen. Daraus ergibt sich die spannende Anschlussfrage, warum Regierungsbildung und Parlamentarismus im Vergleich zu der Reichsebene mancherorts so viel besser funktionierten und welche Faktoren die Demokratie „attraktiv beziehungsweise unattraktiv“ gemacht hätten. Gusys Bilanz lief auf große Uneinheitlichkeiten in der „demokratischen Reife“ von Bürgern und Medien hinaus.

Richtete sich Gusys vergleichender Blick auf das Innere der Republik, lenkten HÉLÈNE MIARD-DELACROIX (Paris) und DIETMAR MÜLLER (Leipzig) in ihren Vorträgen den Blick auf weitere europäische Kontexte. Beide Vorträge zeigten, wie bereichernd die vergleichende Perspektive zur präziseren Einordnung der Weimarer Entwicklungen ist. Müllers ebenso dichter wie instruktiver Vortrag zur Spezifik der Verfassungsgebung und -kultur im östlichen Europa der Zwischenkriegszeit zeigte in der breit nachweisbaren Expansion von Sozialstaatlichkeit durchaus auch einen „gemeinsamen historischen Moment“ europäischer Verfassungsbewegungen nach dem Krieg auf. Deutlich wurden aber auch ausgeprägte Differenzen, die nicht zuletzt im großen Stellenwert von Agrarreform und Landwirtschaftspolitik im (post-)revolutionären Kontext der ländlich geprägten Regionen begründet lagen. Müller betonte im Zuge dessen besonders für Polen, Rumänien und Jugoslawien einen massiven Bruch mit dem „liberal-individualistischen Eigentumsbegriff“.

Miard Delacroix näherte sich der Frage nach der „Singularität Weimars“ über eine vergleichende Analyse der deutschen und französischen Wege aus dem Krieg. Den Einfluss der unterschiedlichen Kriegserfahrungen der Sieger- beziehungsweise der Verlierermacht des Weltkrieges sowie der sehr unterschiedlich ausgeprägten Verfassungs- und Demokratietraditionen stellte sie ins Zentrum der Analyse. In der „Verfassungspraxis“ beider, so ihre Bilanz, sei der Krieg als Thema permanent „abrufbar“ gewesen. Während im geschlagenen Deutschland allerdings Krisenerfahrung, „Dolchstoßlegende“ und „verdrängte Trauer“ (Krumeich) die Errungenschaften der Verfassung eher überdeckt hätten, sei es in Frankreich gelungen, den „Ruhm“ des gewonnenen Krieges in die Tradition einer demokratischen Verfassungskultur zu integrieren.

Die Zusammenschau der Beiträge bestätigt insgesamt den eingangs beschriebenen Differenzierungstrend der Weimarforschung. Empirisch besonders erhellende Befunde gingen von den Analysen lokaler und regionaler Praktiken sowie international vergleichenden Perspektiven aus. Konzeptionell wirkte der auf Hans Vorländer zurückgehende Begriff der Verfassungskultur erkennbar inspirierend. Als eine Art Leitmetapher signalisiert er besonders im rechtsgeschichtlichen Kontext eine wichtige Differenzierung. Als problematisch könnte sich aber die bereits angerissene Unschärfe der Grenzen des Konzepts erweisen. Viele TagungsteilnehmerInnen sprachen in ihren Vorträgen und Diskussionsbeiträgen häufiger (oft in Anschluss an Karl Rohe) von „Politischer Kultur“. Das scheint insofern folgerichtig, als in der Weimarer Republik politische Praktiken und Diskurse prinzipiell so stark vom neuen Verfassungsrahmen geprägt waren, dass sie kaum ohne expliziten oder zumindest impliziten Bezug denkbar sind. Gerade deshalb sind die differenzierenden Befunde der Tagung aber auch so wichtig.

Konferenzübersicht:

Dirk Schumann (Göttingen): Einführung

Panel 1: Entstehungsumstände der Weimarer Reichsverfassung

Hélène Miard-Delacroix (Paris): Der „Weg aus dem Krieg” und die Verfassung. Deutschland und Frankreich im Vergleich

Christoph Gusy (Bielefeld): Verfassungsgebung in Republik und Ländern - Ein Vergleich

Panel 2: Verfassungskultur

Anthony McElligott (Limerick): Die Weimarer Verfassung in passiver Stimme: Der Landrat Herbert von Bismarck

Abendvortrag:
Andreas Wirsching (München): Zeiterwartung und Verfassungsschöpfung

Panel 3: Staatliche Organe

Walter Mühlhausen (Darmstadt): Reichspräsident Ebert und die Verfassung

Wolfram Pyta (Stuttgart): Hindenburgs Verfassungsverständnis - Kulturwissenschaftliche und politikgeschichtliche Überlegungen zur Auflösung der Weimarer Republik

Panel 4: Symbole und symbolische Praktiken

Andreas Biefang (Berlin): Von der Schwierigkeit, ein „Volk“ zu repräsentieren. Zur symbolischen Macht des Weimarer Reichstags

Nadine Rossol (Essex): „Die Republik schwungvoll feiern...“: Verfassungstage als Teil einer republikanischen Demokratiekultur in der Weimarer Republik

Panel 5: Deutungen: Demokratisches Denken in der Weimarer Republik

Almut Neumann (Berlin): Demokratischer Föderalismus als Herausforderung und Chance der Weimarer Verfassung

Marcus Llanque (Augsburg): Die Verfassungsdebatte über die Vereinbarkeit von Liberalismus und Demokratie

Kathrin Groh (München): „Zur Problematik des Volkswillens“. Einige Aspekte der Parlamentarismusdiskussion in der Weimarer Republik

Panel 6: Handlungsfelder

Kirsten Heinsohn (Hamburg): Verfassungsauftrag und politische Kultur: Diskussionen und Initiativen zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern

Gerd Bender (Frankfurt am Main): Prunkstücke? Arbeitsrecht und Sozialpolitik

Panel 7: Inter/transnationale/r Kontext, Übertragungen, Parallelen

Dietmar Müller (Leipzig): Verfassungsgebung und Verfassungskultur im östlichen Europa der Zwischenkriegszeit

Abschlussdiskussion
Synthesen: Alexander Gallus (Chemnitz) / Anna-Bettina Kaiser (Berlin)

Walter Mühlhausen (Darmstadt): Schlusswort

Anmerkungen:
1 Die Rede ist einsehbar unter: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2019/02/190211-Matinee-Friedrich-Ebert.html (09.04.2019).
2 Siehe als kritischen Überblick: Franka Maubach, Weimar (nicht) vom Ende her denken. Ein skeptischer Vorausblick auf das Gründungsjubliäum 2019, in: APuZ 18-20 (2018), 4-9.
3 Gusy, Christoph, 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018.