Orte der Demokratie in Niedersachsen und Bremen (Teil 2)

Orte der Demokratie in Niedersachsen und Bremen (Teil 2)

Organisatoren
Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Hannover
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.10.2018 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Oliver Schael, Fritz-Erler-Forum Baden-Württemberg, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), Bonn

Als Reaktion auf die große Resonanz eines zuvor veröffentlichten Call for Papers und in direkter Fortsetzung ihrer Frühjahrssitzung1 befasste sich der Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen auch in seiner Herbstsitzung 2018 mit den „Orten der Demokratie in Niedersachsen und Bremen“.

EDEL SHERIDAN-QUANTZ (Hannover) ging in ihrem Eröffnungsvortrag auf den geplanten Lernort zur hannoverschen Stadtgesellschaft im Nationalsozialismus ein. Mit ihm erhalte die „Städtische Erinnerungskultur Hannover“ in der ehemaligen Volkshochschule am Theodor-Lessing-Platz einen zentralen Ort, an dem ihre bisherigen Aufgaben um die Komponente der demokratischen Bildung erweitert werde. Am neuen Lernort könnten sich Besucherinnen und Besucher nun die Auswirkungen der NS-Diktatur in der Stadtgesellschaft vor allem über einen biografischen Zugang erschließen: Das Spektrum des menschlichen Handelns und Verhaltens von Opfer-, Widerstands- und Tätergruppen sowie von Zuschauern und Mitläufern spiegele sich in Lebensgeschichten von Menschen, die in Hannover gelebt und gewirkt haben. Diese Lebensgeschichten werden wiederum stark verankert im städtischen Raum dargestellt, zum Beispiel über interaktive historische und aktuelle Stadtkarten. Für den Umgang der Erinnerungskultur mit „Orten der Demokratie“ in der Stadt böten sich gleichwohl verschiedene Zugänge an: Der städtebauliche Zugang beziehe sich auf Institutionen der Demokratie, wie etwa dem Neuen Rathaus, sowie auf öffentliche Räume. Ein Beispiel hierfür sei der Klagesmarkt, der im 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle als Versammlungsort der Arbeiterbewegung gespielt habe. Den biografischen Zugang erläuterte die Vortragende anhand des Werdegangs des HANOMAG-Arbeiters Karl Nasemann, dessen politische und demokratische Bildung als Jugendlicher im Kaiserreich und der Weimarer Republik mittels eines Stadtrundgangs in der hannoverschen Nordstadt gezeigt werden könne. Ein weiterer Aspekt des biografischen Zugangs spiegele sich in Straßennamen wider – so etwa in der Ehrung von Persönlichkeiten der Demokratiegeschichte oder auch im kritischen Umgang mit historischen Straßennamen aus dem Kaiserreich, der Kolonialzeit und der Diktatur. Der ereignisorientierte Zugang verknüpfe die lokale Ebene mit überregionalen Geschehnissen im städtischen Raum, wie etwa der Novemberrevolution von 1918. Diese verschiedenen Zugänge könnten sowohl linear (chronologisch) an einem Standort (beispielsweise durch Vorträge und Veranstaltungen) als auch räumlich in Form von thematischen Stadt(teil)führungen für die städtische Öffentlichkeit erfahrbar gemacht werden.

Anschließend befasste sich JANA STOKLASA (Hannover) mit der „Konsumgenossenschaft Hannover“ während des Nationalsozialismus. Als Quellen zu der kaum erforschten Geschichte der Organisation dienten ihr Rückerstattungsverfahren, welche die wiedergegründete Organisation nach dem Zweiten Weltkrieg führte. Bereits vor dem Einsatz von NS-Ortsbeauftragten im Jahr 1933 erfolgte eine Diffamierung der Konsumgenossenschaft Hannover als „unwirtschaftlich“, als die in Folge der Weltwirtschaftskrise massenhaft stattfindenden Abhebungen von Spargeldern geschürt wurden. Diese Propagandamaßnahmen mündeten 1932 in der Stilllegung der neu erbauten Lindener Fleischfabrik. Als 1935/36 die Zwangsliquidation der Organisation beschlossen wurde, habe diese Fleischfabrik als Versammlungsort für die aufgebrachten Mitglieder gedient, von denen manche zum Widerstand aufriefen. Bevor schließlich alle Konsumgenossenschaften 1941 an die Kriegswirtschaft angepasst wurden, gelang in Hannover jedoch die Gründung einer Auffanggesellschaft, der „Gesellschaft für Haushaltsbedarf“: Im Rahmen dieser Gründung und Widerstandstat, die paradoxerweise von dem NS-Beauftragten der hannoverschen Organisation entscheidend gefördert wurde, konnte ein Großteil der Konsumläden an ehemalige Angestellte der Organisation verkauft werden. In diesem Zusammenhang zeigte die Referentin auf, wie sich innerhalb des Organisationsmilieus eine „braune Grauzone“ entwickelt habe. Innerhalb dieser Zone verschwammen in einem stetigen Wandel Kategorien wie „Opfer“ und „Täter“ aufgrund der „Überlagerung des Organisationsnetzes durch den Kampf ums Überleben“. Der daraus in der Nachkriegszeit resultierende Identitätskonflikt sei zugunsten eines raschen materiellen Wiederaufbaus und der Anerkennung der Konsumgenossenschaften als politisch verfolgte Organisationen weitgehend ausgeklammert worden. So sei auch die Beteiligung der im Gemeinschaftswerk der Deutschen Arbeitsfront aufgegangenen Organisationen an Verbrechen wie der Zwangsarbeit verschwiegen worden. Abschließend reflektierte Stoklasa in Anlehnung an Pierre Nora, inwiefern in diesem Zusammenhang neben der Lindener Fleischfabrik auch das ehemalige Kaufhaus an der hannoverschen Marktkirche und die Betriebszentrale in Laatzen zu verschütteten Erinnerungsorten wurden. Des Weiteren lasse sich anhand der Konsumgenossenschaft Hannover zeigen, inwiefern sich die einseitige Auseinandersetzung mit dem schwierigen NS-Erbe im unerforschten und skandalösen Untergang der „co op AG“ manifestierte.

Nach der Mittagspause ging ANTJE BUCHHOLZ (Bremerhaven) auf das „Deutsche Auswandererhaus“ in Bremerhaven ein. Die Referentin betonte, dass die Stadt Bremerhaven selbst ein Erinnerungsort sei: Zwischen 1830 und 1974 sind über sieben Millionen Menschen aus ganz Europa von hier in die Neue Welt ausgewandert. Das Deutsche Auswandererhaus möchte als Migrationsmuseum dieser großen, historischen Wanderungsbewegung gedenken – und vor allem Parallelen ziehen zur gegenwärtigen Migration. Zudem will das Museum die Probleme aufzeigen, die durch Migration und Mobilität entstehen können. Seit 2012 zeige das Deutsche Auswandererhaus deshalb auch 300 Jahre Einwanderung nach und innerhalb Deutschlands. Außerdem wolle das Migrationsmuseum verdeutlichen, was passiert, wenn Neuankömmlinge auf die Mehrheitsgesellschaft träfen, da Migration die ganze Gesellschaft verändere. Sowohl im 19. und 20. Jahrhundert als auch im 21. Jahrhundert glichen sich die Problematiken. Durch tagesaktuelle Umfragen versuche das Haus, die Besucherinnen und Besucher in der Gegenwart abzuholen, um über Migration und Mobilität aufzuklären und Lösungsstrategien anzubieten. Hierfür hat das Deutsche Auswandererhaus seit 2017 einen eigenen Ausstellungsraum: das „Studio Migration“. Denn es gebe nur wenige Orte, an denen heute sachlich fundiert und – vor allem – in einem geschützten Rahmen diskutiert werden könne. Dieser Raum solle dazu beitragen, die vorhandenen Ängste abzubauen und die Meinungen der Besucherinnen und Besucher abzufragen. Dies geschehe etwa durch analoge und digitale Umfragen über Migration im Alltag. Außerdem könnten im Studio Migration Zeitzeugengespräche im museumseigenen Aufnahmestudio aufgenommen werden. Das Deutsche Auswandererhaus möchte als demokratischer Ort Migration als ein alltägliches Phänomen veranschaulichen. Die Besucherinnen und Besucher sollen zur Partizipation und zum Reflektieren angeregt werden, um Ängste vor Migration in Neugierde umzuwandeln.

JANNIK SACHWEH (Braunschweig) wandte sich in seinem Vortrag der Zwischenkriegszeit zu. Auch wenn viele der zwischen 1918 und 1933 verwendeten Schulbücher heute kaum noch in einer kollektiven Erinnerung verankert seien, seien sie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Gründung der Weimarer Republik doch explizit mit dem Anspruch geschrieben worden, zukünftigen Generationen ein festes Geschichtsbild zu vermitteln. Gerade Schulgeschichtsbücher sollten diejenigen Sichtweisen herausheben und möglichst erfolgreich an die Schülerinnen und Schüler vermitteln, die als wissenswert für ein Leben in der sich verändernden Gesellschaft galten. Anhand von in Braunschweig und Bremen erstellten und im Unterricht eingesetzten Geschichtsschulbüchern der 1920er-Jahre ging der Vortrag der Frage nach, inwiefern die Autorinnen und Autoren in ihren Werken Erinnerungsorte der Demokratie konstruierten. Dabei zeige sich in einer fokussierten Analyse, dass Geschichtsschulbücher der Weimarer Republik den politischen und gesellschaftlichen Weg von der Monarchie zur Demokratie und den Umbruch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nur teilweise als einen relevanten Erinnerungsort im zu vermittelnden Geschichtswissen darstellten. Es werde deutlich, dass sich in den unterschiedlichen Schulbuchinhalten zum Teil grundlegend konträre politische Positionen widerspiegelten.

Mit den Debatten über eine Reform der Schülermitverantwortung beschäftigte sich SANDRA FUNCK (Göttingen) in ihren Aufführungen. Im Zeitraum von 1967 bis 1969 mobilisierten sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur Studentinnen und Studenten, sondern zur sogenannten 68er-Bewegung fühlten sich ebenfalls Schülerinnen und Schüler zugehörig. Ihre Kritik richtete sich unter anderem gegen die Schülermitverantwortung (SMV), eine Institution für Schülerinnen und Schüler, die seit der Weimarer Republik existierte. Die strukturellen Voraussetzungen für die Mobilisierung bildeten die sich politisierenden Jugendkulturen der 1960er-Jahre, Liberalisierungsprozesse in den Schulkulturen sowie ein neues Verständnis von demokratischer Erziehung, das insbesondere auch jungen Menschen das Recht zusprach, Kritik zu formulieren und Konflikte durch Diskussionen zu lösen. Zeitgleich habe das niedersächsische Kultusministerium begonnen, im Dialog mit den Schulen, Interessensverbänden, Lehrern, aber auch Schülerinnen und Schülern, neue Richtlinien für die SMV zu erarbeiten. Die Schülerbewegung, so lautete die These des Vortrages, sorgte im Sinne einer sozialen Bewegung dafür, dass dem Thema mehr öffentliche Aufmerksamkeit zukam. Es sei den radikalen Strömungen der Bewegung jedoch nicht gelungen, ihre Forderungen durchzusetzen. Anhand der Reformierung der Schülermitverantwortung werde jedoch deutlich, dass die Schule in den 1960er-Jahren ein Ort der Demokratie gewesen sei: Einerseits betonten die neuen Richtlinien für die SMV die Bedeutung der Schule als Ort der politischen und auch demokratischen Erziehung, andererseits nahmen Schülerinnen und Schüler im Sinne demokratischen Handelns interessiert und aktiv an den Debatten teil und gestalteten diese mit.

Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von MICHAEL SIEMS (Wolfsburg) über Zeitzeugenvorträge an der Volkshochschule Wolfsburg in den Jahren 1966/67. In Wolfsburg sei in den 1950er-Jahren ein Geschichtsbild etabliert worden, das die Bedürfnisse der Bevölkerung nach Identifikation und Repräsentation bedient habe. Darin sei der spezifisch nationalsozialistische Gründungszusammenhang der Stadt entpolitisiert und der Fokus auf tatsächliche oder vermeintliche technische Leistungen gelegt worden. Stellvertretend für diese Deutung der Stadtgeschichte stehe die Biografie Ferdinand Porsches, dessen Arbeit als eng mit dem NS-Regime verbundenen Unternehmensführer weitgehend ausgeblendet und auf ihren ingenieurwissenschaftlichen Anteil reduziert worden sei. Das Geschichtsbild repräsentierte darüber hinaus die zahlreichen nach 1945 als sogenannte Vertriebene in die Stadt gekommenen Personen und akzentuierte deren Verlusterfahrungen. Das Leid, dass die zwischen 1941 und 1945 in der Stadt lebenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter erfahren hatten, sei dagegen im etablierten Geschichtsbild weitgehend ausgeblendet worden: Sie traten erst dort in Erscheinung, wo man sie im Zuge ihrer Befreiung als Gefahr für die ortsansässigen Deutschen betrachtet habe. Dieses Geschichtsbild sei von einem Kreis privilegierter, fast ausschließlich deutscher, männlicher Zeitzeugen bereits in den späten 1940er-Jahren etabliert worden. Zu seiner Kodifizierung und Verbreitung habe der historiografische Roman „Die Autostadt“ (Horst Mönnich, 1951) dann entscheidend beigetragen. Seit Mitte der 1960er-Jahre sei dieses Bild allerdings vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Stimmungswandels und des beginnenden Generationswechsels unter Druck geraten: In kirchlichen und gewerkschaftlichen Kreisen sowie in linksradikalen Jugendgruppen entwickelten sich neue Narrative, in denen zur Zwangsarbeit verpflichtete Menschen wahrgenommen und Überlebende auch als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aufgesucht wurden. Damit habe sich eine Demokratisierung des Geschichtsbildes insofern ergeben, als öffentlich und offen über Geschichte verhandelt und gestritten wurde. Die Wolfsburg-Reihe der Volkshochschule im Winter 1966/67 könne dabei als ein Element konservativer Geschichtspolitik verstanden werden, indem hier den etablierten Zeitzeugen eine Gelegenheit eröffnet wurde, ihre Geschichten erneut vor einem durchaus großen Publikum zu präsentieren. Viele Redebeiträge zeigten eine klar defensive Grundhaltung, beschworen eine Wagenburgmentalität und wiesen wahrgenommene Vorwürfe gegenüber Wolfsburg energisch zurück. Die Vorträge hätten trotz großer Resonanz letztlich keine langfristige Stabilisierung des etablierten Geschichtsbildes erreichen können, da die Zuhörerinnen und Zuhörer vorrangig der älteren Generation angehörten. Die Jüngeren hätten zu diesem Zeitpunkt bereits eigene Kommunikationsräume geschaffen, von denen neue Einflüsse auf das städtische Geschichtsbild ausgingen.

Die beiden Arbeitskreis-Tagungen des Jahres 2018 bestätigen das in den letzten Jahren verstärkt auftretende Interesse am Thema „Demokratiegeschichte“ – nicht nur in der Geschichtswissenschaft. Parallel zum weltweiten Erstarken rechter und rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen sind die Bemühungen unverkennbar, „positive“ Beispiele und Identifikationsangebote aus der Geschichte der Demokratie im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Die ex-negativo-Begründung dieser Regierungs- und Gesellschaftsform als Gegenbild zu den Diktaturen des 20. Jahrhunderts wird offenbar als nicht mehr ausreichend empfunden. Gleichwohl ist auffällig, dass sich nicht wenige Beiträge der beiden Tagungen mit gescheiterten beziehungsweise „verschütteten“ Erinnerungsorten der Demokratiegeschichte befassten. Inwieweit diese Orte tatsächlich noch „ausgegraben“ werden und in das öffentliche Bewusstsein treten, wird nicht nur – auch dies machte die Tagung deutlich – das Resultat der wissenschaftlichen Arbeit von Historikerinnen und Historiker sein können. Das enge Zusammenspiel etwa mit der Politik, den Museen und den Trägern der politischen Bildungsarbeit wird dabei unabdingbar sein.

Konferenzübersicht:

Edel Sheridan-Quantz (Hannover): Überlegungen zu „Orten der Demokratie“ am Beispiel der Stadt Hannover

Jana Stoklasa (Hannover): Konsumgenossenschaft Hannover in der NS-Zeit: Umkämpfter Ort der Demokratie?

Antje Buchholz (Bremerhaven): Das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven: Angst in Neugierde verwandeln

Jannik Sachweh (Braunschweig): „Der größere Teil der Deutschen verlangte einen demokratischen Staat“. Erinnerungsorte in Schulbüchern der Weimarer Republik?

Sandra Funck (Göttingen): Demokratisierung der Schule? Debatten über die Reformierung der Schülermitverantwortung in Niedersachsen und die Rolle der Schülerbewegung, 1966-1970

Michael Siems (Wolfsburg): Wo die Stadtgeschichte mit der Demokratie versöhnt wurde. Zeitzeugenvorträge im Rahmen der Wolfsburg-Reihe der Volkshochschule Wolfsburg, 1966/67

Anmerkung:
1 Vgl. Oliver Schael, Tagungsbericht zu: Orte der Demokratie in Niedersachsen und Bremen, 14.04.2018 Hannover, in: H-Soz-Kult, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7893 (11.04.2019).