Gewaltgedächtnisse. Analysen zur Präsenz vergangener Gewalt sowie zur Gewaltsamkeit gesellschaftlicher Vergangenheitsbezüge

Gewaltgedächtnisse. Analysen zur Präsenz vergangener Gewalt sowie zur Gewaltsamkeit gesellschaftlicher Vergangenheitsbezüge

Organisatoren
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), Potsdam; Arbeitskreis „Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen“, Sektion Wissenssoziologie, Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS), Essen
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.03.2019 - 15.03.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Annika Göhler, Militärsoziologie, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam

Ziel der Tagung war es, das Verhältnis von Gedächtnis und Gewalt und damit insbesondere die Gewalthandeln eingeschriebenen Selektivitäten und Temporalitäten zu untersuchen, um so die „Gedächtnishaftigkeit“ von Gewalt ebenso wie die „Gewalttätigkeit“ sozialer Gedächtnisse theoretisch wie empirisch näher zu bestimmen. Neben den gedächtniskonstituierenden oder -modifizierenden Folgen gewaltsamer Phänomene sollten auch konkrete Aktionsformen in den Blick genommen werden, die auf eine gewaltsame Beeinflussung des Erinnerns und seinen sachlichen, sozialen und zeitlichen Bedingungen abheben, um so „neue“ oder „andere“ Gedächtnisformen hervorzubringen.

Nach der offiziellen Begrüßung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung durch Jörg Hillmann (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), Potsdam) sowie einer kurzen inhaltlichen Einführung durch Nina Leonhard (ZMSBw, Potsdam/Arbeitskreis „Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen“, Deutsche Gesellschaft für Soziologie, Essen) wurde das Verhältnis von Gewalt und Gedächtnis im Rahmen von 12 Vorträgen aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert.

JAN WEYAND (Erlangen) eröffnete mit seinem Vortrag das erste Panel. Ausgehend von der These, dass sich soziale Ordnung und Gewalt nicht ausschließen, sondern wechselseitig bedingen würden, richtete er den Blick auf politische Gewalt, die auf die Stabilisierung oder Destabilisierung von Ordnung abziele und stets im Namen einer Gemeinschaft ausgeführt werde. Vor diesem Hintergrund hob er vor allem die Relevanz gemeinschaftsstiftender Erzählungen über die eigene Vergangenheit für die Konstitution einer Gruppe und der damit verbundenen Ordnung heraus, die jeweils eine Unterscheidung zwischen den „Zonen der Gewalt“ (Reemtsma) und damit eine Bestimmung über legitime (sowie illegitime) Gewalt impliziere.

Anschließend präsentierte ANJA KINZLER (München) anhand von „Narben“, „Gespenstern“ und „Detektiven“ eine „gedächtnissoziologische Spurensuche zur Präsenz vergangener Gewalt“, hier verstanden als sichtbare und unsichtbare (soziale) Wunden: Die Narbe als verheilte Wunde repräsentiere eine Spur, die eine vergangene Verletzung der Haut und damit den individuellen Körper in die Gegenwart hole. Gespenster als unheimliche Manifestationen vergangenen und ungesühnten Unrechts stünden für eine nur vordergründig vergessene Verletzung der sozialen Ordnung, während sich Detektive damit beschäftigten, vergangene „Verbrechen“, also Schädigungen und Verletzungen anderer, aufzudecken. Entgegen einer sonst häufig vorherrschenden Fokussierung körperlicher Gewalt stellte Kinzler die Folgen von Gewalt im Sinne einer bewussten Verletzung von Körper oder Seele ins Zentrum und schloss hierbei symbolische Gewalt explizit ein, da deren Folgen nicht grundsätzlich von angedrohter oder konkret ausgeführter Gewalt zu unterscheiden seien.

Um physische Gewalt, beziehungsweise konkreter: um Gewalttaten mit Todesfolge, ging es dagegen im dritten und letzten Vortrag des erstens Panels. JULIUS HEß (Potsdam) präsentierte die Ergebnisse einer quantitativen Untersuchung von Mordraten weltweit im Verlauf der letzten zweihundert Jahre. Unter Verweis auf die von ihm ausgewerteten Datensätze machte er geltend, dass die Häufigkeit von tödlicher Gewalt mit der Zeit insgesamt kontinuierlich abnehme, für den Zeitraum von drei bis vier Generationen allerdings weitgehend konstant bleibe. Für die Periode seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs konstatierte er eine hohe Stabilität der Gewaltraten, woraus zu folgern sei, dass die vergangene Gewalt die wichtigste Determinante aktueller Gewalt darstelle, auch wenn historische Umbrüche wie etwa ein Weltkrieg diese Kontinuität unterbrechen könnten.

Das zweite Panel war den „Formen der Aufarbeitung gewaltsamer Vergangenheit“ gewidmet und bestand aufgrund von Absenzen nur aus dem Vortrag von HENNING DE VRIES (Bielefeld). Dieser ging der Frage nach, wie „Gerechtigkeit“ durch Strafgerichtsbarkeit sowie Wahrheitskommissionen institutionalisiert werden könne und dies angesichts der Herausforderung, sowohl eine Trennung zwischen der gewaltsamen Vergangenheit und der Gegenwart herbeizuführen als auch den Übergang vom früheren in den jetzigen Zustand zu organisieren. Hierfür entwickelte er im Rückgriff auf die Theorie sozialer Systeme ein Modell der Konfliktbewältigung, das auf einer Institutionalisierung generalisierter Erinnerungsschemata beruht.

Das dritte Panel, das vergangenheitsbezogenen Diskursen über Gewalt gewidmet war, wurde mit dem Vortrag von MATTHIAS JUNG (Frankfurt am Main) eingeleitet. Gegenstand der Ausführungen waren die gegensätzlichen Narrative über das Neolithikum und die Bronzezeit und die damit verbundenen unterschiedlichen Bewertungen von Gewalt: Während das Neolithikum als stabil und friedlich gelte und mit Vorstellungen von Gleichgewicht, Homogenität und Zyklizität in Verbindung gebracht werde, werde die Bronzezeit als weitaus gewaltsamer beschrieben. Dies zeige sich auch in der widersprüchlichen Interpretation archäologischer Funde: Überreste aus der Bronzezeit würden als Waffen, ähnliche Überreste aus dem Neolithikum dagegen als Werkzeug gedeutet, was den hohen Konstruktivitätsgrad derartiger Diskurse einschließlich ihres starken Gegenwartsbezugs verdeutliche.

In seinem Beitrag hob TIM NIEGUTH (Kanada) zunächst auf die Fragilität der nationalen kanadischen Identität ab, die sowohl durch die Siedlungsgeschichte der sogenannten first nations und der beiden Gründernationen Frankreich und Großbritannien als auch durch ethnische Vielfalt („Multikulturalismus“) und parteipolitische Differenzen gekennzeichnet sei. Vor diesem Hintergrund habe sich seit den späten 1980er-Jahren eine Politik der Entschuldigung entwickelt. Nieguth arbeitete anhand einer Auswertung von Leser(innen)kommentaren typische Argumentationsmuster in Bezug auf diese staatliche Entschuldigungspolitik und des damit öffentlich benannten und anerkannten Unrechts heraus.

Im dritten und letzten Beitrag dieses Panels beschäftigte sich FELIX DENSCHLAG (Hamburg) mit der Konzeption des Holocausts als „Trauma“ der Deutschen im Werk von Aleida Assmann. Er wies sowohl auf sachlich-materielle wie werkimmanente Widersprüche hin und zeigte, dass und warum der Begriff des Traumas zunehmend an Substanz verliere, wenn er gleichermaßen auf Täter wie Opfer angewendet wird.

Der zweite Tag der Tagung wurde mit einem vierten Panel zu „Gewalterfahrungen im Familiengedächtnis“ eingeleitet. Als erstes ging hier GERD SEBALD (Erlangen) den „Wege[n] der familiären Tradierung von Gewalt(erfahrungen)“ nach. Anhand von drei Fallbeispielen aus einer qualitativen Interviewstudie mit Familienangehörigen wurden divergierende individuelle wie familiale Umgangsstrategien mit den Gewalterfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg aufgezeigt, die neben einer körperlichen und einer reflexiven Dimension auch interaktionelle wie transsituative Element umfassen.

Im Anschluss daran analysierte ANNA RANSIEK (Berlin) die Auseinandersetzung schwarzer Deutscher mit der NS-Vergangenheit ihrer Großeltern und arbeitete zentrale „Leerstellen“ des Erinnerns heraus, die sich sowohl aus der rassistischen Verfolgung schwarzer Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus als auch aus Erfahrungen von (beziehungsweise mit) Rassismus nach dem Zweiten Weltkrieg ergeben. Durch zwei Beispiele verdeutlichte sie das Nachwirken der Rassenideologie und präzisierte so ein Verständnis von psychischer Gewalt, das auf das Ausgesetzsein gegenüber gewaltvollen Überzeugungen abhebt.

Das fünfte und letzte Panel der Tagung, das Gewaltgedächtnissen im militärischen Kontext gewidmet war, wurde von MARTIN ELBE (Potsdam) eröffnet. In seinem Vortrag behandelte er den Zusammenhang von Organisationskultur, Gewaltkultur und Gewaltwissen. Ausgehend von einem Verständnis von militärischer Gewalt als Potenzial, das nicht notwendig zur alltäglichen Normalität gehört, aber dennoch die Organisationskultur durchdringe, arbeitete er anhand von Ausbildungsunterlagen der Bundeswehr Beispiele für die Konfrontation mit und die Vermittlung von Gewalt als Teil militärischer Sozialisation heraus; deren legitimes Auftreten sei begrenzt, könne aber über Formen von Devianz bis hin zu illegitimen Aktionen (Verbrechen) reichen.

Im zweiten Vortrag dieses Panels ging GERHARD KÜMMEL (Potsdam) auf Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerns an sexualisierte Gewalt im Kontext militärischer Gewalt ein. Am Beispiel der sogenannten ethnischen Säuberungen im Bosnien-Krieg zeigte er die unterschiedlichen Funktionen sexueller Gewalt auf: als „Belohnung“ für einen Sieg, als Mittel der „Organisationshygiene“, als militärische Strategie oder gar als Kriegswaffe. Kümmel hob insbesondere die symbolische Bedeutung sexueller Gewalt gegen Frauen hervor, die auf die Demütigung und Erniedrigung der Männer des militärischen Gegners abzielt(e). Eine versöhnende Form von Erinnerung sei unter diesen Umständen kaum zu erreichen.

Die Tagung endete mit dem Abschlussvortrag von OLIVER DIMBATH (Koblenz), in dem dieser ausgehend von einer kurzen Bilanz der Vorträge einen Systematisierungsvorschlag unterbreitete, wie das soziologische Konzept des Gedächtnisses mit Erfahrungen und Erzählungen von sowie über Gewalt in Verbindung gebracht werden könne.

Konferenzübersicht:

Panel I: Zur Gegenwart vergangener Gewalt: Theoretische und empirische Ansätze

Jan Weyand (Erlangen): Zur Wechselbeziehung von kollektiver Erinnerung und politischer Gewalt

Anja Kinzler (München): Narben – Gespenster – Detektive. Eine gedächtnissoziologische Spurensuche zur Präsenz vergangener Gewalt

Julius Heß (Potsdam): Phantomschmerz. Eine quantitative Analyse vergangener Gewalt in der Gegenwart

Panel II: Formen der Aufarbeitung gewaltsamer Vergangenheit

Henning de Vries (Bielefeld): Strafgerichtsbarkeit versus Wahrheitskommissionen: Die Bedeutung persönlicher Verantwortlichkeit in der Aufarbeitung gewaltsamer Ereignisse

Panel III: Gewalt im Diskurs über Vergangenheit

Matthias Jung (Frankfurt am Main): Morphologie und Funktion von Gewaltnarrativen in der Prähistorischen Archäologie

Tim Nieguth (Sudbury, Kanada): „Architects of Our Destruction“: Gewaltnarrative und Widerstand gegen staatliche Entschuldigungen in Kanada

Felix Denschlag (Hamburg): Trauma Holocaust

Panel IV: Gewalterfahrungen im Familiengedächtnis

Gerd Sebald (Erlangen): Wege der familialen Tradierung von Gewalt(-erfahrungen)

Anna Ransiek (Berlin): Leerstellen des Erinnerns. Auseinandersetzung schwarzer Deutscher mit der NS-Vergangenheit der Großeltern

Panel V: Militärische Gewaltgedächtnisse

Martin Elbe (Potsdam): Gewaltpotenziale verstehen – Militärische Sozialisation als Weitergabe organisational memorierter Gewaltkultur

Gerhard Kümmel (Potsdam): Individuum versus Gesellschaft – Das Erinnern von sexualisierter Gewalt im Kontext militärischer Gewalt

Gewalt und Gedächtnis – Bilanz und Abschlussdiskussion

Oliver Dimbath (Koblenz): Elemente einer Theorie sozialer Gewaltgedächtnisse