Unabhängige Justiz? Traditionen deutscher und europäischer Justizverwaltung

Unabhängige Justiz? Traditionen deutscher und europäischer Justizverwaltung

Organisatoren
Forum Justizgeschichte e.V., Münster
Ort
Fehrbellin
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.06.2018 - 24.06.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Constantin Breß / Katharina Seefried / Hannes Wolff, Universität Passau Email:

Eine weithin unbekannte, oder jedenfalls nicht entsprechend ihrer Tragweite rezipierte Tatsache ist, dass die Judikative in Deutschland nicht die ihr zugeschriebene und vom Grundgesetz unter anderem in Artikel 97 Absatz 1 vorgesehene Unabhängigkeit besitzt. Die 20. Jahrestagung des Forum Justizgeschichte e.V. beschäftigte sich mit diesem Thema. Anders als in den meisten anderen europäischen Ländern, in denen die Justiz ihr eigenes Verwaltungssystem hat, verteilen in Deutschland zwar die selbst gewählten Gerichtspräsidien im Rahmen der Geschäftsverteilung die Aufgaben. Allerdings liegen die Haushalts- und Personalkompetenz bei den jeweiligen Justizministerien; davon ausgenommen sind nur die Verfassungsgerichte. Bei der Staatsanwaltschaft besteht sogar eine direkte Weisungsbefugnis des Ministeriums und damit zugleich ein direkter Einfluss der Exekutive auf die Judikative.

Die Tagung hat die historischen Grundlagen für diese heutige Verwaltungsstruktur aufgeklärt und einen Vergleich mit der Situation in anderen europäischen Ländern und deren Veränderungen und Entwicklungen im Laufe des 20. Jahrhunderts angestellt. Die Referenten und Tagungsteilnehmer beschäftigten sich mit den Fragen, welchen Einfluss das aktuelle Verwaltungssystem auf die richterliche Unabhängigkeit habe, ob eine Veränderung in Deutschland sinnvoll sei und welche Schritte an welcher Stelle unternommen werden müssten, um eine Selbstverwaltung der Justiz und echte richterliche Unabhängigkeit zu erreichen.

INGO MÜLLER (Berlin) begann die Tagung mit einem Überblick über die historische Entwicklung bis zum Beginn der Weimarer Republik. Aus historischer Sicht war die Justiz stets von einem Abhängigkeitsverhältnis zum Staat beziehungsweise zum König geprägt. Kritik daran wurde schon während des Hambacher Festes 1832 geäußert. Normen, die diese Unabhängigkeit sicherstellen konnten, wurden später in der Paulskirchenverfassung von 1848 festgehalten. Auch das Gerichtsverfassungsgesetz von 1879, dessen Artikel 1 bis heute unverändert fortbesteht, garantierte – scheinbar – eine Unabhängigkeit der Justiz. Tatsächlich habe es aber eine Reihe von Mechanismen gegeben, um ein „Zuviel“ an Unabhängigkeit zu verhindern. So rekrutierte man hohe Justizbeamte eher aus der Staatsanwaltschaft, die die Obrigkeitshörigkeit im hierarchisch geprägten System aus ihrer bisherigen Dienstzeit derart verinnerlich hatten, dass davon ausgegangen werden konnte, dass sie auch weiterhin kontrollierbar und berechenbar blieben. Auch die lange und teure Ausbildung (20 Jahre, unbezahlt) zur Zeit des Kaiserreichs führte dazu, dass eher Personen aus „etablierten“, konservativen Familien in den Justizdienst eintraten. Mit Beginn der Weimarer Republik wurde der Dienst in der höheren Justiz auch für Frauen geöffnet. Gegen diese Entwicklung regte sich aber, aus wenig konstruktiven Gründen, erheblicher Widerstand in der männlichen Richterschaft. Spätestens mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wurde sie dann vollständig rückgängig gemacht.

Diese Einordnung setze HANS-ERNST BÖTTCHER (Lübeck) fort, mit einem genaueren Blick auf die Entwicklungen während des Nationalsozialismus und deren bis heute andauernden Auswirkungen. Die in der Gerichtsverfassungsverordnung (GVVO) von 1935 – erlassen auf Grundlage des Ermächtigungsgesetztes – gelegten Grundlagen wirkten insofern bis heute fort, als dass sie von den Akteuren der Justiz verinnerlicht sind und nicht mehr in Frage gestellt werden. Dazu gehören auch die limitierten Mitbestimmungsrechte der Justiz bei sie betreffenden Themen, zum Beispiel hinsichtlich der Disziplinargerichtsbarkeit. Diese Zustände könnten nur dadurch behoben werden, dass zum einen seitens der Politik Reformen angestoßen würden, zum anderen aber auch die Einstellung der Richterschaft selbst zu diesen Themen sich änderte.

MAREIKE JESCHKE (Frankfurt am Main) führte in die Debatte ein. Die Unabhängigkeit der deutschen Justiz ist grundsätzlich in Artikel 97 I des Grundgesetzes garantiert. Ob diese auch tatsächlich bestehe, werde deshalb oft nicht in Frage gestellt. Eine rechtsvergleichende Untersuchung ergab, dass echte und vollständige justizielle Autonomie in keinem der untersuchten Staaten existiere. Vor allem das Verständnis von „justizieller Autonomie“ sei sehr verschieden. Durchweg positiv aufgefasst werde die Partizipation der Parlamente bei der Ernennung der Richter, die den Einfluss der Exekutive senke und zu einer eigenständigeren und unabhängigeren Selbstwahrnehmung der Justiz führe. Bestehende Unabhängigkeit in der Personalplanung werde weitreichend durch eine Abhängigkeit beziehungsweise Verortung der Budgetplanung bei den Ministerien konterkariert. Es dränge sich deshalb die Schlussfolgerung auf, dass strukturelle Unabhängigkeit am besten dann erreicht werden könne, wenn die exekutiven Einflüsse so weit wie möglich reduziert werden. Elemente direkter Einflussnahme der Justiz auf sie betreffende Fragen hätten dabei einen direkten Einfluss auf ihr Selbstverständnis und ihre Motivation, die ihrerseits wieder ein Faktor in der Erreichung richterlicher Unabhängigkeit seien. Diese dürfte sich noch am ehesten in überschaubar großen Selbstverwaltungskörpern erreichen lassen, zum Beispiel an einzelnen Gerichten.

FILIPE MARQUEZ (Lissabon) wies – neben einer Einführung in die Geschichte der justiziellen Unabhängigkeit in Europa – am Beispiel Portugals, vor allem darauf hin, dass eine bloße Existenz formal-autonomer Justizstruktur nicht genüge, um die richterliche Unabhängigkeit zu gewährleisten. Vielmehr seien auch die Motivation und das Selbstverständnis der einzelnen Richter erforderlich, also der Wille zur Unabhängigkeit.

DRAGANA BOLJEVIC (Belgrad) bestätigte diesen Eindruck. Nach einem Überblick über die Situation in Serbien und einer Schilderung der Vorgänge zwischen 2009 und 2012, bei der ein großer Teil der Richterschaft aus dem Dienst entfernt wurde, wies sie darauf hin, dass der Kampf für die Unabhängigkeit der Justiz ein andauernder sei. Damit dies nicht auch in einem anderen Land passiere, sei dauernde Wachsamkeit geboten. Richterliche Berufsorganisationen seien dabei ein wichtiges Organ, um den Interessen der Richter Gehör zu verschaffen. Echte richterliche Unabhängigkeit könne aber nie durch bloße strukturelle Unabhängigkeit oder bloße Unabhängigkeit eines jeden einzelnen Richters erreicht werden, sondern immer nur durch ein Zusammenspiel beider.

Dies zeigt sich auch am Beispiel der Justizreformen in Polen, die von WOLFGANG HOWALD (Dresden) dargestellt wurden. Seit dem Wahlsieg der PIS im Jahr 2015 wurden in Polen umfassende Reformen des Verfassungstribunals, des Landesgerichtsbarkeitsrates und des Obersten Gerichts durchgeführt. Dabei wurden Richter des Verfassungstribunals durch parteinahe Richter ersetzt. Die Urteile des Verfassungstribunals, das die Reformen sämtlich für verfassungswidrig erklärte, wurden vom Präsidenten nicht veröffentlicht. Howald wies darauf hin, dass auch in einem Land, das eine Tradition der Unabhängigkeit von Justiz und Staat eigentlich schon seit der Verfassung von 1791 pflegte, Reformen möglich sind, die die Unabhängigkeit der Justiz bedenklich einschränken können.

„Wer das Vergangene nicht kennt, rennt wie ein Blinder den Ereignissen der Zukunft entgegen“ war eine prägnante Aussage UWE BOYSENs (Bremen) in seinem Impulsvortrag zur Veränderung der Justiz seit den 1960er-Jahren, in dem er gemeinsam mit KONSTANZE PLETT (Bremen) die historisch-soziologische Perspektive fokussierte. Sie sprachen über die einphasige Juristenausbildung und über Diversität und Frauen in der Justiz: 1966 betrug der Anteil der Jurastudentinnen 12%, der Anteil der Richterinnen 5%. Die Quoten hätten sich deutlich gebessert, doch Stimmen, wie die des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Braunschweig Rudolf Wassermann warnten davor, Frauen nur aufgrund ihrer besseren Noten ins Richteramt zu berufen. 2012 habe der Deutsche Richterbund NRW davor gewarnt, dass die Justiz „zu weiblich“ werde. An verschiedenen Universitäten wurde in den 1960er-Jahren mit einer einphasigen Juristenausbildung experimentiert. Diese bestand aus einer Kombination von Studium, Referendariat und sozialwissenschaftlicher Arbeit. Doch noch vor der geplanten Evaluation wurde das Experiment durch die Regierung Kohl abgebrochen – nachdem seitens der Behörden Bedenken geäußert wurden, dass auf diesem Wege derart kritische Juristen ausgebildet werden, die für den Staatsdienst nicht mehr zu gebrauchen seien.

Aus einer rechtsanwaltlichen Perspektive schilderte RUPERT VON PLOTTNITZ (Frankfurt am Main) seine Beobachtung, dass sinnvolle Ansätze, zum Beispiel im Strafrecht, wieder zurückgedrängt worden seien. Die auch unter jungen Juristen verbreitete befürwortende Haltung gegenüber harten Strafen finde er bedenklich und erschreckend, er fühle sich an die 1950er-Jahre erinnert.

SABINE STACHWITZ (Berlin) und VOLKMAR SCHÖNEBURG (Potsdam) berichteten aus einer ministeriellen Reformperspektive über ihren Versuch, die Richtergesetze in Brandenburg und Berlin zu verändern. Kern des Vorhabens sei eine Weiterentwicklung zu mehr Selbstverwaltung gewesen, der Wegfall von Regelbeurteilungen, eine Berichterstattung im Rahmen der Richterwahlausschüsse, mehr Transparenz bei der Besetzung von Planstellen und eine Einschränkung der Möglichkeit zur Versetzung. Sie beklagten die Unkenntnis vieler Politiker über die justizielle Unabhängigkeit und das fehlende Gehör für die Haushaltsdebatte in der Justiz.

Zum aktuellen Zustand der richterlichen Unabhängigkeit wurde auf dem Podium diskutiert. PETER-ALEXIS ALBRECHT (Berlin) hob die Bedeutung des Rechts als verbindendes Element für die Gesellschaft hervor. Nur eine klare Gewaltenteilung könne dem Anspruch eines Gleichgewichts zwischen den Gewalten gerecht werden. Außer der Judikative, deren Autonomie für die Demokratie insgesamt bedeutsam sei, leide auch die Legislative an einem Mangel an Autonomie, wo Abgeordnete nicht etwa nur ihrem Gewissen unterworfen seien, sondern auch den Bergen an Papier, den die Ministerien produzierten und dem Fraktionszwang. Als positives Beispiel führte er die Schweiz mit ihren plebiszitären und deliberativen Elementen an, wo eine dauerhafte Kommunikation über gesellschaftliche Interessen stattfinde. Eine autonome rechtsprechende Gewalt, die sich selbst mit Hilfe von Justizwahlausschüssen rekrutiere, habe die Kraft, dem Rückzug des Rechts entgegenzuwirken. Dieser Rückzug zeige sich in einer zunehmenden Ökonomisierung des Rechts und einem Anstieg privater Streitbeilegung, in extremer Ausprägung durch constitutions of private governance. Dies gefährde das Gewaltmonopol des Staates und damit den Staat selbst.

ANTONIA VON DER BEHRENS (Berlin) beleuchtete die Verschränkung der Gewalten im Staatsschutzverfahren, unter anderem vor dem Hintergrund ihrer Rolle als Nebenklagevertreterin im NSU-Prozess und der Diskussion um die Willkür des § 129b StGB. Sie warf die Frage auf, wie sehr auch die Autonomie der Staatsanwaltschaft anzustreben sei. Aufgabe der Bundesanwaltschaft sei gegenwärtig nicht einzig und allein die Strafrechtspflege, sondern auch die Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik; daher würden Fragen, die den Verfassungsschutz betreffen, aus dem Strafverfahren herausgehalten.

In Staatsschutzverfahren entscheide die Exekutive unter Berücksichtigung der (außen-)politischen Interessen über die indirekte Verfolgungsermächtigung, ehe die Staatsanwaltschaft ermittle. Dies führe regelmäßig zu einer Überforderung der Richter und zu einer Politisierung der Entscheidungen: Die Richter müssten über Sachverhalte entscheiden, die außerhalb des Bundesgebietes lägen und bei denen alle sonst verfügbaren Instrumentarien der Beweiswürdigung nicht zur Verfügung stünden. So fänden beispielsweise Ermittlungsergebnisse der türkischen Polizei Einzug in eine deutsche Hauptverhandlung.

In seinem Impulsvortrag richtete CHRISTOPH STRECKER (Stuttgart) den Blick auf die Person des Richters und seine (individuelle) Unabhängigkeit zwischen Beförderung und Disziplinarverfahren, kritischer Selbstreflexion und hierarchischem Denken. In der Selbstverwaltung von Budget, Personal, Abläufen und Organisation sehe er eine Möglichkeit, die Einwirkung der Exekutive auf richterliches Verhalten einzudämmen. Außerdem warf er den Gedanken auf, eine Gleichheit der Richterämter zu schaffen.

In der anschließenden Diskussion wurde herausgearbeitet, dass die strukturelle Unabhängigkeit der dritten Gewalt kein Allheilmittel, sondern eine Voraussetzung sei, um echte Unabhängigkeit, auch in den Köpfen der Richter, erreichen zu können. Ein Element davon sei die Aufhebung der institutionellen Druckverhältnisse sowie die Abflachung von Hierarchien; ein anderes die Ausbildung von selbstständigen, unabhängigen und mutigen Richterpersönlichkeiten.

Nicht nur während des Zeitzeugengespräches am ersten Abend, sondern auch während der Debatte am letzten Tag kamen die Tagungsteilnehmer überein, dass – über die historische Betrachtung hinaus – konkrete Maßnahmen getroffen werden müssten, um eine strukturelle Unabhängigkeit der Justiz zu fördern. Die historisch ausgerichteten Vorträge der Tagung haben verdeutlicht, dass es in der Geschichte immer wieder Versuche gegeben hat, eine solche herbeizuführen. Diese hatten aber nie den erhofften Erfolg. Die Betrachtung der politischen Entwicklungen und der Vergleich mit den historischen Erfahrungen haben weiter gezeigt, dass der erste Schritt zum Erreichen einer Unabhängigkeit der Justiz durch Aufklärung erfolgen muss. Zielgruppen solcher Maßnahmen – wie auch immer konkret ausgestaltet – müssten die Gesamtbevölkerung, insbesondere die jungen, in Ausbildung befindlichen Juristen sein. Diese sind diejenigen, die unmittelbar betroffen sind und die, mit entsprechenden Erkenntnissen ausgestattet, in der Zukunft Veränderungen herbeiführen können.

Konferenzübersicht:

Historischer Überblick

Ingo Müller (Berlin): Autoritäre Elemente der Justizverwaltung von 1848 bis Weimar

Hans-Ernst Böttcher (Lübeck): Die GVVO von 1935 als heimliche Gerichtsverfassung der Bundesrepublik und mögliche Remedien

Justizkritik von innen und außen – Zeitzeugengespräch
Moderation: Ralf Oberndörfer (Berlin)
Marianne Hornung-Grove / Sabine Strachwitz / Ingo Müller (alle Berlin): 20 Jahre „Forum Justizgeschichte“

Europäische Perspektive

Debatte
Einführung und Moderation: Mareike Jeschke (Berlin)
Dragana Boljevic (Belgrad) / Filipe Marquez (Lissabon): Demokratisierung und Selbstverwaltung der Justiz in Europa

Wolfgang Howald (Dresden): Autoritärer Umbau der Justiz in Polen – Ein Testfall für die richterliche Unabhängigkeit in Europa?

Neuere Entwicklungen

Impulsvorträge zu Veränderungen der deutschen Justiz seit den 1960er-Jahren – Aufbrüche und verhinderte Chancen

Konstanze Plett / Uwe Boysen (beide Bremen): Zeitgeschichtlich-Soziologische Perspektive

Rupert von Plottnitz (Frankfurt am Main): Rechtsanwaltliche Perspektive

Sabine Strachwitz (Berlin) / Volkmar Schöneburg (Potsdam): Ministerielle Reformperspektive

Podiumsdiskussion
Antonia von der Behrens (Berlin) / Christoph Strecker (Stuttgart) / Peter-Alexis Albrecht (Berlin): Zur Lage der richterlichen Unabhängigkeit heute
Moderation: Mareike Jeschke (Berlin)

Debatte im Fishbowl-Format