Täter_innen und Opfer im Nationalsozialismus und die Bedeutung von Geschlecht

Täter_innen und Opfer im Nationalsozialismus und die Bedeutung von Geschlecht

Organisatoren
Sandra Franz, Villa Merländer e. V., NS-Dokumentationsstelle und Fabrik Heeder; Mareen Heying, Heinrich-Heine Universität Düsseldorf / Ruhr-Universität Bochum
Ort
Krefeld
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
22.02.2019 - 23.02.2019
Von
Jan Lis, Institut für Geschichtswissenschaft, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Forschung zu nationalsozialistischen Täter/innen als genderbasierte Forschung wird bisher kaum betrieben, in Gedenk- und Dokumentationsstellen zum NS wird sie selten thematisiert, im Schulunterricht gar nicht. Ziel der durch den Arbeitskreis historische Frauen- und Geschlechterforschung, Roze Zaterdag/Stadt Krefeld, Bildungspartner NRW Gedenkstätte und Schule, Villa Merländer geförderten Tagung war es, Täter/innen stärker in den Fokus von Gedenkstättenarbeit zu rücken. Fragen nach der Bedeutung von Geschlecht und geschlechtlich konnotierten Rollen für die Erforschung von Täter/innen waren zentrale Themen der Tagung, die sich verschiedenen Täter/innengruppen des Nationalsozialismus widmete.

SABINE REIMANN (Düsseldorf) verwies in ihrem Gastvortrag zum Einsatz der Täter/innenforschung im Schulunterricht darauf, dass die Geschichte der Opfer des Nationalsozialismus erzählt werden muss. Ebenso ist die Reflexion über Täter/innenschaft von Bedeutung, um ein Gesamtverständnis des komplexen Verhältnisses von Täter/in und Opfer zu schaffen. Aus ihrer praktischen Arbeit mit organisierten Gedenkstättenfahrten berichtete Reimann über gängige Narrative zu Täter/innen: Zum ersten bestehe weiterhin das allgemeine Bild in der Gesellschaft, dass es sich um einen „kleinen irren Kreis“ von nationalsozialistischen Personen gehandelt habe, zum zweiten bestehe die Vorstellung, die Täter/innen hätten aus Angst vor persönlichen Folgen gehandelt, zum Beispiel selbst Opfer des NS-Regimes zu werden. Gerade hier sei es wichtig, so Reimann, nicht belegtes Wissen zu entlarven und als solches zu kennzeichnen. Eine Annäherung an die Täter/innen sei gut über aktuelle Ereignisse zu erlangen, etwa dass gegen einige von ihnen noch Gerichtsprozesse laufen würden. Die in den Prozessen getätigten Aussagen der Täter/innen seien spannende Quellen, da sich die Täter/innen oft als Opfer der Verhältnisse stilisierten. Auch sei das Besuchen von Gedenkorten, wie etwa Gedenkstätten oder Stolpersteinen, ein sehr guter Weg, damit sich Schüler/innen mit dieser Zeit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzten. Dabei sei es sehr wichtig, vor solchen Besuchen über die NS-Politik zu diskutieren, damit die Schüler/innen den Nationalsozialismus besser verarbeiten und einordnen könnten. Reimann erlebte häufig, dass Fragen nach Geschlecht bei den Schüler/innen eine entscheidende Rolle spielten. So wären Schüler durch weiterhin geltende Männlichkeitsnormen verunsichert und fragten oft, warum Männer nicht stark genug gewesen wären, um etwa aus Konzentrationslagern zu fliehen, Schüler stellten generell mehr Fragen über Täter. Schülerinnen würden sich eher nach dem Alltag der KZ-Gefangenen erkundigen und die Opfer-Perspektive reflektieren.

In der anschließenden Diskussion wurde darauf verwiesen, dass fachliche Leerstellen bei den schulischen Lehrkräften bestehen, weshalb die Kooperation mit Gedenkstätten nachdrücklich von der Referentin empfohlen wird, um fundiertes Wissen an Schüler/innen weiterzugeben. Zudem sei es wichtig zu vermitteln, warum es Sinn macht, sich im „Hier und Heute“ mit Geschichte zu beschäftigen.

SANDRA FRANZ (Krefeld) führte die Teilnehmenden im Anschluss durch die Dauerausstellung der Gedenkstätte und berichtete über die Lebensgeschichte des ehemaligen Besitzers des Hauses, Richard Merländer. Geboren 1874 in Mülheim an der Ruhr, wurde Merländer als Jude und Homosexueller von den Nationalsozialist/innen aus der Gesellschaft ausgeschlossen, später verfolgt, 1942 wurde er in Treblinka ermordet. Das einstige Wohnhaus des Seidenfabrikanten ist seit 1991 Sitz der NS-Dokumentationsstelle Krefeld, die seit März 2018 von Sandra Franz geleitet wird.

ALEXANDER LIEMEN (Jena) gab in seinem Beitrag einen Einblick in Stand und Entwicklung der kriminologischen Forschung mit dem Fokus auf Völkermord, Kriegsverbrechen und sonstigen staatlichen Großverbrechen. Zudem stellte er die in den 1960er-Jahren entstandene feministische Kriminologie vor. Liemen regte an, dass die Untersuchung des verbrecherischen und gewalttätigen Verhaltens von Frauen unter den Bedingungen von Krieg und Völkermord nicht gänzlich mit dem Rückgriff auf Erklärungsansätze erfolgen solle, die im Kontext männlicher Kriminalität entwickelt worden sind. Männer und Frauen könnten zwar bei der Beteiligung an Massengewalt dieselben Beweggründe haben, doch es gebe auch spezielle Gründe bei Frauen für Verbrechen und Gewalt. Zum anderen erschien Liemen auffällig, dass Erkenntnisse und Erklärungsansätze (unter anderem der Kriminologie) zu extremer Gewalt, die außerhalb der angesprochenen Ausnahmezustände auch in Friedenszeiten stattfinde, wie Massen- und Serienmorde Einzelner, kaum Berücksichtigung finde, wenn es um die Erklärung von männlichen und weiblichen Täterschaften in völkermörderischen und ähnlichen Zusammenhängen geht.

ROBERT PARZER (Gießen) beschäftigte sich mit „Sekretärinnen am Erschießungsgraben“, die 1942 in Kiew stationiert waren. Dabei griff er auf Vernehmungsprotokolle aus staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren der 1960er-Jahre zurück. Zwar waren die Sekretärinnen räumlich entfernt vom Erschießungsgraben, sie hatten also nicht die Finger am Abzug der Waffe, doch ihre Finger waren, so Parzer, sowohl auf der Schreibmaschine, die Erschießungsbefehle tippte, als auch aufgrund von Liebschaften auf den Körpern der erschießenden Täter. In den Protokollen wurden sie nicht als Täterinnen gehört, sondern als Zeuginnen. Die Verhöre geben Einblick in die Geschlechterordnungen der Täter/innen; so habe eine der Frauen angegeben, es sei nicht weiblich, sich an der Waffe zu behaupten. Einige deutsche Soldaten hätten sich nach Erschießungen bei den Sekretärinnen ausgeweint, zudem gab es intime Beziehungen, die in den Protokollen in einer Art „Slut shaming“ zur Sprache kamen. Parzer kam zu der Erkenntnis, dass es mehr Differenzen als Ähnlichkeiten zwischen den deutschen Soldaten und Sekretärinnen vor Ort gegeben habe; gegenderte Rollen wurden ausgelebt. Die Sekretärinnen koordinierten im Hintergrund, auch wenn sie gegenüber den Soldaten untergeordnete Funktionen hatten, so förderten sie doch das NS-System und auf ihrem Posten verfügten sie über die Macht, das System zu stützen und Morde zu beauftragen.

ANJA K. PETERS (Neubrandenburg) stellte in ihrem Vortrag zwei Frauen vor, Nanna Conti, Leiterin der Reichshebammenschaft, die ein faschistisches Weltbild vertrat, sowie ihre Nachfolgerin nach 1945 Margarethe Lungershausen. Es herrsche das Narrativ, so Peters, dass Menschen, die in der Geburtshilfe oder Pflege arbeiteten, etwas Gutes leisteten. Dies erschwere eine kritische Auseinandersetzung mit der Täter/innenschaft von Hebammen während des Nationalsozialismus. So hätten sich unter der Führung von Nanna Conti Hebammen an Zwangssterilisationen, der Ausbeutung von Zwangsarbeiterinnen, der Kolonisation der eroberten Gebiete in Osteuropa und der Meldung „missgebildeter“ Kinder beteiligt. Typisch für eine NS-Akteurin war Conti in ihrer (geschlechtlichen) Sphäre aktiv und wirkte dort eigenverantwortlich und durchsetzungsstark. Sie war nicht persönlich in Morde involviert, doch politisch verantwortlich für die Position der Reichshebammenschaft und das Handeln ihrer Mitglieder. Von ihr eingesetzte Funktionärinnen bauten den Verein nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland wieder auf, heute der Deutsche Hebammenverband. Ihre designierte Nachfolgerin Margarethe Lungershausen wirkte maßgeblich im Vorläuferverband des heutigen Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe mit. Zwar wurde Conti nach 1945 gebeten, sich zum Wohle des Hebammenverbandes nicht mehr zu äußern, doch Nachrufe auf sie aus dem Jahr 1952 zeigen laut Peters deutliche Wertschätzung ohne jede Kritik.

JAMILA A. ROTH (Kassel) untersuchte Pflegerinnen in den hessischen Landesheilanstalten, dazu gehörte das Personal in sechs Pflegeanstalten im heutigen Hessen. Anhand der Personalakten untersuchte sie das Thema Krankenmorde und Zwangssterilisationen durch den Nationalsozialismus. Roth führte aus, dass die Zuarbeit der Pflegerinnen für die Mordpolitik des Nationalsozialismus bedeutend war; sie machten Opfer für die Abreise in Tötungsanstalten bereit, einige Pflegerinnen begleiteten die Vernichtungszüge. Keine von ihnen wurde je für ihre Taten belangt. Zudem gab es in den Pflegeanstalten deutliche geschlechterbasierte Unterschiede beim pflegenden Personal. Während die Pfleger mit ihren Familien auf dem Gelände der Anstalt wohnten, waren Pflegerinnen oft unverheiratet und kinderlos. Die meisten dieser Täterinnen waren aus pragmatischen Gründen erwerbstätig, sie wollten zum Beispiel bis zu einer möglichen Ehe Geld verdienen. Dabei galt bis 1939: Frauen wurden von Frauen gepflegt, Männer von Männern. Erst durch den Kriegseinsatz der Männer änderte sich diese Trennung. Ferner lieferte Roths Vortrag anhand der ausgewählten Pflegeanstalten wichtige statistische Auswertungen hinsichtlich Herkunft, Religion, Alter und weiterer Fakten zur Sozialisation der Pflegerinnen.

YVES MÜLLER (Hamburg) widmete sich in seinem Vortrag der Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die nationalsozialistische Besatzungspolitik in den nationalsozialistischen Besatzungsregimes in Luxemburg, Polen und Slowenien sowie dem Wirken der „Sturmabteilung“ (SA) und leitete daraus verschiedene Ausprägungen von Gewalt ab: zweckgebunden, also den militärischen Gegner oder symbolisch, die Zivilbevölkerung adressierend. Die symbolische Ordnung des Männlichen fungierte, so Müller, zudem zur Anerkennung der Herrschaft durch die Beherrschten. Gleichwohl existierte in Bezug auf die Kategorie Männlichkeit eine „Normalität“ im „Ausnahmezustand“, eine Art symbolische Ordnung des Männlichen. Beispielsweise verdeutliche die SA-Standarte im besetzten Luxemburg die rassistische Grenze und männliche Übermacht, die zur Aufrechterhaltung der NS-„Volksgemeinschaft“ beitragen sollte. Am slowenischen Beispiel lasse sich außerdem die Verharmlosung der verbrecherischen Partisan/innenbekämpfung durch die nationalsozialistische Wortwahl aufzeigen: Partisan/innen wurden „unschädlich gemacht“, ihre „Angriffe abgewehrt“, was de facto ihre Ermordung meint. Von besonderer Bedeutung waren die Rolle der sogenannten Volksdeutschen und ihre Einbindung in die Okkupationsherrschaft. Sie waren Besatzer/innen, nicht Besetzte, und die Uniform markierte die Grenze zwischen ihnen und denjenigen, die aus der imaginierten „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen wurden.

VANESSA EISENHARDT (Bochum) untersuchte das NS-Sonderkommando R[ussland] in Transnistrien. Dieses NS-Sonderkommando bestimmte vor Ort, wer volksdeutsch war und wer nicht, und damit auch, wer deportiert werden sollte und wer nicht. In Transnistrien wurden zwischen 1941 und 1944 250.000 bis 410.000 Personen in Ghettos, Lagern und Vernichtungszentren umgebracht. Die Täter/innengruppen waren sehr heterogen; so waren unter anderem nationalsozialistische Frauen als medizinisches Personal dort tätig. Bei den Angehörigen des „Volksdeutschen Selbstschutzes“ könne, so Eisenhardt, von „ganz normalen Männern“ gesprochen werden. Die Gewaltsituation war durch die Handlungsoptionen Einzelner bestimmt. Das Sonderkommando „R“ fand bisher in der Forschung vorrangig durch Andeutungen Erwähnung. Prozesse oder Verurteilungen der Täter/innen gab es bislang nicht, was auch daran liege, dass von den Überlebenden bisher niemand eine/n Täter/-in identifizieren konnte.

In der Abschlussdiskussion wurden die Fragen, welche die Tagung begleitet hatten, wieder aufgegriffen und intensiv diskutiert. So etwa, ob das Wort „Opfer“ all die Facetten greift, die damit verknüpft sein können, vom indirekten Ausschluss über Folter und Überleben bis zu Mord. Offen war ebenso, ab wann jemand Täter/in sei und ob eine „Tat“ stets mit Gewalt verknüpft sei und ob von direkten und indirekten Täter/innen gesprochen werden könne. Daran schloss sich die Frage nach einem einheitlichen Gewaltbegriff an. Ein Ergebnis der Tagung lautete, dass eine geschlechtersensible Forschung Täterinnen stärker in den Blick nehmen muss, nicht nur als Ergänzung oder Nebenrolle zum männlichen Täter, sondern intensiver auch die Verschränkungen von Täter/innenschaft, ohne die Geschlechter direkt zu separieren. Frauen und Männer waren Täter/innen. Dass Frauen keinen Anteil an Strukturen wie Sonderkommandos hatten, ist ein weiteres Stereotyp, das aufgebrochen werden muss. Auch die Aufklärung von Schüler/innen über die Motivationen der Täter/innen ist aktuell noch ein Desiderat. Offen blieb, wann von einem strukturellen Verständnis von Männlichkeit gesprochen werden kann und wann es um biologische Zuschreibungen geht; diese Aspekte sind in die Täter/innen-Forschung mit einzubeziehen. Auch die Verschränkungen von sexueller Orientierung und Täter/innenschaft bzw. Opfern benötigen noch tiefergehende Forschung. Und ein letzter wichtiger Punkt ist die Untersuchung von Kontinuitäten nach 1945. Sie werden zwar immer wieder erwähnt, verdeutlichen aber vor allem in ihrer Breite, dass ein klarer Bruch mit dem NS-Regime nicht stattgefunden hat – insbesondere nicht auf personeller Ebene.

Konferenzübersicht:

Mareen Heying (Düsseldorf / Bochum): Willkommen und Einführung

Sabine Reimann (Düsseldorf): Der Einsatz von Täter_innen-Forschung im Schulunterricht

Alexander Liemen (Jena): Weibliche Täterschaften und kriminologische Völkermordforschung

Robert Parzer (Gießen): Sekretärinnen am Erschießungsgraben. Frauen in den Einsatzgruppen im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion

Anja K. Peters (Neubrandenburg): „Was ist wichtiger, das Geldverdienen der Frauen, das ihnen oft große Freude macht, die persönliche Befriedigung im Beruf oder die Mutterschaft?“ – Nanna Conti (1881–1951) und Margarethe Lungershausen (1892–1973) und ihr Einfluss auf Hebammenwesen und Krankenpflege im NS und in der BRD

Jamila A. Roth (Kassel): Die Pflegerinnen der hessischen Landesheilanstalten in der Zeit des Nationalsozialismus

Yves Müller (Hamburg): „Menschenmaterial für die SA“. Zur Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die nationalsozialistische Besatzungspolitik 1939–1945

Vanessa Eisenhardt (Bochum): Das Sonderkommando R[ussland] in Transnistrien, 1941–1944

Abschlussdiskussion

Sandra Franz (Krefeld) / Mareen Heying (Düsseldorf / Bochum): Synthesen

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