Arbeiterbewegung und soziale Frage heute. Tagung zur Erinnerung an Helga Grebing

Arbeiterbewegung und soziale Frage heute. Tagung zur Erinnerung an Helga Grebing

Organisatoren
Stefan Berger / Karsten Rudolph, Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum; Anja Kruke, Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.02.2019 - 28.02.2019
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Von
Hendrik Küpper

Als die Historikerin Helga Grebing 2007 vierzig Jahre nach ihrem ersten großen Werk über die deutsche Arbeiterschaft ihre neue „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ vorlegte, war die Hochkonjunktur der Auseinandersetzung mit dieser bereits vorbei. Doch die Bedeutung von Arbeit als Grundvoraussetzung menschlicher Existenz, so war sich zumindest Helga Grebing sicher, bleibt bestehen. Und auch wenn umfangreiche Arbeiten zur Geschichte der Arbeiterbewegung zunehmend weniger Platz in der Forschungslandschaft einnehmen, so gibt es auch heute noch neuere Forschungsergebnisse zumindest über Arbeitswelten, Parteien, politische Ideen, Biografien oder soziale Bewegungen. Diese Forschungsergebnisse standen im Fokus der Tagung, die zur Erinnerung an Helga Grebing am 27. und 28. Februar im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum stattfand. Die verschiedenen Sektionen machten dabei deutlich, dass die Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften auch heute noch ein großes Interesse an der Auseinandersetzung mit der Arbeiterbewegung und der sozialen Frage haben. An die Aktualisierung der Idee eines freiheitlichen Sozialismus, die für Helga Grebing von besonderer Bedeutung war, traute man sich allerdings nur vorsichtig heran.

Nach der Begrüßung durch den Direktor des Instituts für soziale Bewegungen, STEFAN BERGER (Bochum), der aus der Skizzierung der Geschichte des Instituts den Zusammenhang zwischen dem Tagungsort und dem Tagungsthema verdeutlichte und dabei auch auf Helga Grebings Zeit in Bochum einging, stellte ANJA KRUKE (Bonn) die für Helga Grebing entscheidende Einheit von Geschichtswissenschaft und Geschichtsvermittlung heraus. Sie führte als Beispiel Grebings erst vor wenigen Jahren im Rahmen der Reihe der Lesebücher der Akademie für soziale Demokratie erschienenes Buch an, in dem Grebing die Geschichte der Arbeiterbewegung zwar akademisch informiert, aber dennoch für ein breites Publikum zugänglich darstellte. Kruke stellte heraus, dass Grebings Auseinandersetzung mit der Arbeiterbewegung nicht bloß einer theoretischen Motivation folgte, sondern immer auch praxisorientiert stattfand. Grebing verstand Geschichtswissenschaft also nicht als Disziplin für den Elfenbeinturm, sondern vielmehr als eine Trias aus Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive, deren Anliegen es sein müsse, dem Politischen eine historische Dimension zu verleihen. Hieran knüpfte schließlich auch KARSTEN RUDOLPH (Bochum) in seiner Einführung an, der ebenfalls die für Grebing so bedeutsame politische Erwachsenenbildung hervorhob. Im Zentrum von Grebings Arbeit standen, wie Rudolph betonte, besonders die Arbeiterbewegung, die Parteiengeschichte, die Menschenrechte und die damit zusammenhängende biografische Geschichtsschreibung sowie die historische Regionalforschung. Besonders charakteristisch für Grebing sei zudem ihr Verfechten der Ideengeschichte gewesen, die für viele inzwischen als überholt gelte.

Der erste Beitrag der Tagung war der Frage gewidmet, warum man sich überhaupt noch mit der Geschichte der Arbeiterbewegung beschäftigen sollte. DIETMAR SÜSS (Augsburg) machte zum einen die aufklärerische Funktion der Geschichtswissenschaft aus, die notwendigerweise auch zu einer Auseinandersetzung mit der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaftsgeschichte führen muss. Zum anderen zeige aber auch der derzeitige radikale Entsolidarisierungsprozess der westlichen Gesellschaften, den Grebing in seiner Entstehung bereits 1996 beschrieben hat, die Notwendigkeit, sich wieder verstärkt mit dem Solidaritätsbegriff auseinanderzusetzen, wofür eine nähere Betrachtung der Geschichte der Arbeiterbewegung unerlässlich sei.

Nachdem RICHARD SAAGE (Halle/Wittenberg) das erste Panel mit einem Verweis auf Grebings Habilitationsschrift „Konservative gegen die Demokratie“, aus der die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit sozialen Ideen für Grebing hervorging, anmoderierte, rekonstruierte FELIX KOLLRITSCH (Bochum) in seinem Beitrag die Geschichte der Neuen Linken in der Bundesrepublik und ging darauf ein, dass eine Unterscheidung verschiedener sich selbst als links definierende Gruppen immer auch gewisse Schwierigkeiten mitbringt. So war auch für Grebing die Frage danach, wer ein guter Marxist sei, bestenfalls amüsant, nicht aber doch praktisch relevant oder gar überhaupt entscheidbar. Dennoch könne bei einer genaueren Betrachtung neuer und alter Linker zumindest festgehalten werden, dass der Unterschied maßgeblich darin besteht, dass die neue Linke in der Bundesrepublik die Schließung der Lücke zwischen Theorie und Praxis anstrebte.

ANNA STROMMENGER (Duisburg/Essen) reflektierte anschließend den Heimatbegriff in der Arbeiterbewegung des Wilhelminismus und der Weimarer Republik und verknüpfte dabei die zeiträumliche Dimension mit der Klassenzugehörigkeit, um die Bedeutung der Identität in verschiedenen historischen Epochen zu unterstreichen. Dabei ging es ihr weniger um theoretische Auseinandersetzungen als um den Umgang mit der Idee der Heimat in der Sozialdemokratie.

DIMITRIJ OWETSCHKIN (Bochum) verwies in seinem Kommentar darauf, dass besonders die von Kollritsch als „Geschichte der Sozialismen“ dargestellte Geschichte des Sozialismus bei Grebing großen Anklang finden würde. Und auch Strommengers Vortrag sei im Sinne Grebings, da auch sie soziale Ideen nicht als feste Gedankengebäude verstand. Als Fazit ließe sich am Ende des ersten Panels festhalten, dass soziale Ideen nicht von Werten losgelöst verstanden werden können, und genau in diesem Verständnis liege auch die Stärke der beiden Beiträge.

Die von KARSTEN RUDOLPH (Bochum) moderierte Abenddiskussion zwischen CHRISTINA MORINA (Amsterdam), MARKUS MECKEL (Berlin), BERND FAULENBACH (Bochum), PETER BRANDT (Berlin), CONSTANTIN GOSCHLER (Bochum) und JÖRG SCHÖNENBORN (Köln) fragte nach den historischen Dimensionen demokratischer Politik und stellte den Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher beziehungsweise theoretischer und politischer Praxis her. Während einzelne Zeitdiagnosen oder Vorschläge zur Verbesserung des historischen Bewusstseins in der Bevölkerung von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern kontrovers diskutiert wurden, zeichnete sich ein Konsens dahingehend ab, dass demokratische Politik ohne historisches Bewusstsein, ohne lange Linien und ohne dass man sie als intergenerationelles Projekt begreift, zwangsläufig orientierungslos umherirren müsse und Krisen in der Folge unvermeidbar seien. Im Sinne Grebings müsse die Geschichtswissenschaft daher nicht nur interne Diskurse vorantreiben, sondern immer auch Stellung zu den politischen Fragen und Kontroversen der Zeit beziehen. Auch wenn sich auf abstrakter Ebene ein Konsens abzeichnete, blieb die Diskussion doch eine Antwort darauf schuldig, was denn Geschichtswissenschaft konkret zur politischen Praxis beitragen könne. So strebten lediglich vereinzelte Publikumsfragen, die auf Grebings Idee eines freiheitlichen Sozialismus anspielten, sowie Morinas Hinweis in Anlehnung an Grebing, dass Demokratie wie auch der Sozialismus Arbeit bedeute, nicht nur auf einer abstrakten Ebene nach der Einheit von Theorie und Praxis.

Der zweite Tagungstag begann mit einem von URSULA BITZEGEIO (Bonn) moderierten Panel zur Parteiengeschichte und politischen Biografik. Der Beitrag des erkrankten JÜRGEN SCHMIDT (Berlin) wurde von Anja Kruke verlesen. Er beleuchtete, wie sich die Arbeiterbewegung in der Trias von Klasse, Bewegung und Persönlichkeit konstituierte. Im Zentrum stand die These, dass sich Arbeiterbewegung und Geschichtswissenschaft allgemein nicht ohne politische Biografik verstehen und erklären lassen. So sei ein Verständnis dafür notwendig, wie sich verschiedene Entwicklungen vor dem Hintergrund von Struktur, Lage und Verhalten der Arbeiter deuten lassen.

PHILIPP KUFFERATH (Köln) beschrieb im Anschluss daran Biografien als Prismen und Sonden für historische Zusammenhänge und näherte sich so einem Verständnis darüber, wie sozialdemokratische Netzwerke zwischen Politik und Wissenschaft funktionieren. Dies beleuchtete er exemplarisch an einem Vergleich zwischen Helga Grebing, die aus einer Arbeiterfamilie, und Peter von Oertzen, der aus einer Intellektuellenfamilie stammte. Kennzeichnend sei besonders, dass Intellektuelle ihr symbolisches Kapital nutzen und so überhaupt erst aus der Wissenschaft in die Öffentlichkeit treten könnten. Der Netzwerkbegriff als historischer Analyserahmen würde schließlich ermöglichen, bestimmte historische und politische Prozesse besser verstehen und begreifen zu können.

In seinem Kommentar knüpfte MEIK WOYKE (Bonn) an die Ausführungen Kufferaths an und unterstrich, dass die Unterscheidung Bourdieus zwischen Lebenslauf und Biografie für das Verständnis des politischen Wirkens von Persönlichkeiten noch immer hoch bedeutsam sei.

Das letzte Panel, das von HANS-CHRISTOPH SEIDEL (Bochum) moderiert und eingeleitet wurde, widmete sich thematisch sozialen Bewegungen und der Parteiengeschichte, die für Grebing immer zentrale Bestandteile ihrer Arbeit waren. ULF TEICHMANN (Bochum) verglich zunächst neue und alte soziale Bewegungen, um zu einem zeitgemäßen Verständnis von Gewerkschaften und neuen sozialen Bewegungen zu gelangen. Er arbeitete dabei besonders heraus, dass ein Wertewandel und Ökologie an die Stelle von Wachstumsfetisch und Ökonomie getreten sind, Dezentralität und Autonomie den hohen Grad an formaler Organisation zurückgedrängt haben und die neuen sozialen Bewegungen eher in der Mittelschicht verankert sind und dort ihre Wurzeln haben statt wie früher in der Industriearbeiterschaft.

FELIX LIEB (München) ging sodann auf das Verhältnis von Sozialdemokratie und Umweltbewegungen ein, indem er besonders die politische Kultur (in der Sozialdemokratie) im Hinblick auf Umweltthemen in den Blick nahm. So sei als Fazit festzuhalten, dass das schwierige Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und Umweltbewegungen nur durch Besonnenheit und nicht durch neurotische Hektik – das Ziel einer sozial-ökologischen Wende vor Augen – überwunden werden könne. Ausgangspunkt seiner Überlegung waren die breiten zivilgesellschaftlichen Proteste gegen die Nutzung der Kernenergie seit Mitte der 1970er-Jahre. Diese hatten in der SPD zu einer Diskussion über die Umweltverträglichkeit wirtschaftlichen Wachstums, die Gefahren der Kernenergie und den richtigen Umgang mit dem Aufstieg von Bürgerinitiativen und Grünen, der mit der Entwicklung der Umweltpolitik als eigenständigem Politikfeld verbunden war, geführt.

MARIO DAHM (Köln) nahm schließlich die Vermutung in den Blick, dass die Sozialdemokratie seit jeher die führende politische Kraft zur Durchsetzung homosexueller Emanzipation in Kaiserreich, Weimarer Republik und Bundesrepublik gewesen sei. Sie speist sich nicht zuletzt daraus, dass der sozialdemokratische Vordenker Eduard Bernstein bereits im Jahr 1893 für die Rechte von Homosexuellen eintrat. Insgesamt sei aber dennoch auf das ambivalente Verhältnis der SPD zur homosexuellen Emanzipationsbewegung zu verweisen. Maßgeblich für das Hineintragen des Themenfeldes Homosexualität in die Partei seien in der Anfangszeit besonders Einzelpersonen oder vernetzte Peergroups gewesen, bevor sich aus den daraus entstandenen Diskursen politische Konzepte und Programme entwickelten.

FRANZ-JOSEF BRÜGGEMEIER (Freiburg) hob in seinem Kommentar die Bedeutung der Auseinandersetzung mit den sozialen Bewegungen hervor und kam dabei zu dem Schluss, dass alle drei Redner in ihren Projekten wesentliche Fragestellungen für die Beschäftigung mit der Arbeiterbewegung aufgreifen, deren Verfolgung für die Fortführung der Geschichte der Arbeiterbewegung unerlässlich sei. Abschließend machte er noch einmal deutlich, dass das Verhältnis von sozialen Bewegungen und Arbeiterbewegung keinesfalls immer einfach war, sondern viele Anliegen der ersteren erst nach langen Prozessen innerhalb der Arbeiterbewegung Gehör fanden.

In seinem Abschlussvortrag beleuchtete THOMAS MEYER (Bonn) im Sinne Grebings die Potentiale, die bis heute in der Arbeiterbewegung und in der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung liegen. So sei die ideengeschichtliche Herangehensweise Grebings ihre besondere Stärke gewesen. Grebing verstand es stets, die Wechselwirkung von Wissenschaft und Theorie auf der einen Seite und politischen Konzepten und Programmen auf der anderen Seite zu sehen und sich wertegeleitet in Diskussionen über die sozialdemokratische Gestaltung der Zukunft einzubringen. Als zentrales Anliegen der Arbeiterbewegung in der heutigen Zeit, das besonders durch die derzeitigen Entsolidarisierungsprozesse gefährdet zu sein scheint, ließe sich schließlich die Herstellung einer solidarischen Gesellschaft ausmachen, für die eine Politik der Gleichheit als Bedingung notwendig sei. Schon allein aus diesem Grund sei die (Geschichte der) Arbeiterbewegung noch längst nicht am Ende.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung
Stefan Berger (Bochum), Karsten Rudolph (Bochum), Anja Kruke (Bonn)

Eröffnungsvortrag
Dietmar Süß (Augsburg): Warum beschäftigen wir uns (noch) mit der Geschichte der Arbeiterbewegung?

1. Ideen, die die Welt veränder(te)n
Moderation: Richard Saage (Halle/Wittenberg)

Felix Kollritsch (Bochum): Zwischen Marxismus und demokratischem Sozialismus: Die neue Linke in der Bundesrepublik

Anna Strommenger (Duisburg/Essen): „Heimat“ in der Arbeiterbewegung des Wilhelminismus und der Weimarer Republik

Kommentar: Dimitrij Owetschkin (Bochum)

2. Geschichte regional
Moderation: Christl Wickert (Berlin)

Mike Schmeitzner (Dresden): „Wühler“, „Schieber“ und „Putschisten“? Bolschewismusfurcht und „Ostjudengefahr“ In Sachsen 1921

Matthias Micus (Göttingen): Die Sozialdemokratie in Niedersachsen

Kommentar: Bernd Weisbrod (Göttingen)

Podium: Über die historischen Dimensionen demokratischer Politik
Moderation: Karsten Rudolph (Bochum)

Diskutierende: Peter Brandt (Berlin), Constantin Goschler (Bochum), Markus Meckel (Berlin), Jörg Schönenborn (Köln), Bernd Faulenbach (Bochum), Christina Morina (Amsterdam)

3. Parteiengeschichte und politische Biografik
Moderation: Ursula Bitzegeio (Bonn)

Jürgen Schmidt (Berlin): Klasse, Bewegung und Persönlichkeit

Philipp Kufferath (Köln): Sozialdemokratische Netzwerke zwischen Wissenschaft und Politik

Kommentar: Meik Woyke (Bonn)

4. Parteiengeschichte und soziale Bewegungen
Moderation: Hans-Christoph Seidel (Bochum)

Ulf Teichmann (Bochum): Die Gewerkschaften und neue soziale Bewegungen

Felix Lieb (München): Arbeit durch Umwelt? Sozialdemokratie und Umweltbewegung im Spannungsfeld zwischen Ökologie und Ökonomie

Mario Dahm (Köln): Homosexualität und Sozialdemokratie

Kommentar: Franz-Josef Brüggemeier (Freiburg)

Abschlussvortrag
Thomas Meyer (Bonn): Was bleibt von der Arbeiterbewegung?


Redaktion
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