Komplexität und Reduktion: Akademische Forschung zwischen Wissenschaft und public science. 7. Jahrestagung des InterDisziplinären Kolloquiums

Komplexität und Reduktion: Akademische Forschung zwischen Wissenschaft und public science. 7. Jahrestagung des InterDisziplinären Kolloquiums

Organisatoren
Heinz Georg Held / Marion Steinicke, InterDisziplinäres Kolloquium (IDK); in Zusammenarbeit mit Petra Missomelius / Florian Martin Müller, Universität Innsbruck
Ort
Innsbruck
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.11.2019 - 03.11.2019
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Von
Heinz Georg Held, Dipartimento di Lingue e Culture Moderne, Universität Pavia

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Wissenschaftskulturen im Vergleich“ hat das InterDisziplinäre Kolloquium (IDK) auf seiner Jahrestagung 2018 in Innsbruck die Diskussion der vorangehenden Konferenzen in Jena, Koblenz und Delft fortgesetzt und zugleich auf ein zentrales Thema der wissenschaftstheoretischen Diskussion konzentriert. Spätestens seit Beginn der Neuzeit wurde die Reduktion komplexer Wissensstrukturen als unverzichtbare Voraussetzung für Produktion und Diffusion von Wissen angesehen, wobei sowohl wissenschaftsinterne (Methodik, Heuristik, Kommunikation und Archivierung von Wissen) als auch externe Aspekte (Verbreitung, technische Anwendung, ökonomische Nutzung von Wissen) zu je unterschiedlichen Anteilen dafür bestimmend waren. Die griffige Formel „Reduktion von Komplexität“ profiliert heute mehr denn je die unterschiedlichen universitären Aufgabenbereiche (und betont zugleich deren Interdependenz), die gleichermaßen innovative oder geradezu „exzellente“ wissenschaftliche Forschung, effiziente Didaktik, wirtschaftlichen Nutzen und medienwirksame Transfers ihrer Forschung und Forschungsergebnisse realisieren sollen. Die Tagungsdiskussion bewegte sich entsprechend zwischen historischen Fallbeispielen und aktuellen Problemstellungen, die trotz des breiten Fächerspektrums erstaunlich viele Bezugspunkte und Analogien erkennen ließen.

HEINZ GEORG HELD (Pavia) unternahm den Versuch einer thematischen Einführung, indem er anhand eines für die abendländische epistème buchstäblich zentralen Beispiels – die geometrisch exakte zeichnerische Erfassung und Wiedergabe vierdimensionaler Realität – verdeutlichte, dass Reduktion von Komplexität zugleich neue Komplexität generiert. Diese These wurde im Verlauf der Tagungsdiskussion mehrfach aufgegriffen und bereits in dem nachfolgenden Beitrag von LODEWIJK ARNTZEN (Delft) aus Sicht der physikalisch-mathematischen Forschung ausführlich kommentiert. Abweichend zu Ockhams bekanntem „Rasiermesser“-Prinzip dominiert in den modernen Naturwissenschaften keineswegs eine lineare Entwicklung zur Vereinfachung. Wie am Bespiel der Maxwell-Gleichungen und ihrer Rezeption gezeigt werden konnte, bedingen sich vielmehr Komplexität und Reduktion wechselseitig. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte auch BIRGIT STAMMBERGER (Lübeck), die in ihrem Vortrag über Geschlechterwissen Komplexität als positives Gegenmodell zu der noch heute in der Medizin gängigen und vermeintlich empirisch gesicherten Reduktion auf binäre Geschlechter-Differenzen beschrieb. Gerade die Empirie zeige jedoch eine Komplexität in der menschlichen Geschlechtsentwicklung, die eine eindeutige Bestimmung dessen, was Geschlecht sei, gar nicht zulässt. Generell scheinen die Prozesse der Reduktion, die für den Soziologen Luhmann die gesellschaftlichen „Systeme“ – mit Ausnahme der Kunst – bestimmt hatten, ihre Eindeutigkeit respektive Linearität verloren zu haben. Wie OLIVER FOHRMANN (Potsdam) ausführte, gehen in einer postmodernen Ökonomie “ Steigerung und Minderung von Komplexität Hand in Hand, denn deren Grundlage bilde keine authentischen oder realen Werte, sondern die Performanz von Authentizität – speziell in ihrer rezenten Ausprägung eines „Kulturkapitalismus“.

Nach den eher theoretisch orientierten einleitenden Vorträgen folgten Beiträge zu wissenschaftshistorischen Beispielen sowie zu Fragen der Wissenschaftskommunikation und -didaktik. ALEXANDER STÖGER (Jena) konstatierte für das 18. und beginnende 19. Jahrhundert eine entscheidende wissenschaftssoziologische Differenz zwischen England, wo wissenschaftliche Aktivitäten durch private oder öffentliche Londoner Einrichtungen gebündelt waren, und dem durch eine Vielzahl von unterschiedlichen staatlichen Gebilden charakterisierten deutschen Sprachraum. Dadurch hatten sich hier naturwissenschaftliche Fachzeitschriften früher als in England etablieren können, wo sich stattdessen populärwissenschaftliche Darstellungen in allgemeinen Periodika zunehmender Beliebtheit erfreuten. Thematisch anknüpfend verwies THOMAS METTEN (Passau) in seinen Ausführungen zu dem gegenwärtigen „medienkulturellen Wandel in der Wissenschaftskommunikation“ auf den Übergang von einer verwissenschaftlichten Gesellschaft zur Vergesellschaftung der Wissenschaft, der zu einer Zunahme popularisierender wissenschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit geführt habe. Er analysierte in diesem Zusammenhang zwei Webvideos, die auf erprobte Darstellungsmuster der Unterhaltungsmedien zurückgreifen, um aktuelle Forschung werbewirksam und in entsprechender Vereinfachung zu präsentieren.

Einleitend zu den Vorträgen, in denen Aspekte didaktischer Reduktion im Vordergrund standen, beschrieb DONATELLA MAZZA (Pavia) die problematischen Prozeduren, welche die im Fremdsprachenunterricht unverzichtbaren Vereinfachungen der konkreten Sprechpraktiken beinhalten, und erläuterte anhand mehrerer Beispiele, wie unzulänglich die meisten der aktuellen Lehrwerke zum deutschen Spracherwerb, die sich primär an der Vermittlung von grammatikalischen Regeln und Wortschatzeinheiten orientieren, auf die Komplexität einer realen Kommunikation vorbereiteten. PIT KAPETANOVIC (Heilbronn) erweiterte den Problemkreis, indem er die Leitfrage, wie wissenschaftliches Expertenwissen allgemein verständlich formuliert werden könne, ohne damit seinen wissenschaftlichen Anspruch aufgeben zu müssen, an die Unterrichtspraxis allgemeinbildender Schulen stellte und mit der Fokussierung auf den gymnasialen Geschichtsunterricht zugleich eine brisante kulturpolitische Debatte zitierte: Da didaktisch notwendige Komplexitätsreduktion im Fach Geschichte nicht nur die Vermittlung, sondern auch die Auswahl des Stoffes betrifft, stellt sich die grundsätzliche Entscheidung, ob der vereinfachenden historischen „Meistererzählung“ oder der problemorientierten Analyse konkreter, aber weitgehend dekontextualisierter Fallbeispiele der Vorzug zu geben sei. PETRA MISSOMELIUS (Innsbruck) demonstrierte nachdrücklich die Relevanz der Medienwissenschaft sowohl hinsichtlich didaktischer als auch anderer und nicht nur wissenschaftskommunikativer Zusammenhänge, da „Medien“ als Kulturtechniken der Komplexitätsreduktion gleichsam zur Kernkompetenz dieser relativ jungen Disziplin gehören. Inkludierende und exkludierende Praktiken wie Grenzziehungen, ordnende Abläufe oder Abstraktionsprozesse seien demnach analog zu den schon diskutierten Reduktionsverfahren zu interpretieren. Auch in dieser Hinsicht sollte die Medienwissenschaft in der Lage sein, Aufschlüsse über die gegenwärtige und zukünftige Wissenschaftskommunikation zu geben.

Die dritte Sektion stellte das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit in den Vordergrund. SILVIA PROCK, ULRIKE PFEIFFENBERGER und FLORIAN WESTREICHER (beide Innsbruck) stellten als Vertreter/innen der „Jungen Uni Innsbruck“ anhand mehrerer Beispiele ihre Projektarbeit vor. Zielgruppe ihrer Wissenschaftsvermittlung und Öffentlichkeitsarbeit sind junge Menschen zwischen 6 und 16 Jahren, denen man „aktuelle Themenbereiche aus Wissenschaft und Forschung“ nahezubringen versucht. Darüber hinaus ist es Anliegen dieser Initiative, Wissenschaftler/innen Anregungen zu weiterführenden didaktischen Strategien zu vermitteln. HOLM ARNO LEONHARTD (Hildesheim) thematisierte in seinem Beitrag unterschiedliche „Gefahren“ bei der Reduktion von Komplexität, wobei er einerseits – darin abweichend von der vorangehenden Diskussion – eine klare Trennungslinie zwischen Natur- und „weniger exakten Wissenschaften“ setzte, andererseits ergänzend zur akademischen Forschung auch journalistische Tätigkeiten einbezog. Die aufgezählten diskursiven Unzulänglichkeiten – Gebrauch von Schlagworten, Leerformeln etc. – ließen sich in der Tat vor allem diesem Bereich zuordnen und als Ausdruck ideologischer Positionen und propagandistischer Motive verstehen.

Dagegen widmete sich das Referat von THOMAS JURCZYK (Bochum) den Erwartungen, Chancen und Problemen beim Kontakt zwischen akademischen Spezialisten und einer breiten Öffentlichkeit (Schule, Medien, Politik, Museen). Die vorgestellten Aktivitäten des Bochumer Centrums für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) vermittelten einen Eindruck von der alltäglichen Praxis der Komplexitätsreduktion, die von der Wissenschaft in nichtwissenschaftlichem Ambiente geleistet werden muss, und umschrieb zugleich unterschiedliche Varianten von Konfliktsituationen, die sich daraus ergeben können. Der Vortrag von FLORIAN MARTIN MÜLLER (Innsbruck) vollzog zum Abschluss der Sektion eine Art Perspektivwechsel, indem er anstelle wissenschaftlicher Reduktion von Komplexität die reduktive öffentliche Wahrnehmung wissenschaftlicher Arbeit analysierte. Das „Bild von Archäologen/innen in der gegenwärtigen Alltagskultur“, das mit teilweise abenteuerlichen Vorstellungen und exotischen Phantasien verknüpft ist, hat sich auf sehr unterschiedliche, dabei jedoch zeittypische Weise in der Populärkultur, im Film wie in der Spielzeugwelt manifestiert und damit seinerseits ein bestimmtes Image der akademischen Disziplin generiert.

Zum Auftakt der Abschlussdiskussion, die den Gepflogenheiten des IDK entsprechend breiten Raum beanspruchte, unternahm MARION STEINICKE (Koblenz) anhand des diesjährigen Leitthemas einen selbstreflektierenden Rückblick auf die Arbeit des 2002 (damals als „Interdisziplinäres Doktorandenkolleg“) gegründeten außer-institutionellen akademischen Verbunds. Die seinerzeit in expliziter Distanz zum wirtschaftsaffinen „career-sevice“ formulierten Zielsetzungen – „konsequenter Ausbau wissenschaftskommunikativer Fähigkeiten“, „Erweiterung interdisziplinärer Diskussionskompetenz“, „gemeinsame Interessenssphären von Kultur- und Naturwissenschaft“ – wurden mit der spezifischen Diskussionskultur des heutigen InterDisziplinären Kolloquiums und zugleich mit neueren Ansätze in Soziologie und Philosophie konfrontiert, die im Gegenzug zur gegenwärtig dominierenden funktionalistischen Wissenschaftsökonomie für ein emphatisches „Komplexitätsverständnis“ unter Einbeziehung von „Interdisziplinarität, Perspektivenwechsel, Multidimensionalität“ (Manfred Prisching), für eine „wissenschaftliche Allgemeinbildung“ sowie für die „Verbindung von Sache und Person“, von Subjekt und Objekt des wissenschaftlichen Diskurses (Ralf Becker) eintreten. Der nachdenklich resümierende Vortrag bildete zugleich die Grundlage für die thematische Ausrichtung der kommenden IDK-Jahrestagung, die sich 2019 in Lübeck mit abweichendem Denken und Widerständigkeit in den Wissenschaften beschäftigen wird.

Konferenzübersicht:

Petra Missomelius/ Florian Martin Müller, Begrüßung der Teilnehmer/innen

Marion Steinicke, Vorstellung des InterDisziplinären Kolloquiums

1. Sektion
Heinz Georg Held: Komplexität der Reduktion. Versuch einer thematischen Einführung

Lodewijk Arntzen: „Die Dinge so einfach wie möglich machen – aber nicht einfacher“

Birgit Stammberger: Zwischen Binarität und Komplexität. Geschlechterwissen zwischen Diskursanalyse und Biomedizin

Oliver Fohrmann: Volkswirtschaft, Das Ich zwischen Reduktion und Erhöhung von Komplexität in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur

2. Sektion
Alexander Stöger: Herausgeber und Editors. Naturwissenschaftliche Fachzeitschriften in Deutschland und England vom 18. ins 19. Jahrhundert

Thomas Metten: Science Web Videos zwischen medialer Komplexität und Popularisierung

Donatella Mazza: Reduktion in der Fremdsprachendidaktik

Pit Kapetanovic: Komplexitätsreduktion als didaktisches Prinzip – Reduktionen im Geschichtsunterricht

Petra Missomelius: Komplexität und Reduktion aus Sicht der Medienwissenschaft

3. Sektion

Silvia Prock, Ulrike Pfeiffenberger, Florian Westreicher: Wissenschaftsvermittlung und Öffentlichkeitsarbeit am Beispiel Junge Uni Innsbruck

Holm Arno Leonhardt: Gefahren bei der Reduktion von Komplexität

Thomas Jurczyk: Religionswissenschaft und Öffentlichkeit

Florian Martin Müller: Komplexität und Reduktion im Bereich der Archäologie. Das Bild von Archäologen/innen in der gegenwärtigen Alltagskultur

4. Sektion

Marion Steinicke: Komplexitätsreduktion im interdisziplinären Diskurs – eine Selbstreflexion

Abschlussdiskussion und Planung IDK Jahrestreffen 2019


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