TextVerHandlungen: Literaturwissenschaft praxeologisch, Textbegriffe interdisziplinär

TextVerHandlungen: Literaturwissenschaft praxeologisch, Textbegriffe interdisziplinär

Organisatoren
Zentrum für Kulturwissenschaften der Universität Graz, Doktoratsprogramm “Kultur - Text - Handlung”
Ort
Graz
Land
Austria
Vom - Bis
24.01.2019 - 25.01.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Alena Heinritz / Mario Huber / Doris Pichler / Dimitri Smirnov, Zentrum für Kulturwissenschaften, Universität Graz

Im Rahmen des vom FWF geförderten Projekts „Law, Literature and Economics. A New Interdisciplinary Approach“ und des Doktoratsprogramms „Kultur – Text – Handlung“ fand das internationale Symposium zum Thema „TextVerHandlungen“ am Zentrum für Kulturwissenschaften statt. In ihrer thematischen Einführung zum Graduiertensymposium „Literaturwissenschaft praxeologisch“ betonten ALENA HEINRITZ, MARIO HUBER und DIMITRI SMIRNOV (alle Graz) die Aktualität der Fragestellung. Das Graduiertensymposium, so die Organisator/innen, möchte ein Nachdenken über mögliche methodische Zugänge einer praxeologischen Literaturwissenschaft anregen und die Anwendungsbereiche und Dimensionen eines praxeologischen Textbegriffs diskutieren.

Der erste Vortragende des Graduiertensymposiums, ALEXANDER SCHOLZ (Bochum), lenkte den Fokus auf die Praktik des Lesens. Scholz befasste sich mit der vermeintlichen ästhetischen Anspruchslosigkeit von Prosaliteratur, der zufolge einem Text nicht anzusehen ist, dass er literarisch sei. Als Vorschlag für eine alternative Betrachtungsweise brachte Scholz das Konzept der „notationalen Ikonizität“ (Sybille Krämer) ein, welche die strukturelle Bildlichkeit eines Textes beschreibt. Um dieses Konzept zu veranschaulichen, wählte Scholz zwei prägnante literarische Beispiele: Erstens Elias Canettis Die Blendung und zweitens Walter Benjamins Lesendes Kind. In beiden Texten kommen, so Scholz, Momente eines emphatischen Lesens zum Tragen, welches die strukturelle Bildlichkeit eines Textes herausstelle.

JULIA STETTER (Bochum) präsentierte in ihrem Vortrag eine linguistisch fundierte Methode, um Literatur im Umkreis des Nouveau Roman auf neuartige Weise zu lesen. In einer literaturwissenschaftlichen Adaption von A. J. Greimas’ Konzept der semantischen Kohärenz zeigte Stetter unter anderem am Beispiel von Ror Wolfs Fortsetzung eines Berichts, wie auf lexikalischer Ebene die Frage nach der Textkonstitution in dieser an möglichen und neuen Schreibweisen jenseits eines Realismus interessierten Literaturrichtung neu gestellt werden kann. Das Ergebnis ist eine Lektüre, die das Augenmerk nicht auf die narrativen und logischen Konfigurationen und Anordnungen des Nouveau Roman legt oder von Begrifflichkeiten wie Literarizität oder Fiktionalität ausgeht, sondern die Textualität als Zusammenspiel von Lexemen begreift.

Mit dem Möbiusband als Chiffre invertierter Textlichkeit setzte sich LAURA M. REILING (Münster) in ihrem Vortrag anhand von zwei Beispielen aus der postmodernen Literatur auseinander. Zum einen zeigte Reiling, wie das Möbiusband in Jeffrey Eugenides’ The Marriage Plot bereits bei der Gestaltung des Buchcovers andeutet, dass im Roman existierende Erzählmuster unterlaufen werden. Zum anderen sprach Reiling über John Barths Geschichte Frame-Tale, welche, mithilfe einer Bastelanleitung, selbst die Form eines Möbiusbandes annimmt. Die Poetik der Unabschließbarkeit, die mit Verdrehungen und Wiederholungsschleifen spielt, verbindet laut Reiling die zwei sehr unterschiedlichen Texte.

„Was tun wir ohne Text?“ war eine zentrale Frage in THOMAS KATERS (Münster) Beitrag, welcher den Werkbegriff praxeologisch akzentuierte. Im Zusammenspiel der Uraufführung von Elfriede Jelineks Stück Ulrike Maria Stuart und der sofort einsetzenden literatur- und theaterwissenschaftlichen Bearbeitung der Aufführung identifizierte Kater unterschiedliche Praktiken der Werkkonstitution. Als verbindendes Element stellte Kater dabei etablierte Herangehensweisen an den Text heraus, die auf traditionelle Autorkonzepte rekurrieren und das Stück, die Inszenierung oder, durch Verbindung der beiden Kategorien, das “Werk” in der Rezeption formten. Die praxeologische Betrachtung legte nahe, dass, im Gegensatz zu mannigfaltigen theoretischen Überlegungen, Kategorien wie Autor und Werk auch in der literatur- und theaterwissenschaftlichen Praxis nach wie vor von großer Bedeutung sind.

Auf der Grundlage von Andreas Reckwitz’ Beschreibung von Subjektivierungspraktiken präsentierte MARCELLA FASSIO (Oldenburg) in ihrem Vortrag Praktiken der (Autor-)Subjektivierung bei Rainald Goetz und Joachim Lottmann. Das Genre des Weblogs wurde dabei als ein Genre charakterisiert, das Autorschaft und seine Praktiken explizit thematisiert sowie ausstellt und so als Genre seine eigene Produktivität spiegelt. Wenn die Autorfiguren in den Blogs von Rainald Goetz und Joachim Lottmann in ihren Texten explizit und radikal abgrenzend aufeinander Bezug nehmen, handelt es sich dabei nicht nur um intertextuelle Kritik am jeweils anderen, sondern in erster Linie um ein metapoetologisches Verfahren und eine abgrenzende Subjektivierung durch die jeweils andere Autorfigur, so Fassio.

CATERINA RICHTER (Graz) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit Praktiken digitaler Medienpluralität und ihrer Körperlichkeit in Texten von Marlene Streeruwitz. In ihrer Arbeit bindet Streeruwitz Design, digitale Praktiken, unterschiedliche Formen von Öffentlichkeit und Interaktion mit Rezipient/innen und eine damit verbundene Polyphonie in ihre Texte ein, die als kritische Reaktionen auf die österreichische Politik verstanden sein wollen. Seit Mai 2018 veröffentlicht Streeruwitz auf Youtube regelmäßig Beiträge mit dem Titel Frag Marlene, bespricht dort politische Themen wie die österreichische Frauenpolitik und integriert die Lektüre von Briefen in die Sendung. Der analoge Brief und die Partizipation des Publikums werden damit ebenso in das digitale Videoformat eingebunden wie Streeruwitz’ eigene körperliche Präsenz.

Es wurde zusammenfassend festgestellt, dass die praxeologische Herangehensweise als literaturwissenschaftliche Methode textabhängig sehr gewinnbringend eingesetzt werden kann, etwa wenn sie dazu dient, Texte aus einer ungewohnten Perspektive zu lesen. Das selbstreflexive Potential des Ansatzes für die Literaturwissenschaft selbst wurde herausgestellt. Der Textbegriff, so wurde abschließend festgestellt, kann immer nur vor seinem jeweiligen wissens- und mediengeschichtlichen Hintergrund beschrieben und verstanden werden, da er stets eingebunden ist in die ihn umgebenden sozialen, medialen, epistemologischen und kulturellen Praktiken und mit Diskursen, Artefakten und Akteur/innen und ihren Körpern interagiert.

Die Verbindung zwischen dem ersten, verstärkt praxisorientierten Teil und dem zweiten, stärker theoriegeleiteten Teil, schaffte LUDWIG JÄGER (Aachen) mit seinem Keynote Vortrag. Jäger leistete aus transkriptionstheoretischer Perspektive einen Beitrag zu aktuellen Textbegriff-Fragen. Ausgehend von Genettes Begriffsfeld der „Transtextualität“ und seiner Idee der „textuellen Transzendenz“ legte Jäger dar, wie alle Texte, aus medien- und zeichentheoretischer Perspektive, einer transkriptiven Logik unterliegen und Sinn sich immer nur im Rahmen von Medienbewegungen entfaltet. Jägers Transkriptionsbegriff ist damit, anders als Genettes Begriff der Transtextualität, nicht auf Texte bzw. Schrift eingeschränkt, sondern auf alle Medien ausweitbar.

Den zweiten Teil eröffnete DORIS PICHLER (Graz) mit einer Einführung in das Thema und die folgenden Beiträge. Dabei wies sie darauf hin, dass gerade die Ubiquität des Textbegriffs in der Alltagssprache und die Multidisziplinarität des Textbegriffs (als Grundbegriff unterschiedlichster Wissenschaften) eine abschließende Begriffsdefinition beinahe unmöglich machen. Neben einer Einführung in unterschiedliche Auffassungen des Textbegriffs (u. a. linguistisch-strukturalistisch, semiotisch, literaturwissenschaftlich, kulturwissenschaftlich) machte sie eine interdisziplinäre Sichtweise stark. Gerade der Textbegriff (aufgrund seiner Multidisziplinarität) könne als Grundbegriff von interdisziplinären Forschungsfeldern wie z. B. Recht und Literatur, Literatur und Wirtschaft fungieren und müsse sich der jeweils relevanten texttheoretischen Zugänge „interdisziplinär“ bedienen.

Den Anfang einer Reihe von Vorträgen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven dem Textbegriff annahmen, machte CLEMENS KNOBLOCH (Siegen) mit einem linguistisch orientierten Beitrag. Er knüpfte insofern thematisch an Ludwig Jägers Keynote Vortrag an, indem auch er prinzipielle Überlegungen zum Entstehen von Textsinn anstellte. Anstatt radikal konstruktivistischer und poststrukturalistischer Modelle stellte er einen „vermittelnden“ Zugang zum Textbegriff vor, der sowohl die Sprachlichkeit der Darstellungstechnik als auch die Nichtsprachlichkeit des diskursiven Sinns zu erfassen vermag. Dabei machte er drei Instanzen aus, die zwischen den Ebenen der Darstellungstechnik und des Sinns vermitteln, nämlich Konnotation und Reindexikalisierung, Noetik als sprachwissenschaftliche Theorie des „Gemeinten“ sowie Umfeldbeziehungen.

KENT D. LERCH (Berlin) näherte sich dem Textbegriff dann aus juristischer Perspektive und beklagte vorweg ein allzu naives Textverständnis, das teilweise in den Rechtswissenschaften vorherrsche. Er zeigte, dass Rechtstexte nur vermeintlich in sich geschlossene und widerspruchsfreie Gebilde sind, wie es die Rechtsdogmatik vielleicht glauben lassen möchte. Lerch sprach in diesem Zusammenhang vom „Mythos des Gesetzbuchs“, das scheinbar das Gesetz „enthält“ und nur mehr angewendet werden muss. Stattdessen machte sich Lerch aber für ein Textverständnis stark, das Recht als komplexes und multimediales Textgeflecht erkennt. Dies zeige besonders gut der moderne digitale hypertext, der die immer schon hypertextuelle Struktur des Rechts offenlegt. Der Jurist müsse sich durch das Textgeflecht arbeiten, kompilieren und dann einen eigenen, neuen Text erstellen, auf dessen Basis er seine Entscheidung aufbauen kann. Recht sei damit ein performatives Verfahren, das sich immer wieder neu inszenieren müsse.

Einen Beitrag aus der Textwissenschaft schlechthin leistete die Theologin ODA WISCHMEYER (Erlangen). In ihren Überlegungen zu Text bezog sie sich vordergründig auf sehr früh kanonisierte Texte, die damit in gewisser Weise „textuell eingefroren“ wurden, wie z. B. der Jakobusbrief. Ungeachtet ihres mündlichen Ursprungs und auch ihrer „medialen Durchlässigkeit“ (Texte werden z. B. auch gesungen), werden diese Texte u. a. mit Statik und Normativität assoziiert. Das Erkenntnisinteresse bei der klassisch theologischen Textarbeit liegt einerseits in der Festlegung von Sinn und andererseits in einer Historisierung. Ähnlich wie Lerch, wenn auch in einem anderen Kontext, plädierte Wischmeyer für eine Befreiung und einen humaneren Umgang mit Texten, der den Kontext, die Medialität und Performativität von Texten mitbedenkt und v. a. nicht aus dem Blick lässt, dass Texte von Menschen für Menschen geschaffen werden. Damit wird ein „post-autoritatives“ Textverständnis impliziert, das den Text als gleichrangigen Dialogpartner dem/der Lesenden gegenüberstellt.

Dem Textverständnis und -zugang in den Naturwissenschaften widmete sich die Literaturwissenschaftlerin ANGELA GENCARELLI (Lüneburg) in ihrem Vortrag und zeigte, mit welchen textuellen Praktiken Wissen im Labor konstruiert wird. Dabei arbeitete sie mit Steven Shapins Begriff der „schriftlichen Technologien“, der Text im Kontext naturwissenschaftlichen Wissens konstruktivistisch als Werkzeug begreift. Anhand von paradigmatischen Studien der sogenannten Science Studies von u. a. Bruno Latour und Karin Knorr-Cetina konnte sie die besonderen Implikationen zeigen, die sich aus der textuellen Wissenskonstruktion ergeben. Dabei beschäftigte sie sich mit Fragen nach textueller Autorität, kollektiver Autorschaft, Textfassungen und Formen der Intertextualität und zeigte vor allem, welch komplizierter Textgenese gerade naturwissenschaftliche Texte unterliegen.

In einem abschließenden Vortrag plädierte schließlich der Kultur- und Literaturwissenschaftler WOLFGANG HALLET (Gießen) für einen semiotisch-modalen Textbegriff. Vor dem Hintergrund der Social Semiotics, wie sie unter anderem M. A. K. Halliday stark geprägt hat, führte er die Vorteile und vor allem Aktualität solch eines Textverständnisses vor. Ein (sozial-)semiotischer Textbegriff rückt zum einen die Funktion vom Text als soziale Interaktion in den Vordergrund und dient zum anderen dazu, auch multimodale bzw. multimediale Formen, etwa Bild-Text-Verhältnisse besser begreifen zu können. Dieses Textverständnis legte er dann anhand des multimodalen, wissenschaftshistorischen Romans The Selected Works of T.S. Spivek von Reif Larsen dar.

In einer Abschlussdiskussion wurden drei Punkte hervorgehoben. Erstens, der notwendige interdisziplinäre Blickwinkel auf den Textbegriff, zweitens, die Notwendigkeit, mit dem Textbegriff auch digitale, bildliche und andere mediale Mischformen und damit die schwierig zu fassende Linie zwischen Text und Nicht-Text fassen zu können und, drittens, das Verhältnis zwischen Text und Werk – wie auch am ersten Tag eindrücklich angemerkt – kritisch zu revisionieren. Damit schloss sich der thematische Kreis, der im ersten Teil mit vermehrter Arbeit am Text (= Praxis) begann und im zweiten Teil zur Arbeit über den Text (= Theorie) überging.

Konferenzübersicht:

Literaturwissenschaft praxeologisch

Susanne Knaller, Doris Pichler (Graz): Begrüßung

Alena Heinritz, Mario Huber, Dimitri Smirnov (Graz): Einführung

Alexander Scholz (Bochum): Lesemodi und notationale Ikonizität. Der Blick auf die Ordnung der Textur als analytischer und abseitiger Lesemodus

Julia Stetter (Bochum): Semantische Kohärenz als Alternativkonzept literarischer Textkonstitution

Laura M. Reiling (Münster): TextSchleife – SchleifenText? Barth und Eugenides mit der Schere lesen

Thomas Kater (Münster): Ein Stück werkuntreuer Textlosigkeit? Über Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart und die Kategorie des Werks in einer Praxeologie des Texts

Marcella Fassio (Oldenburg): “Und nun weiter im Blog EINFACH DRAUFLOSLABERN.” – Praktiken der (Autor-)Subjektivierung bei Rainald Goetz und Joachim Lottmann

Caterina Richter (Graz): TextKörperPraxis. Digitale Medienpluralität in Marlene Streeruwitz' Texten aus einer praxisorientierten Perspektive

Keynote

Ludwig Jäger (Aachen): Das Spiel der Skripturen. “Praktiken der Wiederverwendung” (Genette) und das Problem der Transkription

Textbegriffe interdisziplinär

Doris Pichler (Graz): Text zwischen den Disziplinen

Clemens Knobloch (Siegen): Text - Umfeld - Konnotationen oder: Texte als Feldopportunisten

Kent D. Lerch (Berlin): Vom Gesetzbuch zum Hypertext: Zur Morphologie des Rechts

Oda Wischmeyer (Erlangen): Die Bibel zwischen Texttheorien und praktischer Arbeit am Text. Plädoyer für einen humanen Umgang mit Texten

Angela Gencarelli (Lüneburg): “Schriftliche Technologien”. Textbegriffe in den Science Studies und ihre interdisziplinäre Anschluss(un)fähigkeit

Wolfgang Hallet (Gießen): Mehr als Worte. Der Text als semiotische Einheit


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