Vertrauensverlust und Vertrauenskrisen in antiken Gesellschaften

Vertrauensverlust und Vertrauenskrisen in antiken Gesellschaften

Organisatoren
Philipp Brockkötter / Elisabeth Engler-Starck / Stefan Fraß / Frank Görne / Isabelle Künzer, JLU Gießen
Ort
Schloss Rauischholzhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.03.2019 - 16.03.2019
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Von
Frank Görne / Isabelle Künzer, Professur für Alte Geschichte, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Der Verlust von Vertrauen gegenüber politischen Institutionen, wirtschaftlichen Branchen und gesellschaftlichen Akteuren ist häufig Thema der öffentlichen Berichterstattung. Mitunter erscheint dabei das Vertrauen so nachhaltig erschüttert, dass von regelrechten „Vertrauenskrisen“ die Rede ist. Die Auffassung, dass Vertrauen als wichtige Grundlage gemeinschaftlichen Zusammenlebens schwinde oder gar gänzlich verloren gegangen sei, findet sich als Thema freilich bereits in der antiken Überlieferung. Bislang wurden in der Forschung die Charakteristika und komplexen soziopolitischen Einflussfaktoren der Vertrauenserosion, die Prozesslogik des Vertrauensverlusts sowie die Auswirkungen für antike Gesellschaftssysteme und deren Reaktionen allerdings nicht hinreichend in den Blick genommen. Diesem vielfältigen Thema galt eine altertumswissenschaftliche Tagung, die von Mitarbeitenden und Doktoranden der Professur für Alte Geschichte der Justus-Liebig-Universität Gießen veranstaltet wurde.

Das Tagungsprogramm versuchte, Vertrauensverlust und seine Struktur in vier Sektionen thematisch-konzeptionell nachzuvollziehen. Maßgeblich für diese Konzeption war die Tatsache, dass sich auf diese Weise die Thematik sowohl punktuell-sektoral als auch längsschnittartig behandeln ließ und somit einer modernen kulturwissenschaftlichen Betrachtung Rechnung getragen werden konnte. Dementsprechend konnten sowohl individuelle als auch abstrakt-allgemeine Elemente bei der Analyse des Phänomens miteinander verbunden werden. Gerade dieser Zugriff ermöglichte es, sowohl Vertrauen und Vertrauensverlust zu systematisieren als auch qualitative Analysen über die längerfristige Relevanz und soziopolitische wie soziokulturelle Dimension individueller Erosionsprozesse von Vertrauen anzustellen.

In seinem Eröffnungsvortrag zeigte JAN TIMMER (Bonn) das komplexe Verhältnis von Vertrauen und Erwartung im Hinblick auf normkonformes Handeln und Verhalten auf. Anhand mehrerer einschlägiger Beispiele verdeutlichte er, dass die Divergenz zwischen individuellen Ansprüchen und konkreten politischen Erfahrungen es in der Spätphase der römischen Republik regelmäßig erforderlich machte, Verfahren zur Enttäuschungsabwicklung anzuwenden: beispielsweise die sprachliche Umdeutung von Wahlniederlagen, die Einstellung der Kooperation oder die Relativierung eigener Erwartungen. Dabei mochten bestehende Vertrauensroutinen diesen Prozess mitunter sogar erschweren. Daran anschließend wurden in der ersten Sektion exemplarisch anhand zweier Vorträge grundsätzliche Vorstellungen und Leitgedanken des Vertrauens entwickelt. SVEN GÜNTHER (Changchun) skizzierte in seinem Vortrag die vielfältigen Facetten, die Vertrauen in Xenophons Werken aufweisen konnte, und inwiefern dieser dabei auf zeitgenössische Phänomene des vierten Jahrhunderts v. Chr. Bezug nahm oder aber seinerseits aktiv an deren diskursiver Aushandlung partizipierte. Es wurde ersichtlich, dass Xenophon in seinem politischen Denken einer eigenen Vertrauenskonzeption verpflichtet war. MARKUS KERSTEN (Basel) nahm in seinem Beitrag das Bellum civile Lucans in den Blick und kontrastierte es mit anderen Werken der römischen Epik. Er arbeitete heraus, dass der Autor nicht von einem simplen fides-Schema geleitet war, sondern die Kategorie geradezu flexibel und virtuos einsetzte und dabei dem Leser eben nicht offenbarte, wie die „richtige“ fides zu verstehen sei.

In den ersten drei Vorträgen wurden damit die Grundlagen gelegt, um im weiteren Verlauf der Konferenz Vertrauensdefizite sowohl als Teil eines Prozesses wie auch als Phänomen insgesamt zu erfassen. Vertrauensverlust wird in der Regel thematisiert, wenn sich nach und nach Skepsis an der Vertrauenswürdigkeit etabliert oder aber das Vertrauen plötzlich und umfassend erodiert ist.1 Die mit jeglicher Form von Veränderungsdynamik einhergehende potentielle Fragilität lässt dabei die Gefährdung von Konzepten der Realitätsdefinition evident werden. Ist Vertrauen einmal erschüttert, wurde es zuvor gleichsam einer Bewährungsprobe unterzogen, die zu einem offenkundig negativen oder zumindest fragwürdigen Ergebnis gekommen ist. Unter Umständen tritt Misstrauen oder Skepsis schnell an die Stelle einer solchermaßen fragilen Vertrauensbeziehung. Beide können sodann in funktionaler Äquivalenz den Prozess der Komplexitätsreduktion ermöglichen, den für gewöhnlich Vertrauen als Ressource leistet. Es ist aber je nach Situationsspezifik ebenfalls denkbar, dass sich geradezu Antonyme zum Vertrauen etablieren, wie beispielsweise Gerüchte.2

Diesem insgesamt hochkomplexen Vorgang sowie dessen Auswirkungen auf politische Systeme widmeten sich die Beiträge der zweiten Sektion. CHRISTOPHER DEGELMANN (Berlin) betrachtete Gerüchte im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. Er wertete Vertrauen als ein Mittel, das über regelmäßige Präsenz und Kommunikation im öffentlichen Raum prophylaktisch der Entstehung von Gerüchten vorbeugen könne. Denn Gerede jedweder Art sei im politischen Diskurs der Zeit immer wieder funktionalisiert worden, nicht zuletzt um über die öffentliche Meinung die Vertrauenswürdigkeit eines Kontrahenten zu erschüttern. Im folgenden Vortrag von BABETT EDELMANN-SINGER (München) stand die Herrschaft Neros und deren Scheitern im Zentrum. Ausgehend vom Narrativ der Historiographie, insbesondere der taciteischen Annalen, widmete sie sich an den Beispielen des Muttermordes und der Pisonischen Verschwörung dem für Vertrauensfragen in antiken Gesellschaften grundsätzlich schwierigen Verhältnis von literarischem Diskurs und historischer Realität. Beide Referenten der zweiten Sektion ließen in Vorausschau auf den nächsten im Rahmen der Tagung behandelten Themenkreis bereits erkennen, dass der sukzessive Erosionsvorgang von Vertrauen mit der Zeit beachtliche Auswirkungen auf individuelle Karrieren nach sich zog. Dieser Aspekt war in veränderter Perspektive ausführlich Gegenstand in der dritten Sektion.

Der Vortrag von SVEN-PHILIPP BRANDT (Göttingen) analysierte mit dem Ansatz der neuen Institutionenökonomie die Konsequenzen für die politische Selbstverwaltung Athens, die die Besetzung der Festung Dekeleia durch die Spartaner mit sich brachten. Infolgedessen konnte man unter anderem nicht mehr über die Einnahmen aus den Silberbergwerken in Laureion verfügen. Die Bürgerschaft habe mehr und mehr das Vertrauen in die politische Handlungs- und Regenerationsfähigkeit des Systems verloren und sei letztlich unter anderem deswegen sogar zur Selbstentmachtung der Volksversammlung bereit gewesen. FABIAN KNOPF (Braunschweig) widmete sich in seinem Vortrag dem Prozess des Vertrauensverlusts der Plebs in die Regierungsfähigkeit der Nobilität. Vorwiegend auf der Grundlage des Bellum Iugurthinum Sallusts behandelte er verschiedene Unmutsbekundungen der stadtrömischen Bevölkerung, die auf einen Vertrauensverlust hindeuteten. KATARINA NEBELIN (Rostock) bezog sich ebenfalls auf die Zeit der römischen Republik. Sie stellte mit den Märschen römischer Feldherren gegen die Hauptstadt ein voraussetzungsreiches politisches Kampfmittel in den Mittelpunkt. Dabei konzentrierte sie sich insbesondere auf die Kommunikationsprozesse zwischen dem jeweiligen imperator und seinen Soldaten. Sie legte dar, dass sich im Laufe der Republik das Vertrauen der Soldaten weg von den zentralen Institutionen hin zu herausragenden Einzelpersönlichkeiten verlagert habe, die sich als vertrauenswürdigere Vertreter und Retter der res publica zu inszenieren vermochten. TIM HELMKE (Osnabrück) betrachtete die Funktionen und die Wirkmechanismen der römischen fides im Herrschaftsdiskurs der tiberianischen Zeit. Dazu untersuchte er Vertrauensnarrative bei Valerius Maximus. Er vertrat dabei die These, dass der Diskurs über die römische Herrschaftslegitimation sukzessive statt einer militärischen eine zunehmend moralische Qualität erlangt habe.

In der vierten Sektion rückten abschließend die Folgen von Vertrauenskrisen in den Fokus der Diskussion. Der Verlust von Vertrauen wurde dabei nicht nur als Ursache oder Folge der Erosion von Gesellschaftsordnungen und Norm- sowie Wertekonzeptionen gesehen, sondern vor allem als Impulsgeber gesellschaftlichen und politischen Wandels. Diese Herausforderung für die Gesellschaften wurde zudem hinsichtlich der mit ihr verbundenen Potentiale und Problematiken betrachtet. DARJA ŠTERBENC ERKER (Berlin) behandelte den Verlust des Vertrauens in die Götter an ausgewählten Werken der augusteischen Literatur. Sie versuchte, aufgrund von deviantem Verhalten seitens der Götter sowie deren zugleich repräsentiertem Allmachtpostulat auf einen sich im literarischen Diskurs spiegelnden allgemeinen Erosionsprozess des Vertrauens in die göttlichen Instanzen zu schließen. Im letzten Vortrag der Konferenz konzentrierte sich MATTHIAS SCHMIDT (Gießen) auf die Auswirkungen des Claudius-Ediktes auf die Missionsarbeit des Apostels Paulus. In der Ausweisung und Vertreibung der Juden aus Rom habe sich eine grundsätzliche Skepsis der Römer gegenüber fremden Kulten dokumentiert, die seit dem Bacchanalienskandal festzustellen sei. In der jüdischen Gemeinde in Jerusalem habe man daraufhin das Vertrauen in die bisherige Missionsstrategie verloren und als Reaktion auf die Maßnahme der römischen Administration die eigenen Leitlinien revidiert.

Das Tagungsprogramm sollte eine multiperspektivische und abwechslungsreiche Analyse des Vertrauensverlusts in antiken Gesellschaften leisten und sich damit eines Phänomens annehmen, dessen Untersuchung für die Politik, Mentalität und Kultur der antiken Welt vielfältige Erkenntnisse zu liefern imstande ist. Deshalb lag der Tagung kein verbindlicher theoretischer Zugang zugrunde, vielmehr wurde eine ergebnisoffene, intensive Auseinandersetzung mit der Thematik angestrebt. Die Diskussionen nach den Einzelbeiträgen wie auch zum Abschluss der Konferenz bestätigten den heuristischen Mehrwert, der sich durch die Analyse von Vertrauensfragen insgesamt für die Erkenntnis antiker Gesellschaften gewinnen lässt. So zeigte sich unter anderem, dass die Resilienzfähigkeit gesellschaftlicher wie interpersonaler Systeme in Fällen erodierten Vertrauens trotz unterschiedlicher Restabilisierungsbemühungen grundsätzlich mehr oder weniger intensiv beeinträchtigt wurde. Ein Vertrauensverlust ist in diesem Zusammenhang in der Regel als Defizitdiagnose ex post festzustellen und häufig nicht aus der Perspektive der unmittelbar beteiligten Akteure zu bestätigen. Dies ist einerseits auf den Fokus der überlieferten antiken Quellen zurückzuführen, die fehlendes oder mangelndes Vertrauen als Erklärungsansatz für vielfältige Entwicklungen einsetzten. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass unter Umständen literarische Repräsentation und Intentionen der Autoren erheblich von der historischen Realität divergieren können. Mithin ist also die Frage nach verlorenem Vertrauen immer auch an individuelle Wahrnehmungen gekoppelt. Allerdings deutet auch die Existenz spezifischer Narrative sehr wohl auf bestimmte kulturspezifische Wahrnehmungsweisen und Deutungsmuster hin, die in Krisenzeiten und im Bericht über diese fern der Ebene der Literarizität Bezüge zum historischen Kontext aufweisen. Eine methodische Herausforderung stellt dabei in manchen Fällen bereits die Frage dar, ob der konstatierte Vertrauensverlust als punktuelles oder aber prozesshaftes Phänomen bei der Analyse zu fassen ist. Insgesamt lässt sich daher festhalten, dass ausgehend von den Ergebnissen der Tagung die Untersuchung der Vertrauensthematik in antiken Gesellschaften, insbesondere aber das Phänomen des Vertrauensverlusts, ein lohnendes Feld für weitere Forschungsvorhaben darstellen dürfte. Erste wichtige Impulse in diesem Bereich dürften daher von dem zur Konferenz erscheinenden Tagungsband ausgehen.

Konferenzübersicht:

Frank Görne (Gießen) / Isabelle Künzer (Gießen): Begrüßung und thematische Einführung

Keynote:
Moderation: Isabelle Künzer (Gießen)

Jan Timmer (Bonn): Zu viel vertraut? Enttäuschung und Bedauern am Ende der römischen Republik

Sektion 1 – Konzeptionen des Vertrauens in Griechenland und Rom
Moderation: Philipp Brockkötter (Gießen)

Sven Günther (Changchun): Vertrauen als Diskurskategorie in Xenophons Œuvre

Markus Kersten (Basel): Vertrauen und Verbrechen. fides in der Tradition der römischen Epik

Sektion 2 – Misstrauen statt Vertrauen
Moderation: Karen Piepenbrink (Gießen)

Stefan Brenne (Gießen): Verschwörungstheorie und Diffamierung. Politische Manipulation im Athen des 5. Jh. v. Chr. – entfallen

Christopher Degelmann (Berlin): Das Gegenteil von Vertrauen – Gerüchte im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr.

Babett Edelmann-Singer (München): Neros Machtverlust als Vertrauensverlust: Zur literarischen Konstruktion einer Vertrauenskrise am Kaiserhof im frühen Prinzipat

Sektion 3 – Vertrauensverlust und Herrschaft
Moderation: Stefan Fraß (Bochum / Gießen)

Sven-Philipp Brandt (Göttingen): Der oligarchische Umsturz von 411 v. Chr. – eine Folge der Abhängigkeit Athens vom laurischen Silber

Fabian Knopf (Braunschweig): Die Krise der römischen Republik als Vertrauenskrise – Die Infragestellung des aristokratischen Herrschaftsanspruchs durch die Plebs

Katarina Nebelin (Rostock): Der Marsch auf Rom und die Vertrauensverlagerungen in der späten Republik

Tim Helmke (Osnabrück): Römische Herrschaftsideologie und Vertrauen bei Valerius Maximus

Sektion 4 – Vertrauenskrisen als Herausforderung
Moderation: Peter von Möllendorff (Gießen)

Christoffer J. Diedrich (Münster): Innerelitärer Vertrauensverlust und Vertrauenskrisen als Impulsgeber für politischen Wandel im archaischen Griechenland – entfallen

Darja Šterbenc Erker (Berlin): Schwinden des Vertrauens zu den Göttern in der römischen Literatur. Varros „Antiquitates rerum divinarum“ und Ovids „Metamorphosen“

Matthias Schmidt (Gießen): Das Claudius-Edikt und das verlorene Vertrauen der Jerusalemer Gemeinde in die Missionsarbeit des Apostels Paulus

Abschlussdiskussion
Moderation: Elisabeth Engler-Starck (Gießen) / Frank Görne (Gießen)

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Martin Endreß, Vertrauenskrisen und Vertrauensverluste, in: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie 51 (2010), S. 27–40, hier S. 31.
2 Zu potentiellen Surrogaten und Kompensaten von Vertrauen vgl. Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 5. Aufl. Konstanz/München 2014, S. 92–102; Diego Gambetta, Können wir dem Vertrauen vertrauen?, in: Martin Hartmann/Claus Offe (Hrsgg.), Vertrauen. Die Grundlage sozialen Zusammenhalts, Frankfurt a. M./New York 2011 (Theorie und Gesellschaft 50), S. 204–237, hier S. 214–217.


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