Musikgeschichte auf der Bühne / Performing Music History

Musikgeschichte auf der Bühne / Performing Music History

Organisatoren
Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Musikgeschichte auf der Bühne“
Ort
Oldenburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.05.2019 - 11.05.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Christine Fornoff-Petrowski, Institut für Musik, Universität Oldenburg

Die Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Musikgeschichte auf der Bühne“ (Leitung: ANNA LANGENBRUCH, Wissenschaftliche MitarbeiterInnen: Daniel Samaga, Clémence Schupp-Maurer) widmet sich der Frage, wie Musikgeschichte im Bühnenereignis vermittelt wird. Bei der Tagung präsentierte die Gruppe erste Forschungsergebnisse und stellte die bisherigen Erkenntnisse zur Diskussion. Die Referate zeigten im Verlauf der drei Tage, wie weit das Spektrum möglicher Fragen an das Thema ist, wie vielfältig die konkreten Forschungsgegenstände sind und welche interessanten neuen Perspektiven auf das Material das Projekt bietet beziehungsweise wie anschlussfähig dieses auch für andere Forschungen ist.

Das erste Panel beschäftigte sich mit performativen Zugängen zur Musikgeschichtsschreibung. Als Einstieg stellte ANNA LANGENBRUCH (Oldenburg) ihr Verständnis von Musikgeschichtstheater vor und erläuterte u. a. am Beispiel der Oper Faustina Hasse oder Das Concert auf dem Königstein (Musik: Louis Schubert, Libretto: Gustav Raeder) ihre Herangehensweise an die Thematik. Im Anschluss beschäftigte sich SARAH MAUKSCH (Frankfurt am Main) mit der Installation Die Enzyklopädie des Professor Glaçon des Künstlers François Sarhan im Rahmen der Donaueschinger Musiktage 2011. Anhand von Mauricio Kagels Oper Aus Deutschland. Eine Liederoper und Hans Neuenfels‘ Inszenierung Schumann, Schubert und der Schnee widmete sich LARS OBERHAUS (Oldenburg) dem Komponisten Franz Schubert als Bühnenfigur, der Darstellung von Kunstliedern auf der Bühne und einer Reflexion der Vermittlung von Kunstliedern in Schulbüchern. Am Ende des Panels zeigte GREGOR HERZFELD (Wien) Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Darstellung von Künstlerbiografien in aktuellen Musical-Produktionen am Beispiel der Figuren Elvis Presley und Wolfgang Amadeus Mozart auf. So stellte er zunächst allgemein ein popkulturelles Bedürfnis nach Geschichte fest. Während aber in Mozart-Musicals hauptsächlich klischierte biographische Narrative zum Tragen kämen und wenig Musik des Komponisten zu hören sei, seien die Elvis-Darstellungen stärker erlebnisorientiert performativ gestaltet.

Im zweiten Panel „Klang-Narrative“ ging es um die Vermittlung von Musikgeschichte im Medium des Klangs. Hier ging BARBARA EICHNER (Oxford) der Frage nach, ob sich religiöse Riten und Gesänge in Opern des 19. Jahrhunderts an historischen Grundlagen orientierten und inwiefern in den Kompositionen zeitgenössische kunstbezogene Praktiken beziehungsweise Einschränkungen wie die Zensur deutlich werden. Im anschließenden Vortrag zeigte NILS GROSCH (Salzburg), wie Kurt Weill in seinem Musical Love Life durch die anachronistische Form des Vaudevilles und durch stilistische historische Markierungen innerhalb der Komposition auf (Musik-)Geschichte verweist. Anschließend stellte VOLKER SCHINDEL (Oldenburg) dar, wie der Komponist John Cage mit seiner Meta-Oper Europeras, bestehend aus Ausschnitten verschiedener europäischer Opern, Fragen in Bezug auf Musikgeschichte aufwirft. So lade er zum Beispiel das Publikum selbst in einem intertextuellen Spiel zur Konstruktion (Wortspiel „your operas“) ein, löse dabei die einzelnen Opern einerseits vom Kontext der Musikgeschichte, knüpfe aber wiederum andererseits an das Vorwissen des Publikums an. Zuletzt beschrieb CAROLIN STAHRENBERG (Berlin) anhand zweier Musicals des Komponisten John Kander, wie einerseits Musikgeschichte im Musical erzählt und erinnert wird (Cabaret) und wie andererseits Musikgeschichte durch das Aufgreifen und Zitieren des historischen und hochgradig rassistischen Genres der Minstrel Show selbst zur Erzählform werden kann (The Scottsboro Boys). Die für die Keynote geladene KARIN BIJSTERVELD (Maastricht) war verhindert.

Panel 3 befasste sich mit Künstler/innenbildern. FLORIAN AMORT (Wien) beschäftigte sich mit der Erinnerungswürdigkeit des Komponisten Domenico Cimarosa und beschrieb, welches Bild des Komponisten beziehungsweise welche Geniekonzeption in Nicolas Isouards Opéra comique Cimarosa transportiert wird. Dann griff CHRISTINA RICHTER-IBÁÑEZ (Tübingen) ein bereits am Vortag angeschnittenes Thema auf und setzte sich u. a. damit auseinander, inwiefern Maurico Kagels Oper Aus Deutschland. Eine Liederoper auch als Kommentar der Rezeptionsgeschichte zu verstehen ist. Im anschließenden Referat über das japanische, auf einem Manga beruhende Musical Mademoiselle Mozart zeigte AKIKO YAMADA (Wien) eindrücklich, wie wichtig Kenntnisse des kulturellen Hintergrunds von Musikgeschichtstheater sind, um seine Zeichen zu lesen und seine Inhalte zu verstehen. So stellte sie das japanische Konzept der „männlich verkleideten Schönheit“ vor und wies darauf hin, dass die japanische Genie-Konzeption im Gegensatz zur westlichen Vorstellung nicht geschlechtsbezogen ist, sondern eher auf Exzeptionalität und Jugendlichkeit beruht. Zuletzt stellte CLÉMENCE SCHUPP-MAURER (Oldenburg) einen Ausschnitt ihres Teilprojekts der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe – „Musikgeschichte im populären Musiktheater ab 1970“ – vor und beschäftigte sich mit der Figur der Irmgard Knef des Darstellers Ulrich Michael Heissig. Schupp-Maurer führte aus, wie einerseits durch das Spiel mit der fiktiven Schwester Hildegard Knefs deren Geschichte erzählt wird, andererseits aber Fiktion und Realität für das Publikum verschwimmen, wenn die tatsächliche Existenz der Knef-Schwester angenommen wird.

Als Einstieg in das vierte Panel zum Thema Musikgeschichtstheater als Gegenwartsdiagnose berichtete VERA GRUND (Detmold/Paderborn) am Beispiel von Benedetto Marcellos L'Opera in comedia über das venezianische Musiktheater. Im Anschluss daran beschrieb PATRICK MERTENS (Heidelberg) das Musical Blondel von Tim Rice und Stephen Oliver und wies auf dessen zeitgeschichtliche politische Aussagen hin, zum Beispiel in Zusammenhang mit Margaret Thatcher. MARIO DUNKEL (Oldenburg) referierte über Musikgeschichte in der außenpolitischen Kulturvermittlung. Zunächst leitete er die Bezeichnung „Musikgeschichtsdiplomatie“ schlüssig her und zeigte anschließend, wie durch die Präsentation von Geschichte im Rahmen musikalischer Praktiken außenpolitisch gewirkt wird.

Panel 5 trug den Übertitel „Vom Umgang mit historischem Material“. DANIEL SAMAGA (Oldenburg) – ebenfalls Mitarbeiter der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe im Teilprojekt „Mozart auf der Bühne“ – stellte seine Forschungsarbeit am Beispiel der Figur des Wunderkindes Mozart in Bühnenstücken v. a. des frühen 20. Jahrhunderts vor. SID WOLTERS-TIEDGE (Thurnau/Bayreuth) zeigte den hochreflexiven Umgang der Komponistin Lucia Ronchetti mit Musikgeschichte anhand von historischen Quellen in ihrer Oper Mise en abyme. Den Tag beschloss ein Bericht von Studierenden und Lehrenden (ANNA LANGENBRUCH, VOLKER SCHINDEL, ARNE WACHTMANN) der Forschungs- und Theaterwerkstatt „Musik im Exil“, die zurzeit an der Universität Oldenburg abgehalten wird. Er gewährte Einblick in den künstlerischen und wissenschaftlichen Produktionsprozess eines Musikgeschichtstheaterstückes.

Das letzte Panel mit dem Schwerpunkt „Inszenierung und/als Geschichte“ eröffnete KADJA GRÖNKE (Oldenburg/Bremen) mit ihrem Vortrag über Stefan Herheims Inszenierung von Tschaikowskys Pique Dame. Sehr eindrücklich wurde hier die Verhandlung musikgeschichtlicher Elemente (z. B. Künstlerbilder, biographische Details zum Komponisten) anhand der Inszenierung durch die Integration der Figur des Komponisten Tschaikowsky in die Bühnenhandlung dargestellt. Einen ganz neuen Impuls gab anschließend JENS ROSELT (Hildesheim), indem er das Potential der Geschichtsvermittlung durch die Kostüme auf der Opernbühne beleuchtete. Da der vorletzte Vortrag von GESA ZUR NIEDEN (Greifswald/Hannover) ausfiel, schloss sich direkt das Referat von JANKE KLOK (Berlin) an. Sie stellte ihr interdisziplinäres und gemeinsam mit Lena Haselmann und Lilli Mittner geleitetes, spannendes Projekt zur dramatischen Montage als wissenschaftliche Methode vor, das zum Abschluss der Tagung neue Räume für die akademische und künstlerische bühnenpraktische Herangehensweise an Quellenmaterial öffnete.

In der Abschlussdiskussion zeigte sich, wie produktiv die Tagung gewesen ist. Es wurden verschiedene Beobachtungen artikuliert, wie die, dass Musikgeschichte im Musiktheater sehr häufig entlang der Biographien berühmter (männlicher) Figuren der Musikgeschichte gezeichnet wird, oder aber, dass sich Motive, Metaphern und Symbole wie die Verwendung eines Federkiels zur Komposition, bestimmte Geschlechter- und Künstlerbilder gleichsam durch die unterschiedlichsten Formen von Musiktheater ziehen. Nicht zuletzt wurde die Frage in den Raum gestellt, wo Musikgeschichtstheater beginnt und wo es aufhört. Alles in allem war es eine sehr anregende und vielfältige Tagung, die neugierig macht auf die Forschungsergebnisse der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe.

Konferenzübersicht

Panel 1: Performative Zugänge zur Musikgeschichtsschreibung

Anna Langenbruch (Oldenburg): Musikgeschichtstheater: Zur performativen Auseinandersetzung mit Musikgeschichte

Sarah Mauksch (Frankfurt am Main): Von „begehbaren Enzyklopädien“ und „Wunderkammern des Wissens“ – Ortsspezifische Musiktheater- und Konzertinstallationen von François Sarhan

Lars Oberhaus (Oldenburg): Kunstlieder auf der Bühne?! Zur dramaturgisch-performativen Inszenierung von Liedern bei Kagel und Neuenfels

Gregor Herzfeld (Wien): Mozart und Elvis – Musikgeschichtliche Narrationen in aktuellen Musical-Biografien

Panel 2: Klang-Narrative

Barbara Eichner (Oxford): Pilgerchöre und Nonnenballett: Religiöse Riten und Gesänge auf der Opernbühne des 19. Jahrhunderts

Nils Grosch (Salzburg): Musikgeschichte als Dramaturgie: Kurt Weills Love Life als historisches Pastiche

Volker Schindel (Oldenburg): „Alles ist getrennt, überhaupt alles von allem“. Nicht-narrative Strategien der Verhandlung von Musik(theater)geschichte auf der Bühne: Europeras von John Cage

Carolin Stahrenberg (Berlin): „Bleibe, reste, stay“ – Historische Soundscapes und die Vergegenwärtigung (nicht nur) musikalischer Vergangenheiten im Broadwaymusical

Karin Bijsterveld (Maastricht): Sonic Skills in the Sciences and in the Staging of Music History (ausgefallen, wird im Tagungsband abgedruckt)

Panel 3: Künstler*innenbilder

Florian Amort (Wien): „Il est par son génie / L’honneur de l’Italie“. Nicolas Isouards Opéra comique Cimarosa und das Bild des Opernkomponisten um 1800

Christina Richter-Ibáñez (Tübingen): „Vergiftet sind meine Lieder“. Franz Schubert auf der Bühne in Mauricio Kagels Aus Deutschland. Eine Liederoper

Akiko Yamada (Wien): Mademoiselle Mozart – das Musical in Japan

Clémence Schupp-Maurer (Oldenburg): „Ich hab noch einen Trolley in Shanghai“: Irmgard Knef, ein Spiel mit Chansongeschichte und Geschlechteridentitäten

Panel 4: Musikgeschichtstheater als Gegenwartsdiagnose

Vera Grund (Detmold/Paderborn): „Buon gusto de’Grecheggianti“ – Historismus, Kulturkritik und der venezianische Musiktheaterbetrieb

Patrick Mertens (Heidelberg): Blondel – Vom Minnesänger zum Musical-Popstar

Mario Dunkel (Oldenburg): Musikgeschichtsdiplomatie: Darstellungen von Musikgeschichte als Auswärtige Kulturpolitik

Panel 5: Vom Umgang mit historischem Material

Daniel Samaga (Oldenburg): „… eine wirkliche Begebenheit aus dem Leben des jungen Mozart“ – Zur Authentizität des Anekdotischen in Stücken über W. A. Mozarts Kindheit

Sid Wolters-Tiedge (Thurnau/Bayreuth): Spiegel im Spiegel – Metastasio in Lucia Ronchettis :Mise en abyme (2014)

Studierende und Lehrende der Forschungs- und Theaterwerkstatt „Musik im Exil“ (Oldenburg): Aus der Werkstatt: Geschichten von Musiker*innen im Exil

Panel 6: Inszenierung und/als Geschichte

Kadja Grönke (Oldenburg/Bremen): Der Komponist als Bühnenfigur in Stefan Herheims Inszenierung von Tschaikowskys Pique Dame

Jens Roselt (Hildesheim): „Meck! Meck! Meck!“: Historische und historisierende Kostüme auf der Opernbühne am Beispiel von Barrie Koskys Meistersinger-Inszenierung

Gesa zur Nieden (Greifswald/Hannover): Nicht hinter der Note, sondern die Note selbst: Richard Wagner als Hans Sachs in Barrie Koskys Inszenierung von Die Meistersinger für die Bayreuther Festspiele 2017 (ausgefallen, wird im Tagungsband abgedruckt)

Janke Klok (Berlin), Lena Haselmann (Saarbrücken), Lilli Mittner (Tromsø): Dramatische Montage als wissenschaftliche Methode? Zur Performanz historischer Quellen