Konzepte für ein „anderes“ Europa im 20. und 21. Jahrhundert / Les conceptions divergentes de l'intégration européenne au XXe et au XXIe siècles au prisme de l'interdisciplinaire

Von
Isabell Scheele, Département d'études germaniques, Université de Lille

Bei der Tagung wurden gegenwärtige und vergangene Konzepte für ein „anderes“ Europa untersucht; Visionen, die in Konkurrenz zur Institutionalisierung der EU stehen, für eine europäische Gemeinschaft, die zum Beispiel postnational wäre oder eine andere politisch-ideologische Ausrichtung hätte. Die Originalität der Tagung bestand darin, dass sie weniger Gegnerschaft und Skepsis gegenüber der EU, sondern vor allem Konzepte für eine alternative europäische Gemeinschaft behandelt hat.

Die beiden ersten Panels widmeten sich institutionellen Gesichtspunkten, insbesondere Konzepten für postnationale Strukturen, zuerst aus historischer, dann aus aktueller Perspektive. QUENTIN LOÏEZ (Lille) verglich zwei Projekte einer europäischen Verteidigung, einerseits die 1954 abgelehnte Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), andererseits die heutige Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Er stellte heraus, dass das EVG-Projekt viel ambitionierter war, da es im Gegensatz zur GSVP eigene, direkt der EU unterstehende Truppen sowie ein eigenes jährliches Budget vorsah. Im Anschluss daran untersuchte VICTOR JAESCHKE (Potsdam) die britischen und deutschen Reaktionen auf den ebenfalls abgelehnten sogenannten Spinelli-Entwurf von 1984. Das föderalistische Projekt galt seinen Befürwortern als europapolitische Revolution, als Zwischenschritt zu den Vereinigten Staaten von Europa. Jaeschke verteidigte die These, dass der Entwurf durchaus ernst genommen wurde und trotz seiner Ablehnung zu einer Diskursverschiebung beigetragen hat, die den Weg für die Gründung der Europäischen Union 1992 ebnete.

DOMINIQUE HERBET (Lille) fokussierte in einer diskurs- und presseanalytischen Herangehensweise auf das Jahr 2012, insbesondere auf die Attribuierung des Friedensnobelpreises an die EU und ihre Bewertung in der deutschen Presse. Dabei skizzierte sie verschiedene Haltungen, von den als „europhorisch“ bezeichneten Verteidigern einer „postnationalen Revolution“ (Cohn-Bendit / Verhofstadt) bis hin zur Kritik der Linkspartei am Friedensnobelpreis für die EU. SIMON PERSICO (Grenoble) schließlich fragte bewusst provokativ, ob es in den europäischen Regierungsinstanzen überhaupt Möglichkeiten einer politischen Alternative gebe, ob also dieser Grundpfeiler des demokratischen Systems in der EU faktisch oder nur auf dem Papier existiere. Tatsächlich haben die Parteien EVP und SPE, die seit jeher eine große Koalition im Europaparlament bilden, dieses Jahr erstmals ihre Mehrheit verloren. Davon ausgehend untersuchte Persico, inwiefern die Diversifizierung der Wahlergebnisse den Oppositionsparteien im Europaparlament neue Möglichkeiten der politischen Teilnahme eröffnen könnte.

Das dritte Panel befasste sich mit künstlerischen und literarischen Entwürfen zu einem „anderen“ Europa. LENA WETENKAMP (Mainz), die ihren Vortrag ohne ihren verhinderten Kollegen Christian Luckscheiter beitrug, behandelte die Zeitschrift Neue Rundschau als ein Forum für intellektuellen Austausch über den europäischen Einigungsgedanken. Anhand der stark unterschiedlichen Europa-Entwürfe in der Neuen Rundschau entwarf sie einen Überblick der intellektuellen Debatten zur europäischen Einigung in der Zwischenkriegszeit, mit Autoren wie Otto Flake und Coudenhove-Kalergi. Den ersten Tag schloss AMELIE MUSSACK (Freiburg i. Br.) mit ihrem Beitrag zu Paul Scheerbarts Gedanken über eine geistige Erneuerung Europas. In seinen theoretischen Schriften äußerte Scheerbart die Hoffnung, dass ein Wandel der Architektur mittels der massiven Verwendung von Glasmaterialien einen kulturellen Wandel, ja eine europäische Geistesrevolution herbeiführen könnte.

Der nächste Tag begann mit einer Gegenüberstellung von kommunistischen und (anti)faschistischen Projekten für Europa (Panels 4 und 5). NICOLAS AZAM (Paris) untersuchte das Verhältnis der französischen kommunistischen Partei PCF zum europäischen Einigungswerk. Die Partei entwickelte sich von einem harten zu einem moderaten Euroskeptizismus; so assoziierte sie die Einigung in den 1950-er Jahren hauptsächlich mit der Teilung Europas vor dem Hintergrund des Kalten Krieges; erst Ende der 1990-er Jahre interessierte sie sich näher für die EU und richtete eine eigene Europa-Kommission ein. ULRICH PFEIL (Metz) erforschte einen komplementären Aspekt, den Eurokommunismus, und fokussierte dabei auf die französische PCF und die ostdeutsche SED. Der Eurokommunismus entwickelte sich in Westeuropa in den 1960-er und 70-er Jahren als Reaktion auf die sowjetische Repression, insbesondere im Kontext des Prager Frühlings. Er wurde von der SED (und auch von der Sowjetunion) als Bedrohung wahrgenommen, spätestens dann, als die PCF auf den Slogan „Diktatur des Proletariats“ verzichtete, um einen demokratischen Weg zum Sozialismus zu suchen.

NADINE TAUCHNER (Leicester) behandelte die faschistischen Europaprojekte des österreichischen Journalisten Otto Schulmeister, der zwar kein Nationalsozialist war, aber trotzdem für ein vereintes Europa unter deutscher (sowie christlicher) Vorherrschaft eintrat. Anhand dieser Fallstudie betrachtete sie, wie verschiedene Europa-Konzepte der Zwischenkriegszeit benutzt wurden, um faschistische Expansionspläne zu rechtfertigen, aber auch um nach 1945 die Wiedereingliederung in das demokratische Europa zu fördern. SILVIA MADOTTO (Berlin) behandelte die Zukunftspläne für ein faschismusfreies Europa, die von transnationalen Netzwerken des Widerstands gegen den Faschismus und Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieges diskutiert wurden, insbesondere an verschiedenen Universitäten. Da der Faschismus antieuropäisch sei, müsse das geeinte Europa antifaschistisch sein, so lautete die Losung, und in diesen Netzwerken wurde auch eine Gruppe namens Europäische Union gegründet. HELMUT FEHR (Berlin) schließlich analysierte die Veränderungen im Europa-Diskurs mehrerer osteuropäischer Spitzenpolitiker nach 1989, insbesondere in Polen und Ungarn. Mit ihrer antiliberalen Haltung, der Wiederbelebung von ethnischen Selbstbildern und einer Tendenz zur Re-Nationalisierung beanspruchen manche politischen Eliten (Morawiecki, Orbán), ein strategisches Gegengewicht zur deutsch-französischen Zusammenarbeit zu bilden, ja eine Avantgarde-Rolle für ein anderes Europa zu spielen.

Im sechsten Panel wurden die soziale und die neoliberale Komponente der europäischen Gemeinschaft diskutiert. LAURENT WARLOUZET (Boulogne-sur-Mer) präsentierte einen Überblick über vier Interpretationsraster der europäischen Wirtschaftspolitik, die seit den 1970-er Jahren aufeinander folgten: Das Konzept eines sozialen Europas wurde durch eine neomerkantilistische Komponente ergänzt, dann aber durch ein marktorientiertes und schließlich, in den 1980-er Jahren, durch seine radikalere Variante, eine neoliberale bzw. ultraliberale Ausrichtung abgelöst. KARIM FERTIKH (Straßburg) behandelte in seinem Vortrag das Konzept des „Sozialen Europas“ und dessen Vorgeschichte, das Europa der Arbeiter, indem er, ausgehend vom europäischen Sozialrecht, verschiedene als sozial betrachtete Pläne und Projekte der 1940-er bis 70-er Jahre erforschte. Er erinnerte außerdem daran, dass man weder die europäischen Verträge noch den Einigungsprozess insgesamt teleologisch aus heutiger Perspektive interpretieren darf; in den 1950-er Jahren stand völlig offen, wie das zukünftige Europa aussehen würde. YOHANN MORIVAL (Lille) schließlich beschäftigte sich mit dem Europadiskurs des französischen Arbeitgeberverbandes (CNPF, später MEDEF). Auch dieser unterlief einen radikalen Wandel, von einer skeptischen Haltung in der frühen Phase des Einigungsprozesses bis hin zum überzeugt pro-europäischen Diskurs. Dieser Wandel ist eng mit dem Einzug der (neo)liberalen Theorien in den französischen Arbeitgeberverband verbunden. Bis in die 1980-er Jahre hatte dieser Vorbehalte gegenüber manchen als zu liberal geltenden Ländern wie England und Holland, seitdem aber erscheint die EU als ein Mittel, die neoliberalen Tendenzen auch in Frankreich durchzusetzen.

Auch im letzten, den Intellektuellen gewidmeten Panel wurden liberale Theorien in Bezug auf die europäische Einigung diskutiert. LAURENT STEVENY (Lille) verteidigte die Ansicht, der zufolge die EU nicht liberal im Sinne von Friedrich Hayek sei, da der Wirtschaftstheoretiker zum Beispiel gegen Lobbyismus Stellung nahm. Dem gegenüber interessierte NICOLAS DESSAUX (Lille) sich für Karl Marx' Reflexionen zu Europa. Für den Philosophen, der einen erstaunlich internationalen und europäischen Lebenslauf hatte, war die deutsche Einheit dringender als die europäische. Die marxsche Haltung zum europäischen Einigungsgedanken ist komplex, sein Schüler Karl Kautsky hingegen trat schon früh für die Vereinigten Staaten von Europa ein.

Die Ergebnisse der Tagung waren hauptsächlich folgende: Erstens, sollte daran erinnert werden, dass der Einigungsprozess kein lineares Projekt war, sondern von Anfang an vielen Schwankungen, Skepsis und auch Gegnerschaft unterworfen war; die Historizität der Stellungnahmen zu Europa zeigen; untersuchen, wie verschiedene politische und intellektuelle Strömungen sich den Einigungsgedanken angeeignet haben, ferner die divergierenden Europa-Strategien und Zeitpläne der verschiedenen Akteure aufzeichnen; Zweitens sollten die gescheiterten Projekte und „ungeschehenen“ Konzepte in den Blick nehmen; eine Sozialgeschichte des „politischen Scheiterns“ versuchen; die gescheiterten Konzepte studieren, um die Topographie der Machtverhältnisse zu beleuchten; erforschen, ob die alternativen Projekte an sich unrealistisch oder wegen des historischen Kontextes zum Scheitern verurteilt waren; drittens sollte das „andere Europa“ verwendet werden, um die EU selbst besser zu verstehen; der Frage nachgehen, wie auch kritische Projekte und ablehnende Haltungen zum Einigungsprozess beigetragen haben. Aber um dabei nicht in die Falle einer anachronistischen Betrachtung zu treten (also Europa-Konzepte rückblickend mit einer noch nicht existierenden europäischen Gemeinschaft in Bezug setzen), haben die Beiträger besonders darauf geachtet, die präsentierten Europa-Konzepte in ihren jeweiligen historisch-politischen Kontext zu stellen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung
Isabell Scheele (Lille) / Rafaël Cos (Lille) / Dominique Herbet (Lille)

1. Panel: Ein postnationales Europa? Institutionelle Perspektiven seit den 1950-er Jahren / Une Europe post-nationale? Perspectives institutionnelles depuis les années 1950
Moderation: Isabell Scheele (Lille)

Quentin Loїez (Lille / Liège): La Communauté Européenne de Défense comme contre-modèle

Victor Jaeschke (Potsdam): Towards an „excessively centralist community“? Reactions to the European Parliament’s 1984 Draft Treaty establishing the European Union in Great Britain and Germany

2. Panel: Ein postnationales Europa? Institutionelle Perspektiven heute / Une Europe post-nationale? Perspectives institutionnelles aujourd'hui
Moderation: Pauline Ravinet

Dominique Herbet (Lille): « Europhoriques » vs « Eurosceptiques » : l'année 2012, du Manifeste pour une révolution post-nationale au prix Nobel de la Paix pour l'UE

Simon Persico (Grenoble): Pile je perds, face tu gagnes ! À quoi servent les élections européennes pour les partis souhaitant une autre Europe ?

3. Panel: Andere Europavisionen in Literatur und Kunst / Les „autres Europes“ dans les expressions artistiques
Moderation: Marie Brunhes

Lena Wetenkamp (Mainz): Heterogene Europa-Entwürfe in der Neuen Rundschau / Des projets hétérogènes pour une intégration européenne dans la revue Neue Rundschau

Amélie Mussack (Freiburg im Breisgau): „Murx den Europäer. Murx ihn.“ – Paul Scheerbart's Conception of a New European Spirit Through (Glass-)Architecture

4. Panel: Ein kommunistisches Europa / Une Europe communiste ?
Moderation: Rémi Lefebvre

Nicolas Azam (CESSP, Paris): Le PCF et l'Europe

Ulrich Pfeil (Université de Lorraine, Metz): L’eurocommunisme en Allemagne et les réactions du SED à l’eurocommunisme en France

5. Panel: Ein faschistisches Europa / Une Europe fasciste ?
Moderation: Martin Kloza

Nadine Tauchner (Leicester): Lord’s Kingdom, German Reich, European Empire- Exploiting and Re-Shaping the Idea of a Inited Europe Before, During and After National Socialism

Silvia Madotto (FU Berlin): Overtaking National Borders. Concepts of Europe in the Plans of Academics in Resistance Against Fascism (1939-1945)

Helmut Fehr (Berlin): „Rückkehr nach (Ost-)Europa“ – Vergangenheit als Zukunft der EU? / « Retour en Europe (de l'Est) » – le passé est-il l'avenir de l'UE ?

6. Panel: Neoliberale und soziale Visionen für Europa / L'Europe néo-libérale vs. l'Europe des travailleurs
Moderation: Rafaël COS

Karim Fertikh (Straßburg): Faire « l'Europe des travailleurs » : une sociologie d'un mot d'ordre de l'action publique transnationale (années 1940 - années 1970)

Laurent Warlouzet (Université du Littoral Côte d’Opale, Boulogne-sur-mer): Europe sociale vs Europe néolibérale : l'Union européenne depuis 1957

Yohann Morival (Lille): D'une vision patronale de l'Europe à une autre. L'évolution des conceptions de l'intégration européenne au sein du patronat organisé français depuis 1948

7. Panel: Das Europa der Intellektuellen / L’Europe des intellectuels
Moderation: Andrée Lerousseau

Laurent Steveny (Lille): L’UE à la lumière de la philosophie économique de Hayek

Nicolas Dessaux (Lille): Europe et mouvement ouvrier chez Karl Marx