Sowjetische Kriegsgefangene in archivalischer Überlieferung. Erster Workshop zur Geschichte, Überlieferung und Nachwirkung des Stalag 326 (VI K) Senne

Sowjetische Kriegsgefangene in archivalischer Überlieferung. Erster Workshop zur Geschichte, Überlieferung und Nachwirkung des Stalag 326 (VI K) Senne

Organisatoren
Oliver Nickel / Jens Hecker, Gedenkstätte Stalag 326 (VI K) Senne; Malte Thießen, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte; Burkhard Beyer, Historische Kommission für Westfalen (LWL); Peter Fäßler, Historisches Institut der Universität Paderborn; Andreas Neuwöhner, Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abt. Paderborn
Ort
Detmold
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.07.2019 -
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Von
Niklas Regenbrecht, Paderborn

Den Auftakt zu einer Reihe geplanter Workshops zur Geschichte des „Stalag 326 (VI K) Senne“ in Stukenbrock-Senne bei Paderborn setzte eine Veranstaltung zur archivalischen Überlieferung in Bezug auf die inhaftierten sowjetischen Kriegsgefangenen. Schon bei der Begrüßung wurde deutlich, dass man bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte eines der größten Lagers für sowjetische Kriegsgefangene während des Zweiten Weltkrieges keinesfalls „bei Null“ anfange. Für eine geplante neue Dauerausstellung sei es jedoch an der Zeit, den Forschungsstand zu rekapitulieren, vor allem was neu zugängliche Archivbestände anginge. Zu diesem Zwecke stellte man einen Überblick über die Überlieferungssituation an den Beginn der Tagungsreihe. Die Sektionen waren dementsprechend nach den Orten der Aktenüberlieferung gegliedert.

In der ersten von PETER FÄSSLER (Paderborn) moderierten Sektion über Wirtschaftsarchive stand die Zwangsarbeit, vor allem im Ruhrgebiet, im Vordergrund. Dort kamen auch in Senne inhaftierte Gefangene zum Einsatz. Dabei wurde den Fragen nach der Alltagspraxis der Zwangsarbeiter und der Situation in den Unternehmen besondere Wichtigkeit zugemessen.

Zunächst jedoch lieferte ROLF KELLER (Celle) einen Quellenüberblick für Niedersachsen. Das Material sei an verschiedensten, zum Teil entlegenen, Stellen zu finden, fragmentiert und disparat. Aus diesem Grunde habe man für die niedersächsischen Gedenkstätten sämtliche Funde in einer fortlaufenden Datenbank zugänglich gemacht.

STEFAN PRZIGODA (Bochum) stellte die Bestände im Bergbauarchiv des Montanhistorischen Dokumentationszentrums vor, wobei er vor allem zwischen den Überlieferungen der Unternehmen und der Verbände unterschied. Innerhalb der Unternehmensüberlieferung seien vor allem Quellen der Führungsebene für die Erforschung der übergeordneten Fragestellungen und Strukturen von Zwangsarbeit zu verwenden. Die Sachakten der untergeordneten Stellen böten hingegen Einblick in die konkreten Lebensverhältnisse der Zwangsarbeiter, wie etwa zu den Bereichen Lebensmittelversorgung oder Flucht. Anhand der Überlieferung der Verbände können beispielsweise Einblicke in das Gegeneinander von rassischer Politik und wirtschaftlichen Interessen gewonnen werden. Die Makroebene und die Strukturen der Zwangsarbeit seien für den Ruhrkohlebergbau und einzelne Unternehmen mittlerweile gut erforscht. Dabei habe sich gezeigt, dass erhebliche Spielräume bei der Ausgestaltung der Zwangsarbeit existierten. Neue Mikrostudien seien jedoch zur Differenzierung weiterhin sinnvoll.

Im Vortrag von DANIEL DROSTE (Essen) wurde das weiter konkretisiert. Er umriss die Ausgestaltung der Zwangsarbeit in der größten Rüstungsfirma des Dritten Reiches. Auch im Unternehmensarchiv Krupp sei die Überlieferung zu den sowjetischen Kriegsgefangenen fragmentarisch. Oft seien jedoch Quellen in Beständen zu finden, die auf den ersten Blick wenig mit dem Thema zu tun hätten. So etwa in den Unterlagen der juristischen Verteidiger des Unternehmens in den Nürnberger Prozessen, in den Beständen zu Wohnungs- und Barackenbau oder in Personalakten. Es besteht eine lange, zum Teil von Hindernissen geprägte, Forschungstradition zur Zwangsarbeit bei Krupp. Dabei sei die Rolle der sowjetischen Kriegsgefangenen jedoch bislang eher unterrepräsentiert.

Die zweite, von MALTE THIESSEN (Münster) moderierte Sektion widmete sich den nationalen und internationalen Archiven. Dabei ging es insbesondere um Fragen der Digitalisierung und (die Herstellung von) Zugänglichkeit zu personenbezogenen Akten.

HEIKE WINKEL (Berlin) berichtete von einem vom Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge koordinierten Datenbankprojekt, welches den Anspruch erhebt, alle relevanten Archivbestände zentral nachzuweisen, für Deutschland und auch für Russland. Das Ziel müsse sein, jedes Schicksal nachvollziehbar machen zu können. Forschungsperspektivisch sei wichtig, die Gleichzeitigkeit von Individual- und Kollektivbiographien deutlich zu machen, (Post-)Gefangenschaftsverläufe nachzuzeichnen und die Klärung historischer Grablagenverläufe zu ermöglichen.

ANDREAS GRUNWALD (Berlin) erläuterte den Anfang des Jahres 2019 erfolgten Übergang der Deutschen Dienststelle (WASt) aus der Trägerschaft des Landes Berlin in die Zuständigkeit des Bundesarchivs. Die Wehrmachtsauskunftsstelle unterliegt damit nun als „Abteilung personenbezogene Auskünfte zum Ersten und Zweiten Weltkrieg“ dem Bundesarchivgesetz, womit der Rechtsanspruch auf Zugang zu den Quellen gesichert ist. Gleichwohl überwiegen die privaten genealogischen Anfragen die wissenschaftlichen bei Weitem. Auch wenn sich der Großteil der Bestände auf deutsche Militärangehörige bezieht, existieren auch Bestände zu ausländischen Kriegsgefangenen.

Der Vortrag von HENNING BORGGRÄFE (Bad Arolsen) zeigte anhand der Bestände des seit Kurzem als Arolsen Archives firmierenden Internationalen Suchdienstes die Vorteile eines hohen Digitalisierungsgrades und der freien Verfügbarkeit von Digitalisaten im Internet. Dadurch wird die personenbezogene Recherche in den Dokumenten aus den Konzentrationslagern, in den Unterlagen zu Zwangsarbeitern und Ausländern im Dritten Reich, in jenen zu Displaced Persons oder etwa in den Filtrationsakten aus ukrainischen Archiven bedeutend vereinfacht. Eine kartenbasierte Suche birgt zudem große Vorteile für lokalgeschichtliche Ansätze.

Die von ANDREAS NEUWÖHNER (Paderborn) moderierte dritte Sektion stellte die Verortung und Vernetzung des Stalag vor Ort in den Vordergrund.

ANNETTE HENNINGS und LARS LÜKING (Detmold) stellten die disparate Quellenlage zum Stalag 326 in den Beständen des gastgebenden Landesarchivs dar. Weniger Material zum Stalag zur Kriegszeit, als vielmehr Akten zum Gedenken in der Nachkriegszeit lassen sich hier finden. Darunter fallen etwa die Unterlagen eines zivilgesellschaftlichen Arbeitskreises und persönliche Nachlässe aus diesem Umfeld. Damit war auch die zweite Geschichte des Lagers angesprochen, die Geschichte des Erinnerns seit der Nachkriegszeit, die in der Diskussion ebenfalls der Historisierung würdig angesehen wurde. Die Referenten stellten ein in Kürze online bereitstehendes sachthematisches Spezialinventar zum Stalag in Aussicht.

Auch CHRISTOPH LAUE (Herford) stellte die lokale Quellenlage vor. Spuren sowjetischer Kriegsgefangener konnte er vor allem dort ausmachen, wo jene als Zwangsarbeiter in kommunalen Diensten tätig werden mussten. Auch zeigte er am Beispiel Herfords, wie durch zivilgesellschaftliches Engagement, etwa in Geschichtswerkstätten, seit den 1980er Jahren das Schicksal dieser Opfergruppe langsam in den Blick geriet.

OLIVER NICKEL (Stukenbrock-Senne) erläuterte schließlich die Geschichte der Gedenkstätte sowie ihrer Entwicklung und gab Einblicke in deren archivalische Sammlung. Neben einer Fotosammlung, Nachlässen von Bediensteten und Befreiern, setze sich der Bestand vor allem aus zusammengetragenen Kopien und Digitalisaten aus unterschiedlichsten Archiven zusammen, die teilweise ihrer Verzeichnung harren. Zuletzt hätten Führungen und pädagogische Angebote das Alltagsgeschäft dominiert, man wünsche sich jedoch auch eine Stärkung der wissenschaftlichen Aufarbeitung.

In der Abschlussdiskussion wurde eingefordert, die Verflechtungen und die Dimensionen des Lagers in seinen Netzwerken zu untersuchen sowie Handlungsspielräume bei der Ausgestaltung von Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit zu ergründen. Daneben könne es aber auch lohnenswert sein, die Nach- bzw. Erinnerungsgeschichte zu historisieren, und etwa auch durch Zeitzeugeninterviews mit Aktivisten vor Ort rechtzeitig zu dokumentieren (Malte Thiessen). Wie REINHARD OTTO (Lemgo) bemerkte, sei es auch wichtig, einzelne Gefangenentransporte und Gruppenschicksale zu rekonstruieren, die „höhere Ebene“, also das System sämtlicher Stalag in einem Wehrkreis in den Blick zu nehmen sowie neben den sowjetischen Kriegsgefangenen nicht das Schicksal anderer Nationalitäten, wie den Serben, zu vergessen. Für die konkrete Arbeit der Gedenkstätte sei es vor allem wichtig ein Netzwerk aufzubauen, andere Stalag und benachbarte Lager, wie das Seuchenlazarett Staumühle einzubeziehen. Einbezogen werden sollen auch Angehörige der ehemaligen Häftlinge, der alliierten Befreier oder der lokalen Bevölkerung. Gerade der lokale Bezug könne helfen, das Interesse von Schülern zu wecken. Außerdem wurde der Nutzen kollaborativer Datenbankprojekte hervorgehoben, in denen etwa lokale Akteure ihr Wissen einspeisen können (Oliver Nickel).

Dieser Auftaktworkshop zeigte eine teils schwierige und disparate, teils umfangreiche und digitalisierte Quellenlage auf, diente – auf dem Weg zu einer neu zu gestaltenden Gedenkstätte – zum Austausch über anstehende Forschungsfragen und dazu, die Vernetzung der verschiedenen Akteure weiter zu befördern. Der folgende zweite von insgesamt sechs geplanten Workshops soll sich im Frühjahr 2020 vor Ort mit den baulichen Zeugnissen des Stalag 326 (VI K) Senne befassen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Andreas Neuwöhner (Paderborn) / Jens Hecker (Stukenbrock-Senne) / Oliver Nickel (Stukenbrock-Senne)

Sektion 1: Wirtschaftsarchive
Moderation: Peter Fäßler (Universität Paderborn)

Rolf Keller (Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Celle): Sporadisch, fragmentarisch, disparat. Quellen zum Arbeitseinsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen

Stefan Przigoda (Montanhistorisches Dokumentationszentrum, Bochum): Zwangsarbeit im Bergbau. Quellen und Forschungen im Montanhistorischen Dokumentationszentrum (montan.dok)

Daniel Droste (Historisches Archiv Krupp, Essen): Fremd- und Zwangsarbeiter bei der Firma Fried. Krupp. Eine archivische Bestandsaufnahme

Sektion 2: Nationale und internationale Archive
Moderation: Malte Thießen (LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster)

Heike Winkel (Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Berlin): Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene und Deportierte im Zweiten Weltkrieg – Perspektiven für historische Forschung und Erinnerungskultur

Andreas Grunwald (Bundesarchiv, Berlin): Übergang der Deutschen Dienstelle (WASt) zum Bundesarchiv: Archivbestände und Aufgaben der Abteilung Personenbezogene Auskünfte

Henning Borggräfe (Arolsen Archives, Bad Arolsen): Häftlingskarteien, Ausländersuchlisten, Todesfallermittlungen und Filtrationsakten – Quellenmaterial in den Arolsen Archives

Sektion 3: Landes- und Regionalarchive
Moderation: Andreas Neuwöhner (Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abt. Paderborn)

Annette Hennings / Lars Lüking (Landesarchiv NRW, Abt. OWL, Detmold): Quellen zum Stalag 326 und zum Sozialwerk Stukenbrock 1941–1970. Ein Überblick über die Bestände des Landesarchivs NRW, Abt. Ostwestfalen-Lippe

Christoph Laue (Kommunalarchiv Herford): Seit 1984 auf den Spuren von Zwangsarbeit und Kriegsgefangenschaft – Quellen, Forschungen und Publikationen zum Raum Herford

Oliver Nickel (Gedenkstätte Stalag 326 (VI K) Senne, Stukenbrock-Senne): Die archivalische Sammlung des Fördervereins der Gedenkstätte Stalag 326

Abschlussdiskussion

Oliver Nickel (Stukenbrock-Senne) / Reinhard Otto (Lemgo) / Malte Thießen (Münster)