Wilhelm-Wundt-Haus Grimma, Erinnerungsort der Psychologie oder ausgestellte Wissenschaftsgeschichte?

Wilhelm-Wundt-Haus Grimma, Erinnerungsort der Psychologie oder ausgestellte Wissenschaftsgeschichte?

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.06.2019 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Andreas Jüttemann, Institut für Geschichte der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Medizinhistorische Visite“ an der Berliner Charité lud das Institut für Geschichte der Medizin zu einer Tagung ein. An dem Kolloquium nahmen Wissenschaftler/innen und Studierende aus den Bereichen Psychologie und Medizingeschichte teil. Das zentrale Ziel der Zusammenkunft bestand darin, für die letzte Wohnstätte von Wilhelm Wundt in Grimma-Großbothen adäquate Nutzungsmöglichkeiten zu diskutieren.

Einleitend sprach DANIELA FINZI (Wien). Sie berichtete über die Dauerausstellung zu Leben und Werk des Psychoanalytikers Sigmund Freud in seiner ehemaligen Wohnstätte in der Berggasse 19 in Wien. In dem 1883 errichteten Gebäude entstand 1971 eine 280 qm umfassende Ausstellung, die zurzeit umgestaltet und modernisiert wird. Ursprünglich sollte die „Intimität“ eines Privathauses bewahrt werden. Diese Idee ließ sich aber nicht realisieren, weil sich die Wohnungseinrichtung, die Freud ins Londoner Exil mitnehmen durfte, im dortigen Museum befand und dort bleiben sollte. So ergab sich eine Beschränkung auf die Möglichkeit, historische Tapeten und die Garderobe zu zeigen. Erst nach längeren Verhandlungen und einer Vermittlung von Anna Freud wurde dem Wiener Museum Freuds Wartezimmer zur Verfügung gestellt.

Die in der Entstehungsgeschichte dieser Dauerausstellung zum Ausdruck kommende Problematik ähnelt der Situation im letzten Domizil Wundts in Grimma-Großbothen, weil die ursprüngliche Einrichtung des Hauses auch hier nicht mehr geschlossen vorliegt. Finzi hebt mit Blick auf die Freud’sche Wohnung hervor, dass sie wegen der genannten Schwierigkeit nicht ein „Tempel“ oder ein „archäologisches Kabinett“ werden konnte. Das Mobiliar von Freuds Wartezimmer wurde nicht nach jenen musealen Vorbildern ausgestellt, „die suggerieren sollen, der Dichter hätte das Zimmer gerade verlassen“ (Finzi). Die Authentizität des Ortes sollte dennoch bewahrt werden. Trotz des Fehlens interessanter Exponate hat sich die Wohnung in der Berggasse 19 sehr schnell zu einem vielbesuchten Erinnerungsort entwickelt. Der Charakter einer „Gedenkstätte“ ist offenkundig. Die besondere Bedeutung resultiert aus der Tatsache, dass hier der Geburtsort der Psychoanalyse zu besichtigen ist. Anzusehen sind vor allem ausgewählte Fallgeschichten und Briefwechsel. Das Museum wird von der Sigmund-Freud-Privatstiftung betrieben. Neben den Ausstellungsräumen verfügt es über einen eigenen „Wissenschaftstrakt“. Er besteht aus einer Bibliothek zum Thema Psychoanalyse und ihrer Geschichte. Ein großer Lese- und Vortragsraum ist angeschlossen. Für die Gründung der Bibliothek hatte Anna Freud Kollegen Ihres Vaters aufgerufen, Bücher zu spenden. Nach der Umgestaltung wird es auch ein Museumscafé und einen Museumsshop geben. Drei der vier Millionen Euro, die für den Umbau veranschlagt sind, tragen die Stadt Wien und die Bundesrepublik Österreich.

LISA MALICH (Lübeck) begann ihre Ausführungen mit der provokanten Frage, ob mit dem neuen Psychotherapeutengesetz nicht das Ende der Psychologie gekommen sei. Danach wendet sie sich dem Thema Psychologiegeschichte zu und hebt die 1988 erfolgte Gründung der Fachgruppe „Geschichte der Psychologie“ in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie hervor. Das Periodikum Psychologie und Geschichte erschien zum ersten Mal 1989. Wichtige Veröffentlichungen zur Psychologiegeschichte betrafen zunächst die Rolle der Psychologie im Nationalsozialismus. Im Vergleich zur Psychologiegeschichte war die Medizingeschichte schon wesentlich früher als Fachgebiet institutionalisiert worden. Seit 1970 ist Disziplingeschichte ein eigenständiges Unterrichtsfach im Medizinstudium, ab 2004 in Kombination mit dem Thema Ethik. Anders als in der Medizin spielen geschichtliche Forschungen in der Psychologie keine große Rolle. Selbst in der Lehre wird darauf nur selten Bezug genommen. Zu historischen Fragestellungen äußern sich auch nur wenige Autor/innen, die bei der Veröffentlichung von Aufsätzen auf das gleiche Problem stoßen wie die Medizinhistoriker. Geschichtliche Artikel finden in mit Impact-Faktoren bewerteten Fachzeitschriften keinen Platz, die Institute verlangen von ihren Mitarbeiter/innen aber das Sammeln von Impact-Punkten.

In dem geplanten Psychotherapie-Studiengang wird das Thema Geschichte und Ethik als Teil des Fachs „Psychologischen Methodenlehre“ ausgewiesen. Malich sieht das als Problem und hat kürzlich ein Memorandum verfasst, in dem sie zusammen mit anderen Psycholog/innen und Medizinhistoriker/innen die Etablierung einer eigenständigen Teildisziplin „Geschichte, Theorie und Ethik der Psychologie und Psychotherapie“ nach dem Lübecker Modell fordert. Dieses Fach ließe sich auch – analog zur Medizin – als Psychological Humanities bezeichnen. Forschung und Lehre könnten hier u. a. die Debattenkultur fördern, Kritik am Forschungsprogramm ermöglichen und wissenschaftstheoretische Grundfragen in der Psychologie aktualisieren. In dieser Hinsicht stellen die Lehrpläne der Universitäten Groningen und York (Kanada) internationale Vorbilder dar.

Mit dem dritten Vortrag leitete ANDREAS JÜTTEMANN (Berlin) die Diskussion der Nutzungsfragen ein. Jüttemann schilderte zunächst den Zustand des Gebäudes, zeigte aktuelle Fotos, die die vorhandenen Schäden erkennen lassen, und erläuterte die Lage des Objekts in der Leipziger Umgebung. Dann berichtete er über die bereits zur Verfügung stehenden Finanzierungsmittel und den Stand der geplanten Baumaßnahmen. Die architektonische Betreuung des Projekts wurde von der Denkmalschützerin Katharina Ungerer-Heuck aus Freiburg, die mit dem inzwischen verstorbenen Wundtforscher Gustav A. Ungerer verheiratet war, vorbereitet. Den Auftrag zur Durchführung des Bauprojekts haben die Architekten Schmidt & Partner aus Weimar übernommen. Jüttemann stellte mehrere Nutzungsszenarien vor: Erstens, die Gründung eines Instituts zur Psychologiegeschichte (zum Beispiel in Analogie zu der brasilianischen Wilhelm-Wundt-Graduiertenschule zur Geschichte und Philosophie der Psychologie); zweitens die Errichtung eines psychologiehistorischen Museums für die breite Öffentlichkeit; sowie drittens die Einrichtung eines Wohn- und Arbeitsplatzes für eine/n Stipendiat/en/in.

Als ein derzeit noch bestehender Nachteil für die in Betracht genommenen Nutzungen ist die Tatsache anzusehen, dass der Grimmaer Ortsteil Großbothen, in dem sich das Wundthaus befindet, erst 2025 an das Leipziger S-Bahnnetz angeschlossen werden soll. Zurzeit wird fast eine Stunde für die Anreise aus Leipzig benötigt. Dies stellt viele Nutzungen zunächst in Frage, weil die Zahl der potentiellen Besucher/innen, z. B. eines Museums, nur sehr klein sein würde und sich deshalb das Vorhaben als wirtschaftlich nicht tragfähig erweisen könnte. Ein vergleichbares Problem betraf wahrscheinlich auch das von David Boder betreute Psychologiemuseum, das von 1938 bis 1957 in Chicago bestand und in dem vor allem psychophysiologische Instrumente und Apparate ausgestellt wurden.

In Würzburg existiert seit einigen Jahren das großzügig ausgestattete Adolph-Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie. Deshalb wäre mit Blick auf die Einrichtung einer Dauerausstellung in Großbothen darauf zu achten, dass keine Konkurrenzsituation entsteht. Gegen eine Erinnerungs- und Gedenkstätte spricht, dass das Institut für Psychologie der Universität Leipzig bereits das „Wilhelm-Wundt-Zimmer“ besitzt, in dem Exponate aus Wundts Büro und Labor ausgestellt sind (das Wundtzimmer soll auf Wunsch der Universität in Leipzig auch nach Fertigstellung des Wundthauses Grimma im Institut für Psychologie verbleiben).

In der DISKUSSION, die sich an die Vorträge anschloss, wurden nicht nur die bereits genannten, sondern auch weitere Nutzungsmöglichkeiten erörtert: Lisa Malich schlug vor, nach dem Vorbild des Museums of Illusions in Ljubljana im Erdgeschoss zum einen ein spielerisches Arrangement für Kinder zum Thema optische Täuschungen, das als eine Art „Werbung“ für das Fach Psychologie dienen und zum anderen einen Familientreffpunkt für Bewohner der Region darstellen könnte. Eine andere Überlegung betraf die Anbindung des Wundthauses an den benachbarten Wilhelm-Ostwald-Park (die u. a. in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht sinnvoll wäre). Weitere Vorschläge umfassten einen Betrieb als Außenstelle des Würthzentrums Würzburgs, ein Tagungs- und Gästehaus der Uni Leipzig und ein Tagungshaus für eine psychologische Fachgruppe. Nach dem Vorbild des Freudmuseums wäre dann die Einrichtung eines Vortragsraums nötig.

In der Diskussion wurde deutlich, dass die Idee eines Stipendiatenzimmers besonders opportun erscheint. Dabei ist vor allem an internationale Bezüge zu denken. So könnte z. B. Graduierten aus dem Wundtzentrum Brasilien, aus dem Zentrum für Psychologiegeschichte im kanadischen York oder aus China ein adäquater Forschungsaufenthalt ermöglicht werden. Mit Blick auf diese Nutzung wäre das Haus auch mit einer kleinen Bibliothek und mit einem Archiv auszustatten. In diesem Kontext ließe sich auch Anna Freuds Idee eines Spendenaufrufs für Bücher wieder aufgreifen. Die Initiative, im Wundthaus eine Wohn- und Arbeitsstätte für Stipendiaten einzurichten, müsste einerseits mit der Universität Leipzig und andererseits mit Institutionen erörtert werden, die für eine Kostenübernahme in Betracht kämen. Falls es einen Kompromiss mit der Universität Leipzig gäbe (u. U. auf der Basis einer Befragung unter Mitgliedern der DGfPs), wo ein Wundtzimmer „hingehöre“, sollte zumindest ein Raum der Person Wilhelm Wundt gewidmet werden. Die/der kostenfrei im Haus wohnende Stipendiat/i/en muss sich im Gegenzug um die Bibliothek kümmern und an ein bis zwei Tagen pro Woche interessierte Besucher empfangen.

Die Tragfähigkeit der Idee, im entlegenen Grimma-Großbothen „nur“ ein Wundt-Gedenkzimmer oder eine akademische psychologiehistorische Ausstellung einzurichten, bezweifelten alle Teilnehmer/innen (besonders wegen der zu erwartenden geringen Besucherzahlen). Generell sollte – auch außerhalb der Psychologie – nach Möglichkeiten für weitere finanzielle und ideelle Unterstützung gesucht werden. Es wurde argumentiert: Auch das Freudmuseum in Wien stieße nicht allein bei Psycholog/innen und Ärzt/innen auf Interesse, sondern auch bei Literatur- und Kulturwissenschaftler/innen. Die anwesenden Medizinhistoriker/innen meinten, dass physiologische Fachgesellschaften (Wundt war ja in der Medizin im Forschungsbereich Physiologie tätig) ebenfalls für eine Beschäftigung mit Wundts Lebenswerk aufgeschlossen seien.

Das Kolloquium schloss mit dem Fazit, dass die Restauration des Wundthauses ein sehr begrüßenswertes Projekt sei. Die Bemühungen für die Leistungen, insbesondere der Eigentümerin, wurden mehrfach hervorgehoben. Dennoch sahen alle Beteiligten die Schwierigkeit, eine sinnvolle (und ökonomisch vertretbare) Nutzung zu entwickeln.

Konferenzübersicht:

Daniela Finzi (Wien): „Mit der Leere arbeiten – Das Sigmund Freud Museum 2020“

Lisa Malich (Lübeck): „Zwischen Bedeutungslosigkeit und Psychological Humanities – zur Lage der Geschichte der Psychologie“

Andreas Jüttemann (Berlin): „Das Wilhelm-Wundt-Haus Grimma – ein „Lagebericht“

Im Anschluss: Diskussion über eine mögliche museale Nutzung


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