Ulrich Jasper Seetzens Reise nach Vorderasien. Neue Ansätze der Reiseforschung

Ulrich Jasper Seetzens Reise nach Vorderasien. Neue Ansätze der Reiseforschung

Organisatoren
Natalia Bachour, Asien-Orient-Institut der Universität Zürich; Julia A. Schmidt-Funke, Sammlungs- und Forschungsverbund Gotha; Prof. Dr. Iris Schröder, Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.06.2019 - 15.06.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Tobias Mörike, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

Neue Perspektiven auf Ulrich Jasper Seetzen eröffnete eine zweitägige Tagung des Forschungszentrums Gotha der Universität Erfurt und des Sammlungs- und Forschungsverbunds Gotha, die zeitgleich als Alumni-Treffen des Herzog-Ernst-Stipendienprogramms der Fritz Thyssen Stiftung diente. Seetzen war 1802 von Jever über Göttingen, Gotha und Wien in den Nahen Osten aufgebrochen und war nach Carsten Niebuhr einer der ersten deutschen Forscher, die den östlichen Mittelmeerraum und Arabien bereisten. Das Ziel der Tagung war es, neue Ansätze der Reiseforschung mit der wissenschaftlichen Erschließung von Seetzens Reiseberichten und der von ihm erworbenen Sammlungen zu verbinden.

Zu Recht rückten die Tagungsorganisatorinnen Natalia Bachour, Julia Schmidt-Funke und Iris Schröder Ulrich Jasper Seetzen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Unbestritten ist, dass sich Seetzen von späteren Reisenden, die vorrangig philologische Interessen verfolgten und ihre Beobachtungen mit ihren Lektüren abglichen, deutlich abhebt. Seetzen war kein schneller Durchreisender, der nur Routen abschritt und Daten aufnahm. Vielmehr zeichnete ihn ein deep involvement aus, wie es Wolbert G. C. Smidt in seinem Tagungsbeitrag nannte. Vergleichbar mit seinem Zeitgenossen Alexander von Humboldt stellte Seetzen ein breites Forschungsprogramm auf, das zunächst auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse zielte. Gleichwohl entsprach es nicht dem Ziel der Tagung, Seetzen als neuen Helden humboldtscher Forschung zu positionieren.

Seetzen hinterließ ein in vielfacher Weise aussagekräftiges Quellenmaterial, das sich heute in Gotha und Oldenburg befindet. DETLEF HABERLAND (Oldenburg) bot einen Überblick über die Vielzahl der noch unerschlossenen Materialien, die Auskunft zu einigen noch kaum beachteten Aspekten geben könnten. So lasse sich etwa anhand von Seetzens niederländischen und deutschen Reisen etwas über seine politische Einstellung z. B. zur Französischen Revolution erfahren oder anhand seiner Gedichte etwas über sein Verhältnis zur Religion.

JULIA A. SCHMIDT-FUNKE (Gotha) unterstrich den Wert von Objekten und zugehörigen Objektlisten, Inventaren und Sammlungskatalogen für die Seetzen-Forschung. UTE DÄBERITZ (Gotha) berichtete von der glücklichen Wiederauffindung eines Sammlungsinventars aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, mit dem sich zahlreiche Objekte als Erwerbungen Seetzens identifizieren ließen. Mit Blick auf kontrastierende Quellen zu Korrespondenzen und literarischer Produktion stellte KERSTIN VOLKER-SAAD (Berlin) in ihrem Beitrag zu den Reisen des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau auch das Potenzial von Zeitungberichten heraus, während MARIE RYANTOVÁ (Česke Budejovice) Stammbücher als relevante Quellen der Reiseforschung präsentierte.

Als Annäherung an diesen reichen Quellenbestand in Form von Seetzens Sammlungen und seinen Reisebeschreibungen eröffneten Julia Schmidt-Funke und Iris Schröder mit der Trias Räume – Dinge – Begegnungen drei Untersuchungsebenen, denen sich die einzelnen Beiträge der Tagung zuordnen lassen.

Räume

Nach fortgeschriebenen und eingeschriebenen Räumen fragte WOLBERT G. C. SMIDT (Mekelle), der der räumlichen und zeitlichen Tiefe von Seetzens linguistischen Sammlungen nachging. Smidt näherte sich Seetzens Wortlisten nordostafrikanischer Sprachen mit den Werkzeugen einer historischen Linguistik und Ethnologie und rekonstruierte so in Ansätzen die Sprachpraxis von Seetzens Gesprächspartnern.

STEFAN KNOST (Jena) verglich die Reisen und Sammlungen Seetzens mit denen des Botanikers Carl Haussknecht, der 1865, 60 Jahre nach Seetzen, Aleppo bereiste. Beide wohnten während ihrer Aufenthalte in Aleppo zunächst bei christlichen Gastgebern, genossen die Feiern der expat community und botanisierten an denselben Orten. NASHWA ABOU SEADA (Šibīn al-Kaum) lud dazu ein, über gendered spaces und alternative Reisebeschreibungen auf Grundlage eines neuen Textkorpus aus der Perspektive von Frauen nachzudenken.

CHRISTOPH SCHMITT-MAASS (München) blickte auf Michael Roes Roman Leeres Viertel und demonstrierte, wie Seetzens Reisebericht mittels postmoderner Erzählverfahren in die Romanerzählung eingewoben ist. Er zeigte, dass zum einen durch die Paraphase des Reiseberichts sowie zum anderen durch den im Roman als Gegenpart konstruierten reflektierenden Leser neue Lesarten von Seetzens Reisewerk „jenseits des Orientalismus“ möglich sind.

Dinge

Raum und Zeit mobilisierte Seetzen durch seine Sammlungen. Besonders die von Seetzen erworbenen Manuskripte bilden seine Interessen und seinen intellektuellen Horizont ab. Sie fügen sich als Hand- und Belegapparat in das Profil der Forschungsreise ein, wie eine von SASCHA SALATOWSKY (Gotha) geführte Besichtigung der Forschungsbibliothek Gotha zeigte. Die dort verwahrten Manuskripte verweisen auf Seetzens Interesse für Geographie und Botanik, spiegeln aber auch, wie der Reisebricht von Hanna At Tabib und die erworbenen religiösen Schriften zeigen, seine Beziehungen zu christlichen Gemeinden wider.

MICHAEL GEFFERT (Bonn) erklärte Seetzens Instrumente (Spiegelsextant, Kompass, Korrektur, Camera clara, Sekundentaschenuhr, etc.) und gab einen Einblick in Seetzens Beobachtungspraxis. Sein Vortrag evozierte eine Reihe von Fragen zu Seetzens Einordnung in die Wissenschaftsgeschichte der Astronomie und Geodäsie. Im Hinblick auf Seetzens Karten stellte sich die Frage nach der Rezeption der von ihm erhobenen Daten.

UTA WALLENSTEIN (Gotha) stellte heraus, dass Seetzen, der mit der historischen und zeitgenössischen Literatur über das alte Ägypten vertraut war, mit gezielten Vorinformationen ägyptische Antiquitäten kaufte. In Kairo konnte er Stücke bei lokalen Sammlern erwerben. Auch der Vortrag von UTE DÄBERITZ (Gotha) warf ein Schlaglicht auf den entstehenden Kunstmarkt. Däberitz rekonstruierte anhand der Gothaer Bestände Seetzens Sammlungsstrategie im Hinblick auf Ethnografica. Neben Ackerbaugeräten und Waffen finden sich viele Objekte der Alltagskultur, die 1810, 1830 und zuletzt 1858 in einem Inventar zusammengefasst wurden.

Im Anschluss an die Vorträge von Wallenstein und Däberitz stellte sich die Frage, ob sich Seetzens Sammlungsschwerpunkte im Lauf der Reise verschoben und wie eine Chronologie seines Sammelns aussehen könnte. Diskutiert wurde zudem, welche Objektbiographien sich ergeben, wenn man das Weiterleben der Objekte in Gotha verfolgt.

Begegnungen

HENNING SIEVERT (Heidelberg) forschte nach Seetzens persönlichen Begegnungen vor dem Hintergrund osmanischer sozialer Welten. Seetzens Berichte über seine Zusammentreffen mit Derwischen und „Renegaten“, d. h. aus Europa ins Osmanische Reich ausgewanderten und zum Islam konvertierten Menschen, betrachtete Sievert als gelungene Milieustudien.

Seetzens Reisetagebücher verweisen vielfach auf lokale Wissensvermittler, die sich als wissenschaftliche Partner Seetzens interpretieren lassen und damit die Erzählung des vermeintlich einsamen Entdeckers zurechtrücken. Nach einem Modell für die systematische Identifikation solcher lokalen Wissensvermittler suchte FESSEHA BERHE GEBREGERGIS (Mekelle). Er demonstrierte für die Erforschung Nordostafrikas, dass Guides oft von lokalen Herrschern als Begleiter für Forschungsreisende bestellt wurden und auch Informationen über Reisende sammelten.

Seetzens Zusammentreffen mit Ärzten und seine Bewertungen osmanisch-arabischer Medizin skizzierte NATALIA BACHOUR (Zürich) und rief in Erinnerung, dass für Seetzen die Medizin nur eine Notwendigkeit der wissenschaftlichen Qualifizierung und eine unliebsame Praxis war. Einen Überblick über den Wissenstransfer zwischen Gelehrten und Forschungsreisenden präsentierte CLARISSE ROCHE (Abu Dhabi), die die Rezeption Seetzens in den gelehrten Journalen seiner Zeit darstellte und die Bewertungen seiner Berichte und seine Einbindung in gelehrte Netzwerke herausarbeitete. Mit Blick auf Seetzens Studien zu Pferden eröffnete Roche zusätzlich eine Betrachtung mit einem Fokus auf Mensch-Tier-Beziehungen.

Dass empirische Feldforschung, wie die Ergebnisse der Reise von Seetzen, von Gelehrten nur partiell rezipiert wurde, zeigte ASAPH BEN-TOV (Wolfenbüttel). Er verband die Rezeptionsgeschichte von Forschungsreisenden mit Modellen der Erkenntnistheorie und stellte heraus, dass die Paraphrasen der Reiseberichte gelehrtes Wissen illustrieren sollten. Empirische Beobachtungen wurden im Zweifelsfall ignoriert oder nivelliert.

Die Loslösung Seetzens von europäischen Wahrnehmungsmustern diskutierte GIOVANNI BONACINA (Urbino) mit Blick auf Seetzen Nachforschungen zu den Wahhabiten, die er zunächst als Deisten einschätzte und durch lokale Berichte zunehmend als radikale und gewaltvolle Gruppe bewertete.

Fazit

Deutlich wurde, dass die Seetzen-Forschung noch in den Anfängen begriffen ist und sich nur langsam von positivistischen Betrachtungen der Forschungsreise und der von ihm hervorgebrachten linguistischen, botanischen, antiken und ethnographischen Sammlungen, Messdaten und Reisberichte löst. Die Diskussionen der Tagung zeigten eine Reihe von Forschungsfeldern auf, deren weitere Bearbeitung lohnend erscheint.

Einige Anregungen für die weitere Beschäftigung mit Seetzen sollen hier abschließend gegeben werden. Erstens war für den Mediziner Seetzen der eigene Körper ein Untersuchungsgegenstand; akribisch beschrieb er die Symptome erlittener Tropenkrankheiten wie etwa der Aleppobeule (Leishmaniose). Der Körper des Reisenden als Erkenntnishorizont ist bisher noch nicht näher untersucht worden. Zweitens beschreibt Seetzen sehr detailliert Tierzucht und den Umgang mit Kamelen, so dass sich seine Reisebeschreibungen auch als Quelle zur Untersuchung von Mensch-Tier-Beziehungen anbieten. Ein Feld, das im Hinblick auf Seetzen weitere Differenzierung benötigt, sind drittens die go-betweens, die als kulturelle Mittler verschiedenen sozialen Welten zugehören. Unbeachtet, aber doch präsent, wurden beispielsweise mehrfach polnische Reisende im Osmanischen Reich wie Wacław Rzewuski erwähnt. Auch die Einbindung Seetzens in christliche Netzwerke wie sein Kontakt zur Shukri-Familie in Aleppo wurde bisher nur teilweise erfasst. Seetzens Reisebericht stellt einen Zugang zu den Biographien lokaler Wissensvermittler her. Viertens sollte Seetzens Rolle als Kartograph besser ausgeleuchtet werden, da seine Messungen bis in die 1850er-Jahre als Grundlage für kartographische Darstellungen dienten. Ein Forschungsdesiderat ist fünftens ein Vergleich zwischen Seetzen und anderen Reisenden wie Friedrich Hornemann, Johann Ludwig Burckhardt, Carsten Niebuhr, Fredrik Hasselquist und Peter Forsskål. Zuletzt wären Seetzens Haltung zu Religionsfragen und seine Stellung im Rahmen der Freimaurerei weiter zu erforschen.

Konferenzübersicht

Marie Ryantová (Česke Budějovice): Die Reisen des böhmischen Adeligen Johann Reichart von Štampach nach Konstantinopel (1591/92) und Moskau (1593). Zum Aussagewert frühneuzeitlicher Stammbücher als Reisedokument und Sammlerobjekt

Volker Heenes (Berlin/Gotha): Carsten Niebuhr und seine Reise nach Arabien (1761–1767)

Fesseha Berhe Gebregergis (Mekelle): The Local Agency in the Explorations of the 19th Century European Travelers Visiting Northern Ethiopia

Asaph Ben-Tov (Wolfenbüttel): Reiseberichte aus dem Orient und ihre gelehrten Leser im 17. und frühen 18. Jahrhundert

Nashwa Abou Seada (Šibīn al-Kaum): Geschlechterstereotypen in Reiseberichten um 1800. Literarische Konstruktion von Raum, Geschlecht und Fremdheit im Vergleich

Kerstin Volker-Saad (Berlin): Pücklers Orientreise (1834–1840) in der zeitgenössischen europäischen Presse

Sascha Salatowsky (Gotha): Präsentation der orientalischen Handschriftensammlung der Forschungsbibliothek Gotha

Julia A. Schmidt-Funke (Gotha), Iris Schröder (Erfurt/Gotha): Räume – Dinge – Begegnungen. Perspektiven der Seetzen-Forschung

Detlef Haberland (Oldenburg): Seetzen und (k)ein Ende? Vom Nutzen und Vorteil seiner Erforschung für die Disziplinen

Henning Sievert (Heidelberg): Seetzen im Osmanischen Reich

Clarisse Roche (Abu Dhabi): Shedding Light on the Arabias. Seetzen’s Contribution to European Journals

Stefan Knost (Halle): „Botanisieren und Karneval“. Seetzens (1803–1805) und Haussknechts (1865–1867) Beschreibung Aleppos im Vergleich

Wolbert G. C. Smidt (Mekelle): Äthiopische Sprachenvielfalt in Kairo. Seetzens Begegnung mit dem Tigrinnya und anderen Sprachen aus der Region im frühen 19. Jahrhundert

Floris Solleveld (Leuven): Richard Lepsius as a Language Collector

Carsten Walbiner (Eichstätt-Ingolstadt): Seetzen und die orientalischen Christen

Giovanni Bonacina (Urbino): Beobachtungen Seetzens zum Wahhabismus

Michael Harbsmeier (Kopenhagen): Vergleichend unterwegs. Reiseberichte als globalgeschichtliche Quellen

Michael Geffert (Bonn): Astronomische Messungen und Beobachtungen Seetzens

Natalia Bachour (Zürich): Seetzen als Zeuge eines Wandels in der Medizin des Vorderen Orients?

Uta Wallenstein (Gotha): „Heute kaufte ich eine kleine ägyptische Statue von Basalt“. Seetzen als Sammler ägyptischer Steinkunst

Ute Däberitz (Gotha): „Arabische Geräthe" und „Christliche Denkwürdigkeiten" aus dem Orient – Seetzeniana in der Ethnologischen Sammlung der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha

Christoph Schmidt-Maaß (München): „Maasslosigkeit des Erzählens“. Ulrich Jasper Seetzen als Protagonist im postmodernen Abenteuerroman Leeres Viertel – Rub’ al-Khali (1996) von Michael Roes