Protest und Kulturkritik – Differenzen, Übergänge, Schnittstellen

Protest und Kulturkritik – Differenzen, Übergänge, Schnittstellen

Organisatoren
Forschungsschwerpunkt „Kulturelle Orientierung und normative Bindung“ in Kooperation mit der Université de Strasbourg
Ort
Landau
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.01.2019 - 25.01.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Adrian Totaro, Institut für Sozialwissenschaften – Abteilung Soziologie, Universität Koblenz-Landau, Campus Landau

Das Forschungsatelier fand im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Kulturelle Orientierung und normative Bindung“ am Campus Landau der Universität Koblenz-Landau in Zusammenarbeit mit der Université de Strasbourg statt. Die internationale und interdisziplinäre Tagung versammelte WissenschaftlerInnen diverser Fakultäten und entfaltete ein weites Feld von Georg Büchner bis Beyoncé, das sowohl soziologische, philosophische, literatur- und politikwissenschaftliche Akzente im Hinblick auf historische wie gegenwärtige Formen von Protest und Kulturkritik setzte.

Eröffnet wurde die Tagung mit zwei Impulsvorträgen. KARL-SIEGBERT REHBERG (Dresden) diskutierte am Beispiel der Pegida-Bewegung, den Wahlerfolgen der Lega in Italien und des Rassemblement National in Frankreich eine Transformation des Politischen. Es genüge nicht, den Erfolg des (Rechts-)Populismus als einen Ausdruck des Zorns oder als Folge eines Gedankens eigener Überflüssigkeit zu deuten. Vielmehr werde ersichtlich, dass es ihm in gesteigertem Maße gelänge, die Meinungen des Volkes aufzugreifen, obwohl er dessen Interessen nicht vertrete. Die verwendeten Ausdrucksformen des Protests zeigten neue Strategien, schafften eigene Leitlinien der Identifikation und mündeten in eine strikte Trennung von den Anderen, den Fremden oder Eliten. Wie Arlie Hochschild eine soziale Polarisierung für die USA festgestellt hat, zeichnete Rehberg ein ähnliches Bild für Europa: Es zeigten sich hier Auseinandersetzungen zwischen unvereinbaren ethischen Vorstellungen, die zu einem nahezu permanenten Überbietungszwang unterschiedlicher Ethiken führten, was Rehberg zur These der Gleichzeitigkeit aufgeladener Sensibilität – des Zusammenspiels von Hochsensibilität auf der einen und Hass auf der anderen Seite – veranlasste. Dies wurde theoretisch mit Gehlens Konzept der „Hypermoral“ diskutiert.

Anschließend beleuchtete HANS-GEORG SOEFFNER (Essen) das Verhältnis der Gesellschaft zu Vergangenheit und Zukunft und konkretisierte am Wesen der Utopie das Spannungsfeld rationalen Denkens und einer hochgradig symbolischen Aufladung. Die Konjunktur utopischen Denkens, wie sie sich etwa in den 1960er- und 70er-Jahren entfaltete, sei stets an Zeitphänomene gekoppelt. So zeige beispielsweise der Kniefall Willy Brandts in Warschau die Verquickung aufklärerischen, rationalen Denkens mit einem hochgradigen Symbolismus. Utopien stellen Schließungsfiguren dar, geschlossene Gesellschaften, die dem Symbolismus oder der Traumwelt entgegenstehen, wie Platons Politeia der Traumwelt Atlantis; und dennoch finden sich auch in ihnen symbolische Aufladungen, wie die aus der Renaissance überlieferten Raum- und späteren Zeitutopien zeigen, die Rationalität und Pathos miteinander verbinden, als Realitätskritik schlechte Gegenwart beschreiben und zugleich einen Gegenentwurf formulieren. Dies führe zu den anthropologischen Überlegungen Plessners, der strukturellen Heimatlosigkeit des Menschen und seiner Suche nach Heimat(en), weshalb die Kultur als Reich der Möglichkeiten zu verstehen sei und die Utopie ein Dazwischen beschreibe, eine Form der Vermittlung im Verhältnis der Gesellschaft zu Vergangenheit und Zukunft.

ANDREAS RIZZI (Zürich) beleuchtete in seinem Vortrag das Verhältnis eines Literaten zur Revolution und ging dabei der Frage nach der revolutionären Ästhetik von Protest und der Wirkung von Literatur auf die Gesellschaft nach. Ausgangspunkt waren die Werke Georg Büchners und seine Korrespondenz mit Friedrich Schulz. Büchner schreibe der Schrift eine mobilisierende Kraft im Erreichen der Masse zu und sehe sie damit einerseits als Möglichkeit der Einflussnahme auf die gesellschaftliche Entwicklung. Andererseits werden ihre Grenzen offenbar. Schließlich sei die Revolution ein Kampf der „Unterdrückten gegen Privilegierte“, der Literat ein Angehöriger der letzteren, woraus ein Repräsentations- und Glaubwürdigkeitsproblem entstehe. Dieser Unzulänglichkeit des Schriftstellers begegnete Büchner durch die Aufnahme in seine Literatur, wodurch sie zugleich eine Kritik an den herrschenden Produzenten kultureller Symbole darstelle und als Kulturkritik gelesen werden könne. Die Schrift sei eine Möglichkeit der Mobilisierung, wenn sie etwa in Flugblättern vertrieben werde, und bleibe doch beschränkt, weil sie lediglich eine ästhetische Form darstelle, in der Erfassung des Möglichen und Tatsächlichen. In bemerkenswerter Weise verarbeite Bücher dies in seinem Werk, indem er diesem Gedanken Ausdruck verleihe und diesen Konflikt zu verarbeiten suche.

Aus Marx᾽scher Perspektive skizzierte SALIHA BOUSSEDRA (Strasbourg) die Rolle der Politik und ihrer Dualität. „Politik“ und „abgesonderte Politik“ seien zu unterscheiden und die Frage nach der Repräsentation der Gesellschaft zu stellen. Dabei verfolgte sie die Frage, wie es durch die Separierung möglich sei, für die Gesellschaft als Ganzes zu sprechen und nicht nur für eine konstruierte Klasse. Der doppelte Zugang zur Politik ermögliche es, diese einerseits als Ideologie und damit Verschleierung des tatsächlichen Austauschs und als Notwendigkeit andererseits, in der Konstruktion der Klassen, ihrem An-sich-Sein und Für-sich-Sein, aufzufassen. Offen bleibe hierbei, welche Ressourcen für jene Ganzheit zur Verfügung stehen, wovon die Idee der Totalität abhängig ist und ob es sich nicht vielmehr um eine Konkurrenz von Totalitäten handle.

Mit populärkultureller Gesellschaftskritik beschäftigte sich ROBERT SCHÄFER (Fribourg) anhand des Musikvideos Formation der US-amerikanischen Sängerin Beyoncé. Der empirische Einzelfall war Ausgangspunkt einer soziologischen Fallanalyse, die die Funktionsweise popkultureller Gesellschaftskritik hinterfragen sollte. Die Gegenüberstellung von Bild und Text verdeutlichte die Ambivalenz der Komposition: zwischen dem Bild als visuelle, stumme Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen in den USA und dem Text als sprachliche, multiperspektivische Rechtfertigung. Rechtfertigung werde dabei nicht zum Inhalt der Kritik, sondern als Legitimation der eigenen Sprecherposition verstanden. Schließlich beruhe die Kritik auf dem Repräsentationspotential, indem sie eine Dialektik von Identität und Differenz zeige – eine Privilegierte, die für die Armen und Unterdrückten spreche, woher sie komme und doch nicht kam: Beyoncé als „star down to earth“, visuell wie sprachlich vermittelt.

MICHAEL GROSSHEIM (Rostock) referierte über den „Ironismus und politischen Existentialismus moderner Protestbewegungen“, deren Grundlagen er bereits bei den Frühromantikern verortet. Am Beispiel der 68er-Bewegung diskutierte er das Modell des politischen Existentialismus, worunter die Bewältigung der existentialistischen Krise auf dem Feld des Politischen zu verstehen sei, und erarbeitete anhand einer phänomenologischen Typologie die Bedeutung der Subjektivität, die einerseits nicht-entfremdet, nach affektiven Befindlichkeiten fragend, Protest etwa als Abenteuer beschreibe und sich gegen das gesellschaftliche Arrangement objektiver Tatsachen richte und andererseits entfremdet, den Protest als ironische Inszenierung, als Spiel verstehe. Ironie sei als Distanzierungs- und Versetzungstechnik zu verstehen, die sowohl rezessiv, u. a. im kalkulierten Regelverstoß auftauche, als auch produktiv durch Umfunktionieren bzw. Verfremden der Situation. Aus der Heterogenität der Bewegung leiteten sich schließlich zwei Lebenshaltungstypen heraus: diejenige des revolutionären Asketen und derjenige des revolutionären Ästheten. Gerade letzterer spiele mit dem Menschen als Möglichkeit und schaffe ein dynamisches Emanzipationsprogramm, indem er sein schöpferisches Element betone.

Die theoretischen Perspektiven in der Beobachtung von Protestbewegungen problematisierte LUCA TRATSCHIN (Luzern). Den dominierenden handlungstheoretischen Ansätzen stellte er die kommunikationstheoretische Perspektive entgegen, die Handlung als Ergebnis von Kommunikation verstehe, die erst im Nachhinein als solche sichtbar werde. Nicht „Performance“, sondern die Frage nach der Herstellung der kommunikativen Einheit einer Bewegungskampagne rückten so in den Fokus. Exemplarisch wurde dies in Bezug auf die Occupy-Bewegung diskutiert, die insbesondere Karten und Zeitlinien als visuelle Darstellungsform bzw. Formen der Zurechenbarkeit nutze. Die Betonung des kommunikationstheoretischen Ansatzes bedeute jedoch keineswegs eine Abkehr von der Handlungsperspektive, sondern müsse vielmehr als eine Erweiterung gesehen werden, die im Anschluss an die Frage nach der Mobilisierung die Frage nach der Einheit und Differenz stelle. Damit könne das Moment erfasst werden, das die Protestbewegung erst zu einer solchen mache, nämlich in ihrer kommunikativen Rahmung.

JEAN QUÉTIER (Strasbourg) setzte sich mit der Mobilisierungskraft „linker“ Melancholie auseinander – einer These Enzo Traversos. Das Ausbleiben des Erfolgs der Arbeiterklasse und das Ende des Ostblocks riefen jene als eine Art Trauerarbeit hervor. Hierin drücke sich die Erfahrung der Niederlage aus, die bei Marx bereits in der Verarbeitung der gescheiterten Revolution von 1848 zu finden sei. Neben einer teleologischen Deutung der verlorenen Schlachten innerhalb eines andauernden Krieges und dem Eingedenken, einer Erinnerung an eine unabgeschlossene Vergangenheit, plädierte QUÉTIER für eine dritte Lektüre, die weder teleologisch noch melancholisch ausgerichtet sei. Die Niederlage könne dialektisch gedeutet und strategisch gewendet eine Mobilisierungskraft entfalten, die nicht das Ende der Revolution bedeute, sondern vielmehr das Terrain vorbereite und die politische Praxis auszudehnen vermöge. Schließlich zeigten die Arbeiter von 1871, trotz ihrer anschließenden Hinrichtung, die Möglichkeit der Regierungsübernahme. Deshalb entfalte auch die Niederlage jene Protestkraft, das Trauma zu überwinden, da sie die Möglichkeit des Neuen bereits beinhalte. Kritisch diskutiert wurde hierbei ihre mögliche Pathologisierung und links- bzw. Marx-spezifische Verengung.

Am Beispiel der „Identitären Bewegung“ skizzierte STEFAN VENNMANN (Dortmund) thesenhaft den Begriff des Ethnopluralismus und seine Bedeutung für die neurechten Bewegungen. Besonderes Augenmerk erfuhren ihre theoretischen Grundlagen, die an das Pluriversum der Völker, ein autoritäres Staatsverständnis und das biologisch begründete Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt angelehnt werden, wenngleich ihr Gebrauch in der Szene verkürzt stattfinde. Gerade neuere Vertreter strebten eine Relativierung der Rassenideologie an, indem sie diese in neue Chiffren zu übersetzen suchten. Der Bedrohung der eigenen Identität werde eine Re-Biologisierung bzw. Re-Nationalisierung des Politischen entgegengesetzt, die sich insbesondere gegen die universalistischen Ideen der USA richte. Auch wenn sie Anschlüsse an (kulturkritische) Theorien suche, sei doch fraglich, ob die „Identitäre Bewegung“ tatsächlich als Kulturkritik bezeichnet werden könne. Vielmehr sei von einem Konglomerat antisemitischer, antiamerikanischer und verschwörungstheoretischer Positionen auszugehen, welches auf autoritären Denkmustern aufbaue, die jene theoretischen Bezüge als Legitimationsgrundlage suche.

Über die „Vermittlung leiblicher Betroffenheit“ sprach JOHANNA FRÖHLICH (Oldenburg). Aus ihren ethnographischen Erhebungen neurechter Bewegungen kristallisierten sich der Begriff des Volkes, die unausweichlich negative Zukunft sowie die bedrohte Gemeinschaft, deren Ende unmittelbar bevorstehe, als Bezugspunkt der Betroffenheit und die Besonderheit theatraler Darstellungsformen des Protestes heraus. Öffentliche Protestaktionen erinnerten an bekannte Muster etwa aus den Anti-Atomkraft-Protesten. Zugleich zeige die Untersuchung der Beweggründe und ihrer Vermittlungsversuche affektiver Betroffenheit eine forcierte Intellektualisierung über Seminare. In ihrem Auftreten erschienen die Personen anders als die aggressiven Alt-Rechten jung und sympathisch, was gerade in ihren Protestaktionen zur Geltung komme und so den Versuch unterstütze, das für die Teilnehmenden Selbstverständliche für andere erfahrbar zu machen.

Die Tagung beschloss ANDREAS PETTENKOFER (Erfurt) mit einem Vortrag über die Unwahrscheinlichkeit egalitärer Anerkennungskämpfe. Dieser in vielen Sinnmustern auftauchende und „sehr voraussetzungsvolle Protesttyp“ sei durch eine besondere Reichweite gekennzeichnet und beinhalte eine besondere Hoffnung auf die Durchsetzung von Normen egalitärer Ordnung. In den Fokus rückte er das Konzept dreier kombinierbarer, sozialer Mechanismen zur Plausibilisierung von Anerkennungswünschen, die eine Neuverwendung einer gegebenen Anerkennungsordnung, neue Anerkennungsverweise durch bereits Anerkannte und der Veränderung des Verhältnisses zwischen den Missachteten bedeuten. So diene etwa das Lumpenproletariat als Konstitutionsbedingung des höheren Proletariats, indem eine neue Position innerhalb der alten Ordnung errichtet und Anerkennung erreicht werde. Der Linkskatholizismus arbeite dagegen aus einer stark hierarchisierten Position heraus an der Relativierung anderer, „weltlicher“ Ordnungen, und es entstehe die Möglichkeit egalitären Protestes aus der Abwertung politischer Hierarchien (zweiter Mechanismus). Der dritte Mechanismus als gegenseitige Anerkennung Missachteter zeige sich schließlich in Form von Zusammenarbeit (Proletarier) oder gemeinsamer Gewaltanwendung (Christopher-Street-Day), wenn eine egalitäre Ordnung sich über jene ausbreitet, die dazugehören. Die Mechanismen verdeutlichten die Möglichkeit der Kritik an Missachtung. Wegen ihrer hohen Voraussetzungen zeige sich jedoch ebenso ihre Unwahrscheinlichkeit sowie eine Ambivalenz zwischen egalitären und nicht-egalitären Ordnungen. Deshalb müsse weiter gefragt werden, wie sich der Anerkennungskampf, wenn er unter nicht-egalitären Bedingungen beginne, letztlich transformiere, eine zum Abschluss der Tagung offene Frage.

In ihrer interdisziplinären Ausrichtung verband die Tagung die unterschiedlichen Perspektiven auf Protest und Kulturkritik in vergangenen und gegenwärtigen Formen. Ihrem Leitgedanken – Auseinandersetzung mit den Differenzen, Übergängen und Schnittstellen in den Formen des Protestes und der Kulturkritik – konnte sie so gerecht werden. Die Vielfältigkeit der Perspektiven sorgte für anregende Diskussionen, die über den Tellerrand der je eigenen Disziplin hinausragten und Berührungspunkte offenlegten. Protestformen und -bewegungen suchen Anschluss, und sie verwenden besondere Ausdrucksmittel, die zugleich das Problem der Repräsentation aufwerfen, das u. a. an den Differenzen zwischen alter und neuer Rechten, den Schnittstellen mit den Protestbewegungen der 1960er- und 70er-Jahre und schließlich ihren Übergängen diskutiert wurde. Deshalb konnten auch Georg Büchner und Beyoncé gleichermaßen zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzung dieses gesellschaftlichen Phänomens werden.

Konferenzübersicht

Karl-Siegbert Rehberg (Technische Universität Dresden): Empörungsbereitschaft versus „Hypermoral“? Beobachtungen zu Kulturkritik und (Rechts-)Populismus

Hans-Georg Soeffner (Kulturwissenschaftliches Institut Essen): Utopische und dystopische Kulturkritik

Andreas Rizzi (Universität Zürich): Klasse – Ästhetik: Protest und kulturelle Elite vor 1848

Saliha Boussedra (Université de Strasbourg): Marx, un rapport double à la politique

Robert Schäfer (Université de Fribourg): A Star Down to Earth. On Social Critique in Popular Culture

Michael Großheim (Universität Rostock): Ironismus und politischer Existentialismus in modernen Protestbewegungen zwischen Deutschland und Frankreich

Luca Tratschin (Universität Luzern): Handlungs- und kommunikationstheoretische Perspektiven auf Protestbewegungen

Jean Quétier (Université de Strasbourg): Zur Mobilisierung der „linken Melancholie“

Vennmann, Stefan (Technische Universität Dortmund): „Ethnopluralismus“ als Kulturkritik? Zur Kritik eine neurechten Ideologems

Johanna Fröhlich (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg): Protest und Kulturkritik des „intellektuellen Rechtsextremismus“

Andreas Pettenkofer (Max-Weber-Kolleg, Erfurt): Die Unwahrscheinlichkeit egalitärer Proteste