The Soviet Steppe – Culture, Environment, Economics and Politics

The Soviet Steppe – Culture, Environment, Economics and Politics

Organisatoren
Universität Fribourg, Schweiz
Ort
Fribourg
Land
Switzerland
Vom - Bis
15.02.2019 - 16.02.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Georgios S. Tziafetas, FAU Erlangen-Nürnberg

Die eurasische Steppe erstreckt sich über circa achttausend Kilometer von Ungarn und vom südlichen Gebiet der ehemaligen Sowjetunion aus bis in die Mongolei hinein. Sie stellt einen ausgedehnten ökologischen Raum mit einer wichtigen symbolischen Bedeutung dar. Während für die Zeit vor 1917 bereits einschlägige Studien zur Steppe vorliegen, stand im Mittelpunkt der Konferenz die sowjetische Periode. Themen wie die kulturelle und historische Bedeutung der Steppe oder das Umweltmanagement können sowohl als bedeutsame Forschungsfelder als auch als wissenschaftliche Herausforderungen besonders für Forscherinnen und Forscher der Bereiche Geographie, Geschichte, Anthropologie, Literatur- und Kulturwissenschaften verstanden werden. Die Konferenz wurde von einer Historikerin (Julia Obertreis) und zwei Geografinnen (Christine Bichsel und Ekaterina Filep) organisiert und hatte als Ziel, einen Raum für fruchtbare interdisziplinäre Diskussionen zu schaffen.

STEPHEN BRAIN (Mississippi) machte deutlich, wie eine fundamentale ontologische Dichotomie (Mensch/Natur) durch politische Dilemmata (soziale Fragen und Rücksicht auf die Umwelt) zu ökologischen Problemen führen kann. Durch das Scheitern eines ambitionierten sowjetischen Projekts, welches 1922 die Niederlassung einer Genossenschaft mit Siedlern aus den USA in der sowjetischen Steppe im Gebiet Rostow vorsah, wurden Expertendiskussionen ausgelöst. Man wollte die Steppennutzung von Grund auf reformieren. Aufforstung und Bewässerung sollten zu einem milden und feuchten Steppenklima mit sanfteren Winden führen. Stattdessen kam es allerdings zu periodischen Dürren, Bodenerosion und einem daraus folgenden dramatischen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion. 1924 folgte das Projekt „Kampf gegen die Dürre“ der unteren Parteiorgane, das auf der Idee basierte, die genossenschaftliche Bodennutzung aufzugeben und unabhängige Farmen mit verbesserten Methoden zu schaffen, falls die Eigentümer (arme und mittlere Bauernschaft) sich einverstanden erklärten. Letztlich zielte die Kampagne auf ein ökologisch nachhaltigeres Wirtschaften in den Bewässerungsregionen. Das Projekt wurde zunächst von allen Parteiebenen und vor allem vom XII. Allrussischen Sowjetkongress genehmigt. Es gelang, den Ertrag zu steigern und den Boden ruhen zu lassen, was jedoch auf Kosten der sozialen Gleichheit geschah. Die Zahl der wohlhabenden Haushalte wuchs schneller als die Gruppe der mittleren und ärmeren Bauern. Da diejenigen Bauern, die profitierten, Kapital akkumulierten und Arbeitskräfte einstellten, wurde die Kampagne aus ideologischen Gründen beendet. Die ökologische Nachhaltigkeit war für die Regierenden zu profitabel geworden, so fasste Brain pointiert zusammen.

Der in Russland und darüber hinaus bekannte Leiter des Instituts für Steppenforschung ALEXANDER CHIBILEV (Orenburg) begründete aus historischer und naturwissenschaftlicher Sicht, dass es trotz aller kulturellen und religiösen Unterschiede der Gesellschaften in der Steppe ratsam sei, von der Steppenzone als Einheit zu sprechen und es sich um ein geographisches Konzept handele, das allerdings kulturell zu diversifizieren ist. An seinem Institut wird dafür der Begriff des „Steppe-Eurasiens“ (Stepnaja Evrazija) gebraucht. Der geographische Determinismus sei besonders geeignet, wenn es um die Geschichte der Steppenreiche oder um die ökologische und technologische Geschichte gehe. Chivilev wies auf die langen Kontinuitäten hin, etwa bei der Inbesitznahme von Steppenland für die Landwirtschaft (Neulandkampagnen), und wies darauf hin, dass die Steppe auch ein Ort der Innovation sei, von der Erfindung des Rades und des Wagens bis zu den Flügen in den Kosmos im 20. Jahrhundert.

NAZIKBEK KYDYRMYSHEV (unabhängiger Forscher, Kirgistan) reflektierte den Diskurs des „Sedentarismus“. Nach seiner Definition ist Sedentarismus die Vorstellung der Sesshaften von der Welt der Nomaden. In diesem Sinne wurde Sedentarismus hauptsächlich von Russland und in der Sowjetunion für die Umstrukturierung und Bewirtschaftung von von (ehemaligen) Nomaden bewohntem Land genutzt. Die Kontinentalität des russischen Kolonialismus in den Steppenregionen und die eigenen Rückständigkeitsgefühle der russischen Intelligenz gegenüber Europa erlaubten nicht, den westlichen Orientalismus in seiner reinen Form zu gebrauchen. Stattdessen wurden die Nomaden auf das Niveau wilder Barbaren ohne Landwirtschaft und dauerhafte Besiedlung reduziert, obwohl zahlreiche Nachweise dafür vorliegen, dass sie durchaus auch Ackerbau trieben und Wintersiedlungen errichteten. Zudem wurden die nomadischen Gesellschaften hauptsächlich im Zusammenhang mit der Militärgeschichte untersucht, sodass die kulturellen Eigenschaften im Schatten blieben. So konstruierte man das Bild von einer „leeren“ Steppe mit Einheimischen in ständiger Bewegung. Kydyrmyshev argumentierte, dass die sesshafte Welt von der Interdependenz zwischen „Nomaden“ und Steppe lernen könne: Nomadische Subjekte seien frei von staatlichen, nationalen oder kulturellen Definitionen, Geschlechterrollen und sogar frei vom Geschlecht selbst. Mobilität im nomadischen Sinne bedeute Freiraum ohne Grenzen, Rahmen und Code, aber gleichzeitig auch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft als Teil des universellen Mechanismus der Natur.

In seinem Kommentar hob MARK BASSIN (Stockholm) den Begriff “Steppe-Eurasien“ hervor und betonte als wichtigen Hinweis zur Kulturgeographie die Tatsache, dass die Steppe unter anderem ein Produkt anthropogener Wirkung sei. Schließlich stellte er die Frage, ob man den Steppenraum im Russischen Reich und der Sowjetunion als spezifisch russisch bzw. als ein eigenständiges Element bezeichnen kann. Zum Konzept des Sedentarismus merkte Bassin an, dass es als eine Unterkategorie des Orientalismus präsentiert worden sei. Dagegen war es in der russischen und der sowjetischen Wissenschaft eher ein dominanter Diskurs und nicht ein analytischer Begriff. Die Diskussion drehte sich auch um den russischen Wissenschaftler Lew N. Gumiljow, der die Geschichte der Nomaden aktiv untersuchte und eine große Popularität erlangte.

TIMM SCHÖNFELDER (Tübingen) berichtete über den Bau von Bewässerungsinfrastrukturen in der Region Stawropol im Nordkaukasus zwischen 1930 und 1990. Wasser aus verschiedenen Flüssen sollte durch riesige Bewässerungsanlagen (wie der Große Stawropol-Kanal) den Steppenboden bewässern und diesen in Ackerland verwandeln. Die sowjetische Präferenz für Großprojekte zur „Umgestaltung der Natur“ führte zu neuen Ansätzen im Umgang mit den Folgen von großen technischen Systemen, denn die intensive Bewässerung brachte die Versalzung der Böden mit sich, und diese führte zu einer Verringerung des landwirtschaftlichen Ertrags. So entstand ein Teufelskreis. Als Reaktion darauf sollten moderne Meliorationsmethoden und Maschinen entwickelt und eingesetzt werden: in den 1970er-Jahren griff die Sowjetunion auf den Import amerikanischer Bewässerungsmaschinen zurück. Forderungen von Experten des Agrarministeriums und der wissenschaftlichen Institute für einen „rationalen Umgang mit Wasser“ oder die „Optimierung der Bewässerungsmethoden“ konnten die Vorstellung, dass die Wasserressourcen unbegrenzt seien, nicht überwinden. Ende der 1980er-Jahre war der Boden in vielen Gebieten versalzen und durch den übermäßigen Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln vergiftet.

OLGA MALINOVA-TZIAFETA (Erlangen-Nürnberg) betonte in ihrem Kommentar unter anderem, dass man in einer wissenschaftlichen Erzählung Ökologie und Ökonomie bzw. Politik gleichermaßen berücksichtigen solle, sonst entstünden oft Widersprüche. Die sich anschließende Diskussion thematisierte das Wasserwirtschaftsministerium (Minvodchoz) als Akteur und die Frage der Einschätzung der Planwirtschaft, deren Funktionieren differenziert beurteilt werden müsse. Ein großer Teil der an der Bewässerungspraxis geäußerten Kritik kam aus den Reihen der dafür zuständigen Experten selbst, sodass das Minvodchoz nicht eindeutig als Protagonist oder Antagonist charakterisiert werden könne.

ALIYA TONKOBAEVA (Bremen) analysierte die Bildung einer literarischen Form von Erzählung im sowjetischen Kasachstan in Reaktion auf die seit 1954 einsetzende Neulandkampagne. Drei Werke einflussreicher kasachischer Schriftsteller zeigen, dass das literarische Bild der Kasachen von der Steppe im Zeitlauf unverändert blieb. Dem Leser wurde der Prozess der Neulandgewinnung im Rahmen einer (quasi urban-)anthropozentrischen Wiederbelebung und Kultivierung der Steppe als historisch vorherbestimmtes Ereignis präsentiert. Latente Dichotomien wie Stadt–Steppe und Progressivität–Tradition waren mit der offenkundigen Dichotomie des Internationalismus versus kasachischen Nationalismus parallelisiert. Im Rahmen der Multiethnizitätsrhetorik der Partei galt das ideologische Triptychon „Stadt – Progressivität – Internationalismus“ als Antipode der geopferten kasachischen Tradition, (vielleicht) der Sprache und des Steppenlands.

CLEMENS GÜNTHER (Berlin) schilderte in seiner kulturwissenschaftlichen Analyse von sowjetischer Literatur und Filmen drei Motive, die für den kulturellen Diskurs um die Grenzen der Sowjetrepublik Turkmenistan relevant seien. Das extraplanetarische, das arktische und das südliche Motiv deuteten auf umstrittene Zugehörigkeitsvorstellungen in den 1920er- und 1930er-Jahren im turkmenischen Kontext hin. Die Zugehörigkeitsfrage beziehe sich dabei auf Fragen der Geographie, des Klimas und der Umwelt sowie auf Aspekte von Kultur, Gesellschaft, Identität und politischer Anthropologie. In all diesen Bereichen erscheine Turkmenistan als Schlachtfeld, auf dem das sowjetische Zivilisationsprojekt und archaische Kräfte zusammenstoßen. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen sei offener als man von der frühen stalinistischen Literatur erwarten würde. Die südlichen Grenzen Turkmenistans erscheinen als (von Migration) bedroht. Schon Dostojewski habe von einem offenen (asiatischen) Raum geschrieben, durch den die russische Seite transformiert werden würde. So ergab sich später in den 1920er- und 1930er-Jahren ein „geographischer Widerstand“, der die „proto-eurasischen“ Ansichten Dostojewskis vernachlässigte. Fast alle der vorgestellten Werke von Andrej Platonov u.a. enthielten mehrdeutige Persönlichkeiten und Erzählungen, die dazu beitrügen, Turkmenistan als Fremdkörper im sowjetischen Gemeinwesen zu charakterisieren.

Die Steppe in der Geschichte von MAYA PETERSON (Santa Cruz, Kalifornien) wurde als „Ort einer Synergie“ dargestellt. Die Verwendung von Kumys (einem zentralasiatischen traditionellen Getränk aus fermentierter Stutenmilch) galt seit 1884 sowohl im Russischen Reich als auch im Westen als Heilmittel. Der Vorschlag, das Heilgetränk gleichzeitig mit dem Aufenthalt in der Steppe als Kurort zu verbinden, war ein russische Idee. Ab Ende des 19. Jahrhunderts und besonders nach der Oktoberrevolution wurde die Verbindung von einem Aufenthalt in der Steppe und der Verabreichung von Kumys als Heilverfahren zur Behandlung von Tuberkulose, nervösen Erkrankungen, Anämie, Magenproblemen usw. eingesetzt und wissenschaftlich untersucht. Trotz der Uneinigkeit unter Medizinern über die Wirksamkeit des Verfahrens sind zur Sowjetzeit mehrere entsprechende Sanatorien in der Steppe gebaut und frequentiert worden.

In seinem Kommentar warf JENS HERLTH (Fribourg) unter anderem die Frage auf, ob Dostojewskijs „proto-eurasische“ Ideen tatsächlich von ihm oder doch von anderen Autoren stammten. Die Diskussion drehte sich unter anderem um Platonovs Kurzerzählung „Takyr“ (1934), die zeitgenössisch als zu kompliziert kritisiert worden sei und sein nächstes Werk „Heiße Arktik“, das laut Herlth als ein „rein politisches“ Werk geschrieben worden sei. Dagegen sei sein Essay „Takyr“ eine Geschichte, die mehr von Gedächtnis, Modernisierung, Entzückung und Zäsuren handele und weniger eine Geschichte, die von „Bedrohungen“ vom Süden her erzähle.

TATIANA VORONINA (Zürich) untersuchte, wie Fragen der Naturwahrnehmung und des Umweltmanagements auf den Seiten der sowjetischen Zeitschrift „Сельская молодежь“ (Ländliche Jugend) behandelt wurden. Dabei stellte sie unter anderem schon für die 1960er-Jahre eine Ästhetisierung der Natur fest, die ein Gegengewicht zum sozialistischen Realismus bildete. Fakt ist, dass die Dynamik der Entwicklung des ökologischen Denkens in den 1970er- und 1980er-Jahren keine großen Unterschiede zur Stadt aufwies. Gewinnbringend könnte in Zukunft eine Analyse der Leserbriefe sein, die die Besonderheiten der Wahrnehmung von Umweltthemen in ländlichen Gebieten aufzeigt.

Im abschließenden Kommentar hob JULIA OBERTREIS (Erlangen-Nürnberg) einige der auf der Konferenz vorgeschlagenen Konzepte hervor. Eines davon wird als „Erschließung der Steppe“ ins Deutsche übersetzt (osvoenie) und bedeutet, dass die Steppe nicht nur erobert, sondern auch durch Infrastrukturobjekte wie Straßen, Siedlungen oder Bewässerungssysteme entwickelt werden soll. „Eurasien“ (Eurasia) werde im Englischen vielfach verwendet, im Deutschen jedoch nur sehr zurückhaltend wegen unerwünschter politischer Konnotationen. Als sehr brauchbar erscheine der „Sedentarismus“, da er bei vielen der Konferenzbeiträge als kritisches und analytisches Instrument anwendbar sei. Forscherinnen und Forscher liefen Gefahr, die Steppe zu romantisieren. Wichtig sei daher, die Verluste und erfolgreichen Projekte bei der Entwicklung und Nutzung der Steppe gründlich abzuwägen. Schließlich bestehe zweifellos eine Spannung zwischen den häufig gewählten „nationalen“ Rahmen (etwa der Untersuchung einer bestimmten Sowjetrepublik) und der Steppe als per se transnationalem Raum.

Die Konferenz vermochte es einerseits, die sowjetische Steppe durch eine interdisziplinäre Lupe zu betrachten und anderseits, einen internationalen Austausch unter Einbeziehung von Forschenden aus Russland und Zentralasien zu vertiefen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung
Julia Obertreis (Erlangen-Nürnberg), Olivier Graefe (Fribourg)

Session 1

Stephen Brain (Mississippi): “The Wise Do Not Wait for Rain”: The Ecological Reform of Soviet Agriculture, 1924-1929

Alexander Chibilev (Orenburg): Steppe Eurasia: its space, diversity, destiny, future

Nazikbek Kydyrmyshev (Kyrgyzstan): Sedentarism and Soviet Historiography of the Steppe

Commentary: Mark Bassin (Stockholm)

Session 2

Stephan Rindlisbacher (Bern/Wisconsin): The Steppe as Object of Economical Exploitation and Screen of National Pride: The Contested Borders between Kazakhstan and Uzbekistan, 1956-1971

Adolat Rakhmakulova (Tashkent): The Hungry Steppe: The Population Transfer Politics of the Soviet State, 1920-1960

Timm Schönfelder (Tübingen): Making Stavropol’s Steppes Bloom: On the Promises and Perils of Soviet Irrigation Engineering

Commentary: Olga Malinova-Tziafeta (Erlangen-Nürnberg)

Visuelle Präsentation

Sergei Meshcheriakov (Moskau): Virgin Lands: Photographic Practices of Perception

Session 3

Aliya Tonkobaeva (Bremen): The Role of Literature in the Popularization of the Tselina Campaign in Soviet Kazakhstan, 1954-19644

Clemens Günther (Berlin): Breaking the Borders. The Boundaries of Early Soviet Literature on Turkmenistan

Maya Peterson (California): Curative Climates: The Soviet Steppe as a Place of Healing

Commentary: Jens Herlth (Fribourg)

Session 4

Mykola Homanyuk (Kherson): Tavrian steppe" as Universal Ideological Construct: From a Symbol of Triumph of Socialism to an Instrument of Decommunization

Tatiana Voronina (Zurich): From Tselina Steppes to the Swamps of ‘Non-Black Earth Soil’: on the ‘Rural Youth’ Magazine Coverage of State Politics in Agriculture, 1960-1970

Commentary: Christine Bichsel (Fribourg) via Julia Obertreis (Erlangen-Nürnberg)

Abschließende Session
Commentary: Julia Obertreis (Erlangen-Nürnberg)