Historisches Lernen und Materielle Kultur

Historisches Lernen und Materielle Kultur

Organisatoren
Abteilungen für Geschichtsdidaktik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und der Universität Bielefeld
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.06.2019 - 14.06.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Silja Leinung / Joana Hansen, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Der „New Materialism“ hat sich in den letzten Jahren in den Sozial- und Kulturwissenschaften als ein vielschichtiger und viel diskutierter Ansatz präsentiert, der Überlegungen zum Verhältnis von Menschen und Materie verhandelt. Letzterer wird dabei keine passive Rolle in Abgrenzung zum aktiv agierenden Menschen zugeschrieben, sondern das Zusammenwirken von beidem konstituiere die Gesellschaft und ihren Wandel. Obwohl inzwischen bereits erörtert wurde, ob von einem „material turn“ die Rede sein könne1, und obwohl die neue Bedeutungszuweisung von Objekten gerade in historischer Perspektive ertragreich erscheint, haben sich Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik bisher nur im Ansatz mit den Chancen und Herausforderungen des „New Materialism“ befasst. Einen Raum, um diese theoretisch-konzeptionellen und empirischen Überlegungen ebenso wie Praxisbeispiele zum „New Materialism“ in Perspektive des historischen Lernens zu bündeln, gab die Tagung „Historisches Lernen und Materielle Kultur“, welche in Kooperation der Abteilungen für Geschichtsdidaktik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und der Universität Bielefeld veranstaltet wurde.

In ihren einführenden Worten warfen SEBASTIAN BARSCH (Kiel) und JÖRG VAN NORDEN (Bielefeld) die Frage nach den Potentialen des „New Materialism“ für historisches Forschen und Lernen vor dem Hintergrund dessen auf, dass dieser die Möglichkeit berge, Denkprozesse anzuregen, um den Konstruktcharakter von Geschichte hervorzuheben. So wurde auch die Frage aufgeworfen, ob mit den neuen theoretischen Ansätzen auch grundlegend neue epistemologische Perspektiven auf Objekte und Dinge aufgeworfen werden, die es geschichtsdidaktisch zu reflektieren gelte.

IRIS VAN DER TUIN (Utrecht) plädierte in ihrer Keynote in Anlehnung an Jean- François Lyotard dafür, „die Annahme eines wissenden, willigen und sich selbst kontrollierenden Subjekts“ zugunsten einer Beteiligung von Objekten an der Konstruktion von Geschichte zu verabschieden. Objekte existierten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, seien zugleich aktiv an der Arbeit von Wissenschaftler/innen beteiligt und reflektierten diese; auf Subjekte sei deshalb aber trotzdem nicht zu verzichten.

ANDREA BRAIT (Innsbruck) präsentierte erste Tendenzen ihrer Untersuchung zum Verhältnis von Einstellungen Lehrender bzw. Kulturvermittelnder und der praktischen Umsetzung im Museum: Beiden Berufsgruppen sei die Relevanz der Begegnung mit historischen Objekten bewusst, Lehrende kritisierten jedoch den nicht ausreichenden Einbezug der Objekte in die Vermittlungsarbeit. Von Lernenden wurde im Anschluss an Museumsbesuche auf die Frage nach dem Gelernten sowohl über historische Inhalte als auch über Objekte oder Museum(sarbeit) berichtet. Brait stellte darum die These auf, dass sich die Erwartungen der Lehrenden und Kulturvermittelnden nicht mit der praktischen Durchführung decken, sich unterschiedliche Vermittlungsprogramme aber auf die Performanz der Lernenden auswirken.

HEIKE KRÖSCHE (Linz) verwies auf die Bedeutung von Objekten für das frühe historische Lernen, da den Lernenden zu Schulbeginn bereits bewusst sei, dass es Überreste aus verschiedenen Zeiten gibt und Quellen als Informationsträger fungieren, da Sachquellen das Potential eines „sinnlich-ganzheitliches Lernens“ besitzen, welches momentan jedoch noch nicht ausgeschöpft werde. Gerade der Sachunterricht, in dem „die Sache“ der Kern des Fachs sei, sei darum geeignet, um historisches Denken und die Einsicht in den Konstruktcharakter von Geschichte anzubahnen.

THORSTEN HEESE (Osnabrück) hob das Potential von Museen hervor, im Zeitalter der digitalen Revolution als "analoger Anker kultureller Bewusstseinsbildung" zu fungieren, in dessen Zentrum das historische Objekt stehe, welche sich durch ihre Haptik, Ästhetik, Authentizität und Emotionalität auszeichne und damit von Virtualität abhebe. Eine „museumspädagogische Doppelstrategie“ sei darum notwendig, welche sowohl die authentischen Objekte als auch digitale Informationsmöglichkeiten beachte.

ANDREAS BENZ (Freiberg) berichtete von seinen praktischen Erfahrungen aus der Arbeit mit Objekten der Kustodie der Technischen Universität Bergakademie Freiberg in der studentischen Lehre. Studierende haben dort die Gelegenheit, sich mit den Objekten, ihrer Beschaffenheit und ihrer Rolle im Wandel der Zeit im Rahmen der Arbeitsfelder Sammeln, Bewahren und Ausstellen zu befassen.

AGNIESZKA PUFELSKA (Lüneburg) schob ihrem Vortrag die Bemerkung vor, dass der „New Materialism“ wichtig sei, um Sachquellen nicht als passiv zu deuten, es aber noch unklar sei, welche konkreten neuen Theorien der „New Materialism“ dazu biete, da er der materialistischen Kritik nicht viel Neues hinzuzufügen habe. Anschließend zeigte sie am Beispiel des Museums im polnischen Olsztyn, wie ein ehemals deutsches Heimatmuseum mit stark betriebener Identitätspolitik nach 1945 zu einem polnischen Regionalmuseum mit passendem polnischen Narrativ umgedeutet wurde, in dem zwar auf die deutsche Vergangenheit hingewiesen wird, jedoch mit den Deutschen lediglich als Besatzungsmacht. Die Ausstellungsstücke selbst, die zum Großteil Alltagsgegenstände waren, traten dabei in den Hintergrund, der Kontext war wichtiger als der epistemologische Stellenwert. Das 1927 gegründete Heimatmuseum sollte als Volksbildungsanstalt dienen, dem ein patriotisches Narrativ aufgezwungen wurde, so Pufelska.

WINFRIED FREITAG (München) verglich die Arbeiten Bruno Latours und Theodore Schatzkis und betonte dabei vor allem ihre Gemeinsamkeiten. So plädierten beide für die Aufhebung der Trennung von der Ebene der Individuen und der Ebene der Strukturen, Systeme und Institutionen, zu der auch das Materielle gehöre. In Bezug auf die Akteur-Netzwerk-Theorie aber weise Schatzki im Gegensatz zu Latour der menschlichen „Agency“ eine Sonderrolle zu und unterscheide diese von der kausalen „Agency“ der Dinge. Ein weiterer Unterschied zeige sich bei den Praktiken, denen Latour keine große Bedeutung beimesse. Für Schatzki hingegen seien Praktiken unausweichlich mit menschlichem Zusammenleben und den Dingen verbunden, diese These bilde den Kern seines „social sites“-Ansatzes.

CHRISTINA ANTENHOFER (Salzburg) erörterte in ihrer Keynote die Potentiale und Herausforderungen der Akteur-Netzwerk-Theorie in der Geschichtswissenschaft. Mit der Perspektivverschiebung hin auf die Dinge gehe einher, dass deren „Sprache“ und damit ihr Wert als informationstragende Quelle ernst genommen werden müsse. Das meine sowohl die „Agency“ als auch die „Aura“ und den „Eigensinn“ der Dinge. Gleichwohl sei nicht außer Acht zu lassen, dass die Anwendung dieser Theorie ethische Problemstellungen ins Bewusstsein rufe. Hier spielte Antenhofer unter anderem auf den Posthumanismus, einen naiven Positivismus, die Dingmystik und die Abwälzung von Verantwortung an.

CHRISTOPH KÜHBERGER (Salzburg) lieferte einen Einblick in seine ethnografische Untersuchung in österreichischen Kinderzimmern, die Fragen nachging wie „Woher kommen die Geschichtsvorstellungen der Kinder? Was erwarten sie?“. Diese Fragen rückten in den Fokus, da auch Spielzeuge, Games, Cartoons, Kindersachbücher oder Dokumentationen geschichtskulturelle Produkte darstellen, die mit Narrationen belegt sind. Somit wurde versucht, mehr über das informelle historische Lernen, also außerhalb der Schule oder z. B. des Museums, zu erfahren. Empirische Befunde lagen noch nicht vor, doch zeigte Kühberger anhand eines Fallbeispiels, dass es zur Neubesetzung „historischer“ Gegenstände, hier eine Ritterburg, kommen kann, die nämlich von ihrem Besitzer, einem 12jährigen Jungen, nicht in ihrem historischen Setting, sondern eher als „Spielunterlage“ verwendet wurde.

Im Zentrum des Vortrags von WIEBKE HIEMESCH (Hildesheim) stand das Konstrukt der „Kinderkulturen“, das in der Forschung traditionell als Dyade zwischen „structure“, also der von Erwachsenen geschaffenen Angebote und Rahmen, und der „Agency“ der Kinder, ihren kulturellen Ausdrücken, gesehen werde. Hiemesch schlug darüber hinaus vor, Dinge stärker konstitutiv an sozialen Prozessen beteiligt zu sehen und somit die „Kinderkultur“ als eine Triade zu verstehen. Diese Triade wurde am Beispiel des israelischen Kunstprojektes „Bridging the Gap“ des Youth Wing Museum in Jerusalem erläutert, in dem israelische und arabische Kinder gemeinsam die Geschichte Israels in Bezug auf Mode nonverbal durch den Umgang mit Materialien neu verhandeln konnten.

THOMAS MARTIN BUCK (Freiburg) verdeutlichte, basierend auf Kant, den Vorgang der „Begegnung“ und „Berührung“ durch Dinge oder Sachquellen, die Anstoß zu einer Interpretation bieten, anhand von „Shin's Tricycle“, dem Dreirad eines japanischen Jungen, das heute im Peace Memorial Museum in Hiroshima ausgestellt ist. Obwohl der Begriff der Begegnung vordergründig für eine Beziehung zwischen Subjekten steht, würde Buck auch in dieser Subjekt-Objekt-Beziehung von einer Begegnung sprechen, da das Dreirad eine repräsentative Funktion erfülle. Man begegne also eigentlich nicht dem Ding, sondern über den Gegenstand begegne man dem Menschen. Zu bedenken gelte in diesem Kontext, dass sich auf die Begegnung auch die in der Ausstellung dargebotene Narration und der Ort der Präsentation mit auswirken.

BRITTA HOCHKIRCHEN (Bielefeld) forderte vor dem Hintergrund der Frage, wie anhand von Objekten über Geschichte mit Hilfe der Kulturtechnikforschung im Museum reflektiert werden könne, eine „Entauratisierung“ und „Entsockelung“ der Objekte zugunsten der Anbahnung einer „narrativen Kompetenz jenseits einer linearen (monokausalen) Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ Hochkirchen veranschaulichte dies anhand des Lernprozesses an der Kinderwiege von Peter Keler aus dem Bauhausmuseum in Weimar.

GEORG MARSCHNIG (Graz) referierte über das Potential, ein Gebiet wie den Grazer Stadtpark gleichermaßen als Erinnerungs- wie Lernlandschaft (als App) zu modellieren, so dass der didaktische Mehrwert von gegenständlichen Quellen als „Zeichen der kollektiven Erinnerung“ im Sinne eines „doppelten zeitgeschichtlichen Lernens zwischen Geschichte und Gedächtnis“ genutzt werden könne. Ziel sei dabei, dass Lernende Denkmäler beschreiben, analysieren und Narrative erkennen sowie den Phasen der Gedächtniskultur zuordnen und deren Wirkung auf Betrachtende bewerten könnten.

JOHANNES GROßEWINKELMANN (Goslar) stellte am Beispiel der Arbeit im Bergwerkkomplex Rammelsberg die Möglichkeit vor, Architektur zu vermitteln, indem die Aura des Ortes emotional aufgegriffen werde um daran anknüpfend das Gebäude zu rekonstruieren und zu erklären. Dabei sei das Ziel nicht, die intendierte emotionale Wirkung des Gebäudes in die heutige Zeit fortzuführen, sondern über die Emotionen im Zusammenspiel mit dem musealen Bruch zur Kognition zu gelangen.

Die Tagung zeigte, so war man sich auch in der Abschlussdiskussion einig, zahlreiche Möglichkeiten zum Umgang mit dem „New Materialism“ in der Geschichtswissenschaft und damit die Relevanz des Themas inklusive seiner Denk- und Konzeptionsmöglichkeiten, aber auch den Prozess- und Findungscharakter auf, in dem man sich zurzeit befindet. Für diese bot die Tagung die Möglichkeit zum Austauschen und Weiterdenken und damit auch dazu, Positionen weiterzuentwickeln. Die noch fehlende Diskussion innerhalb der Geschichtsdidaktik wurde positiv als die Chance und damit einhergehend auch die Aufgabe eines offenen zu beginnenden Diskurses gedeutet, welcher sich vor allem in den Fragen bündeln lassen kann, wie genau der „New Materialism“ didaktisch fruchtbar gemacht werden könne und welche Bedeutung Körperlichkeit und Haptik als affektiv-ästhetische Variante zum Umgang mit Geschichte für die Kognition haben. Erste Anstöße zur Bearbeitung all dieser Fragen und damit zum Anstoß dieses Diskurses lieferte die Tagung mitsamt ihren vielfältigen Tagungsbeiträgen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Sebastian Barsch (Kiel), Jörg van Norden (Bielefeld)

Keynote I
Iris van der Tuin (Utrecht): Orientation in Onto-Epistemology

Panel I: Materialität im Unterricht

Andrea Brait (Innsbruck): „Er hat viel zu erzählen, ohne die Objekte einzubeziehen.“ Einstellungen von Lehrkräften und Kulturvermittlerinnen bzw. -vermittlern vs. praktische Durchführung – ein Gegensatz?

Heike Krösche (Linz): Zur Bedeutung von Objekten der materiellen Kultur für das frühe historische Lernen

Panel II: Materialität im Museum (Pragmatik)

Sektion I

Thorsten Heese (Osnabrück): „3D“ – Der historische Lernort Museum zwischen Authentizität und Virtual Reality

Andreas Benz (Freiberg): Arbeit mit Objekten an der TU Bergakademie Freiberg

Sektion II

Agnieszka Pufelska (Lüneburg): Gesammelte Erinnerungen – vom deutschen Heimatmuseum zum polnischen Regionalmuseum (1918-1956)

Winfried Freitag (München): Von Bruno Latours Assoziationen zu Theodore Schatzkis social sites

Keynote II
Christina Antenhofer (Salzburg): Die Akteur-Netzwerk-Theorie und ihre Anwendung im Kontext der Geschichtswissenschaften: Potentiale und Herausforderungen

Vortrag und Führung im Flandernbunker Kiel
Jens Rönnau (Kiel): “Historisches Lernen und Materielle Kultur – das Beispiel Flandernbunker”

Panel III: Kindheit und Spielzeug

Christoph Kühberger (Salzburg): Informelles Lernen mit Spielzeug? Ethnographische Beobachtungen zu Geschichtsdarstellungen im Kinderzimmer

Wiebke Hiemesch (Hildesheim): Kinderkultur und ihre Materialität – Artefakte als Quellen einer „Geschichte der Kinder“

Panel IV: Materialität im Museum – theoretische Perspektiven

Thomas Martin Buck (Freiburg): Von der Immanenz zur Transzendenz der Dinge. Ein Exponat des „Peace Memorial Museum“ in Hiroshima und seine symbolische Bedeutung

Britta Hochkirchen (Bielefeld): Ausstellungsobjekte auf dem Sockel des New Materialism: Möglichkeiten und Grenzen in Hinblick auf das historische Lernen im Museum

Panel V: Architektur und Denkmallandschaft

Georg Marschnig (Graz): Historisches Lernen im Park: Der Grazer Stadtpark als Erinnerungslandschaft und außerschulischer Lernort

Johannes Großewinkelmann (Goslar): Bauen für Hitlers Wahn – Zur Vermittlung von Architektur in Besucherführungen am Weltkulturerbe Rammelsberg

Abschlussdiskussion
Sebastian Barsch (Kiel), Jörg van Norden (Bielefeld)

Anmerkung:
1 Folkers, Andreas, Was ist neu am neuen Materialismus? – Von der Praxis zum Ereignis, http://www.fb03.uni-frankfurt.de/51056432/Folkers-2013-neuer-Materialismus.pdf (29.07.2019).


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