Kriegstrennungen im Zweiten Weltkrieg – Familienzerstörung zwischen „Kollateralschaden“ und Biopolitik

Kriegstrennungen im Zweiten Weltkrieg – Familienzerstörung zwischen „Kollateralschaden“ und Biopolitik

Organisatoren
Wiebke Lisner, Medizinische Hochschule, Hannover; Lu Seegers, Universität Hamburg; Cornelia Rauh, Leibniz Universität Hannover
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.07.2019 - 11.07.2019
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Von
Jonathan Voges, Historisches Seminar, Leibniz Universität Hannover

Liest man die Informationen, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu „unbegleiteten Minderjährigen“ veröffentlicht, so zeigt sich, dass man bestrebt ist, einem Phänomen kriegsbedingter Trennung bürokratisch beizukommen. Man spricht von „Clearinghäusern“ mit Expertise in der Betreuung unbegleiteter Minderjähriger, erläutert das „Erstscreening“ während der „vorläufigen Inobhutnahme“, legt dar, wie Altersbestimmungen erfolgen, und verweist auf den Weg hin zur Bestellung eines Vormunds, der den oder die Jugendliche auf dem Weg zum Asylantrag begleiten soll.1 Was in diesen amtlich knappen Ausführungen keine Rolle spielt, ist, welche Folgen kriegsbedingte Trennungen nicht nur für das Individuum, sondern für die Gesellschaft insgesamt haben. Worum es allein geht, ist der Versuch, derartige Schicksalsschläge bürokratisch einzuhegen und in eine neue Ordnung nach der Trennung von der Familie zu überführen.

Nun sind kriegsbedingte Trennungen von und der Familie(n) kein Phänomen der Gegenwart; insbesondere das 20. Jahrhundert, und hier vor allem der Zweite Weltkrieg, kennt eine Unzahl unterschiedlich bedingter, erlebter und verarbeiteter Kriegstrennungen. Der von WIEBKE LISNER (Medizinische Hochschule, Hannover), LU SEEGERS (Universität Hamburg) und CORNELIA RAUH (Leibniz Universität Hannover) organisierte und von der DFG finanzierte Workshop „Kriegstrennungen im Zweiten Weltkrieg – Familienzerstörung zwischen ‚Kollateralschaden‘ und Biopolitik“ nahm sich genau diesen Fragen an.

Bereits in der Einleitung betonte Lisner die Breite der möglichen kriegsbedingten Trennungen, die vom überzeugten nationalsozialistischen Soldaten an der Front bis zum jugendlichen Ghettoinsassen, der den Verlust der eigenen Familie im Tagebuch zu verarbeiten suchte, reichten. Schon diese pointierten Ausführungen machten deutlich, dass die Trennung von der Familie im Krieg eben nicht die Ausnahme, sondern – in den unterschiedlichsten Formen, die die Referent/innen während des Workshops thematisierten – zum Normalfall wurden. Gerade die Trennungen von Familien, so Lisner, lasse es sinnbringend erscheinen, darüber zu diskutieren, was überhaupt unter Familie verstanden wurde, wie die Akteur/innen sie für sich definierten, wer dazu gehörte, wer nicht (mehr) und in welcher Form man sie sich wieder aufbauen wollte, sobald es die Umstände erlaubten – oder eben auch nicht.

An die Einleitung schloss sich eine Keynote von TATJANA TÖNSMEYER (Bergische Universität Wuppertal) an, die aus der Perspektive der Besatzungsgeschichte viele der vorgestellten Anregungen aufnahm und betonte, dass bei den vorgestellten Fragestellungen insbesondere auch eine stärkere Betonung des emotionalen Gehalts der Geschichte nottue. Neben eine „Geschichte der großen Zahlen“ müsse auch die Analyse der sozialen Zugehörigkeiten treten; was bedeutete die „Abwesenheit von Männern, Frauen, Kindern Jugendlichen“ für die „Rumpffamilien“? Welcher Dynamik bzw. Chronologie unterlagen Kriegstrennungen, wenn aus vorläufigen endgültige Trennungen wurden, wenn es auch nach dem Krieg weiter zu Trennungen kam bzw. schon vorhandene nicht aufgelöst werden konnten? Was ergibt sich, wenn die Perspektive nicht mehr allein auf die Kinder-Eltern-Beziehung fokussiert, sondern auch alte Menschen mit in den Blick nimmt, der Blick sich also über die klassische Kernfamilie hinaus erweitert? Tönsmeyer plädierte mit ihrer anregenden Keynote so für eine Verknüpfung einer Wirtschaftsgeschichte des Mangels mit einer Emotionengeschichte der Besatzung.

In der ersten Sektion des Workshops standen „Familien im nationalsozialistischen Rassenkrieg“ im Fokus. ISABEL HEINEMANN (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) stellte dabei die „Familie als Relais der nationalsozialistischen In- und Exklusionspolitik“ vor. Mit dieser auf den ersten Blick sehr technisch klingenden Metaphorik unterstrich Heinemann die Bedeutung der Familie als „Ort der In- und Exklusion“ und damit auch als „zentrale Schaltstelle der Ordnung“ des Nationalsozialismus und „Grundeinheit der ‚Germanisierung‘“. MAREN RÖGER (Universität Augsburg) präsentierte ein vielsagendes Fallbeispiel, das sowohl Familientrennung wie auch Versuche einer Familienneugründung enthielt. Anhand einer Mikrogeschichte der Familie(n) Fischotter vorm, während und nach dem Zweiten Weltkrieg gab Röger einen konzentrierten Blick auf das Phänomen der sogenannten „Ostehen“, die zwar von Seiten der Behörden nicht gern gesehen waren, aber toleriert wurden – problematisch wurde es erst, als Fischotter versuchte, die Beziehung zu legitimieren. Dessen Tod am Ende des Krieges bedeutete für seine neue Frau, dass sie nicht nur ihren Mann verlor, sondern auch in eine Gesellschaft zurückkehrte, die „Kollaborateur/innen“ zutiefst misstrauisch gegenüberstand. DIETMAR SCHULZE (Leipzig) nahm sich einem Teilaspekt der Geschichte der „Umsiedlung“ der Bessarabiendeutschen ins Reich an. Er fragte gezielt danach, was dieser Prozess für chronisch kranke Familienangehörige bedeutete. Auch Schulze arbeitete mikrohistorisch und am Fallbeispiel und diskutierte, wie Familien sich darum bemühten, Kriegstrennungen durch die Zurückholung ihrer Angehörigen in ihren Kreis rückgängig zu machen, wie sie dabei gegen die Mühlen der Bürokratie zu kämpfen gezwungen waren und zum Teil nationalsozialistische Argumentationsmuster übernehmen mussten.

In der Diskussion wurde deutlich, dass alle drei Vorträge zu einer breiteren Diskussion darüber einladen, was eigentlich jeweils unter Familie zu verstehen ist; gerade das Fehlen eines oder mehrerer Teile einer Familie forderte dazu auf, zu diskutieren, was im jeweiligen historischen Kontext unter einer "kompletten" Familie verstanden wurde. Geht es um Wirtschafts-, Rechts-, Verantwortungs- oder Solidareinheiten oder vielmehr um Gruppen mit spezifischen Zugehörigkeits- und Loyalitätsgefühlen? Oder alles zugleich?

Das zweite Panel griff nochmals die in Sektion 1 angesprochenen Themen auf und erweiterte sie um weitere analytische Tiefenbohrungen. OLGA RADCHENKO (Bogdan Chmelniziki-Universität, Tscherkassy, Ukraine) stellte in ihrem Beitrag die Bedeutung, so lange er noch möglich war, des Post- und Paketverkehrs für getrennte jüdische Familien diesseits und jenseits der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie bis 1941 heraus. Gleichzeitig führte sie auch die Versuche der Familienzusammenführungen vor Augen und zeigte die emotionalen Herausforderungen, die auf Vorwürfe des Desinteresses an der zurückgelassenen Familie herrührten, auf. Radchenko machte so deutlich, wie staatlich hervorgerufene Kriegstrennungen als familiärer Konflikt umgedeutet und Familienmitglieder zu Schuldigen der Trennung erklärt wurden – auch um so Trennungen in ein Interpretationsmuster einzuordnen, das leichter fassbar zu sein schien. (Eine Strategie mit Kriegstrennungen umzugehen, die sich auch in anderen Fällen finden lässt.) CARLOS HAAS (Institut für Zeitgeschichte, München) stellte in seinem Beitrag zu Familien(trennungen) in den nationalistisch kontrollierten Gettos den zunächst widersprüchlich erscheinenden Befund vor, dass die Familie in dieser Sondersituation sowohl ein Überlebensgarant sein, wie auch, je nach Kontext, gerade die Loslösung von der Familie das eigene Überleben sichern konnte (wenn auch auf Kosten anderer Familienmitglieder). Anhang einzelner Fallbeispiele und mikrohistorischer Einblicke betonte Haas die Bedeutung von Emotionen für eine Alltagsgeschichte der Gettos, die insbesondere im Kontext familiärer Trennungen zum Tragen kamen und wirkmächtig wurden. Gleichzeitig plädierte er gegen eine „Überidealisierung“ des familiären Zusammenhalts im Getto und forderte einen differenzierteren Blick auf das Familienleben in der Extremsituation des Gettos. MARCEL BRÜTNRUP (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) diskutierte die ambivalente Rolle von Familien für den Zwangsarbeiter/inneneinsatz. Sahen die deutschen Behörden zunächst davon ab, Familien zu verschleppen und zur Arbeit zu zwingen, wandelte sich diese Einstellung mit der Zeit. In der Annahme, dass Zwangsarbeiter/innen im Familienverbund eine bessere Arbeit leisten würden, waren es vor allem pragmatische Gründe, die diese Abkehr von einer rigoros verfolgten Familientrennungspolitik bedingten.

Alle Beiträge in diesem Panel zeigten auf, wie Familien als Agenturen von Engagement für den jeweils anderen fungierten; damit zusammen hing auch, dass Familie als Ressource wirkte – und das sowohl für die Familienangehörigen selbst wie auch für den deutschen Staat, der sich derartige Loyalitäts- und Verantwortungsgemeinschaften zunutze zu machen suchte.

Die dritte Sektion nahm sich „Familientrennungen als ‚Kriegskollateralschaden‘“ an und fragte dabei vor allem nach den Auswirkungen familiärer Trennungen auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft. KATERINA PIRO (Universität Mannheim) fragte so z.B. wie sich der Krieg und dessen Folgen auf die Familiengründung auswirkte und untersuchte kriegsbedingte „unrealisierte Geburten“ und deren Zusammenhang insbesondere mit der Abwesenheit des (Ehe-)Mannes von der eigenen Familie. Auf Grundlage von Egodokumenten erarbeitete Piro Fertilitätsbiographien und versuchte diese mit erfahrungsgeschichtlichen Ansätzen zusammenzuführen. CHRISTIAN PACKHEISER (Institut für Zeitgeschichte, München) nahm sich eines bestimmten Zeitraums während des Krieges an, der der Familiengründung – oder zumindest der Zeugung von Kindern – diente: dem Fronturlaub. Er fragte zum einen nach der Rolle des Fronturlaubs als zeitliche befristete Unterbrechung der Familientrennung für die Kriegsanstrengungen, besprach gleichzeitig auch die sich ergebenden Schwierigkeiten bei der Wiederbegegnung von Ehefrauen und ihren heimkehrenden Ehemännern und wie diese zu umgehen oder zumindest zu managen seien und stellte heraus, dass gerade das Zeugen von Kindern ein zentrales Ziel des Fronturlaubs sein sollte. Eine wiederum andere Perspektive wählten KATHRIN KIEFER und MARKUS RAASCH (beide Johannes Gutenberg-Universität, Mainz), die sich mit Kriegserfahrungen aus der Perspektive von Kindern beschäftigten. In ihrer Analyse zahlreicher Egodokumente von Kindern und an Kinder kondensierten sie eine breite Palette an unterschiedlichen Formen der Erfahrung von und des Umgangs mit kriegsbedingten Trennungen und fragten gleichzeitig, was sich daraus für neue Rollenbilder für Jungen und Mädchen in unterschiedlichen Lebensaltern ergab.

Der Workshop schloss mit einer Sektion, die sich Bewältigungsversuchen von Kriegstrennungen annahm. So präsentierte SYLVIA NECKER (LWL-Preußenmuseum, Minden) eine Analyse von Fotoalben deutsch-jüdischer Familien und machte deutlich, wie auf diesen Familien(an)ordnungen auf Dauer fixiert wurden. Zwar seien Trennungen nur äußerst schwer bildlich festzuhalten, doch gab es bestimmte Formen des Fotografierens, die genau das thematisierten: So wurden im Vorfeld der Deportation Alben über all das angelegt, was man zu verlieren drohte, oder nach der Emigration auf den Bildern alternative Familienstrukturen inszeniert. SERAFIMA VELKOVICH (Hebrew University of Jerusalem/ Yad Vashem) sprach nicht nur aus der Perspektive der Wissenschaftlerin, sondern auch aus der Position derjenigen, die in der Gedenkstättenarbeit aktiv daran mitarbeitet, auch nach langer Zeit Familienzusammenführungen zu ermöglichen. Sie stellte ein Fallbeispiel aus der eigenen Arbeit vor, legte dar, wie viele unterschiedliche Institutionen und Personen aktiviert werden müssen, um die entsprechenden Informationen zu sammeln, und zeigte eindrücklich mit welchen Emotionen derartige Wiedervereinigungsgeschichten verbunden sein können. Quasi als Gegenbild zu den Fotografien der Trennung, die Necker vorgestellt hatte, werden diese Begegnungen wieder fotografisch festgehalten und wie Aufhebungen der Kriegstrennung für das Bild inszeniert, wie die Referentin erläuterte.

In der Abschlussdiskussion wurde nochmals deutlich die Bedeutung der Emotionsgeschichte herausgestellt; gleichzeitig zeigte sich auch, dass sich der mikrogeschichtliche Ansatz als eine Art Königsweg zur Erforschung der gewählten Fragestellungen zu erweisen scheint. Gleichzeitig müsse aber auch gefragt werden, wie man von da aus wieder zu allgemeineren Aussagen zur Rolle von Kriegstrennungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts komme. Ein weiterer Punkt, der stark diskutiert wurde, betraf die Frage nach den Familienkonzepten, die den unterschiedlichen Beiträgen zugrunde lagen. Was verstand man jeweils im historischen Kontext unter Familie, wessen Fehlen galt „Familientrennung“ im adressierten Sinne und was bedeutete das jeweils für die Familie als Wirtschafts-, Rechts- und Emotionsgemeinschaft?

Konferenzübersicht:

Einführung:
Wiebke Lisner, Medizinische Hochschule Hannover

Keynote:
Tatjana Tönsmeyer (Bergische Universität Wuppertal): Kriegstrennungen und Familienzerstörungen: Aspekte eines außeralltäglichen Alltags europäischer Besatzungsgesellschaften, 1939–1945

Sektion 1: Familien im nationalsozialistischen Rassenkrieg I
Moderation: Elizabeth Harvey (University of Nottingham)

Isabell Heinemann (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Die Familie als Relais der nationalsozialistischen In- und Exklusionspolitik

Maren Röger (Universität Augsburg): „Ostehen“: Besatzungsalltag und politische Regulierung

Dietmar Schulze (Leipzig): „Volksdeutsche“, Umsiedlung und „Euthanasie“

Sektion 2: Familien im nationalsozialistischen Rassenkrieg II
Moderation: Heiko Stoff (Medizinische Hochschule Hannover)

Olga Radchenko (Bogdan Chmelnizki-Universität, Tscherkassy, Ukraine): Getrennte jüdische Familien beiderseits der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie, 1939–1941

Carlo Haas (Institut für Zeitgeschichte, München): Familienleben im Getto: Solidarität und Egoismus?

Marcel Brüntrup (Westfälische Wilhelms-Universität, Münster): Keine Familien? Osteuropäische Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder zwischen Zwangstrennung und Familienzusammenführung, 1940–1945

Sektion 3: Familientrennungen als „Kriegskollateralschaden“
Moderation: Johannes Hürter (Institut für Zeitgeschichte, München)

Katarina Piro (Universität Mannheim): Die Front-Urlaubslotterie. Familiengründung im Krieg zwischen Kollateralschaden und geglückter Selbstverwirklichung

Christian Packheiser (Institut für Zeitgeschichte, München): Heimaturlaub – Soldaten zwischen Front, Familie und NS-Regime

Kathrin Kiefer/Markus Raasch (Johannes Gutenberg-Universität Mainz): Die feinen Unterschiede. Familie und Krieg in sozialer Differenzierung

Sektion 4: Von der Kriegstrennung zum Kriegsverlust? – Bewältigungsversuche
Moderation: Cornelia Rauh (Leibniz Universität Hannover)

Sylvia Necker (LWL-Preußenmuseum, Minden): Fixierte Familienordnungen. Die Bedeutung von Fotografien und Alben für deutsch-jüdische Familien im Kontext von Emigration und Exil in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Serafima Velkovich (Hebrew University of Jerusalem; Yad Vashem): „We believed we were the only ones” – case study of Jewish family, divided by WWII and Iron Curtain as an example of relatives searchinv by Polish Jews

Abschlussdiskussion
Lu Seegers (Universität Hamburg) und Wiebke Lisner (Medizinische Hochschule Hannover)

Anmerkung:
1 Vgl. http://www.bamf.de/DE/Fluechtlingsschutz/UnbegleiteteMinderjaehrige/unbegleitete-minderjaehrige-node.html (07.09.2019).


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