Kriminalitätsgeschichte Zentraleuropas

Kriminalitätsgeschichte Zentraleuropas

Organisatoren
Volker Zimmermann, Collegium Carolinum – Forschungsinstitut für die Geschichte Tschechiens und der Slowakei, München; Rudolf Kučera, Masarykův ústav a Archiv AV ČR (Masaryk-Institut und Archiv der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik)
Ort
Prag
Land
Czech Republic
Vom - Bis
20.06.2019 - 21.06.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Václav Šmidrkal, Masarykův ústav a Archiv AV ČR (Masaryk-Institut und Archiv der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik)

Die Geschichte von Kriminalität und gesellschaftlicher Devianz ist seit langem ein boomendes, thematisch und methodisch innovatives Forschungsfeld. Zu Zentraleuropa, etwa zu Polen und der Tschechoslowakei, sind ebenfalls Arbeiten entstanden, die über diesen Zugang nicht nur Erkenntnisse über Verbrechen, Täter und Bestrafung geliefert, sondern neue Perspektiven auf politische und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungen eröffnet haben. Zu nennen sind hier Arbeiten zur Geschlechtergeschichte, zu Juden und Roma im 19. und 20. Jahrhundert sowie zu Kriminalitäts- und Devianzdiskursen im Staatssozialismus.

Gleichwohl sind für Zentraleuropa noch eine vergleichsweise geringe Zahl solcher Studien und kaum Schwerpunktbildungen und Vernetzungen von Historikerinnen und Historikern zu erkennen, die auf diesem Gebiet arbeiten. Der Workshop hatte daher das Ziel, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit einem solchen Forschungsinteresse zusammenzuführen. Auf diese Weise sollten Stand und Perspektiven dieses Forschungsfeldes am Beispiel der Geschichte der böhmischen Länder, Polens, Deutschlands und der Habsburgermonarchie eruiert und diskutiert werden. Neben der Schaffung eines Rahmens zur Präsentation aktueller Projekte und/oder Ergebnisse diente der in der Arbeitsstelle Prag des Collegium Carolinum und in der Villa Lanna der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik veranstaltete Workshop auch dazu, die Chancen solcher Forschungsperspektiven für eine Kultur- und Gesellschaftsgeschichte in dieser von vielfältigen ethnischen Nachbarschaften geprägten Region zu erörtern.

In einer einführenden Podiumsdiskussion stellten GERD SCHWERHOFF (Dresden) und VOLKER ZIMMERMANN (München/Düsseldorf) grundlegende Charakteristika der Kriminalitätsgeschichte vor. Ein Impuls zu ihrer Entwicklung sei zunächst eine Abgrenzung gegenüber der (Straf-)Rechtsgeschichte gewesen, die sich vor allem der Erforschung von Rechtsnormen gewidmet und nicht genügend die Rechtspraxis berücksichtigt habe. Die Kriminalitätsgeschichte befasse sich zwar auch mit institutionellen Zusammenhängen, zu denen das Strafrecht wie auch staatliche Akteure gehörten, gleichzeitig verfolge sie aber stärker die Alltagsebene. Die Analyse der Veränderungen des institutionellen Rahmens wie der Praxis ermögliche es, den historischen Wandel von Normen und die (In-)Stabilität gesellschaftlicher Ordnungen zu erforschen – also etwa zeitgenössische Moral- und Ordnungsvorstellungen, denen Normen entspringen, ebenso wie deren Schutz sowie ihre Umgehung oder Auflösung. Zu beleuchten sei nicht nur der Prozess der Kriminalisierung und der Entkriminalisierung bestimmter Handlungen, die als gesellschaftlich gefährlich (oder eben nicht mehr problematisch) erachtet würden, sondern auch der Kriminalisierung gesellschaftlicher Gruppen aufgrund ihrer sozialen Lage oder ethnischen Herkunft. Hier bestünde oft auch eine Emotionalisierung von Kriminalitätsdiskursen, wobei die Diskutanten zum Beispiel auf die Rezeption von Kriminalstatistiken und deren öffentliche Wahrnehmung hinwiesen.

Das erste Panel „Delinquenz und öffentliche Ordnung“ eröffnete PAVEL HIML (Prag), der ein Forschungsvorhaben zum Wandel der Wahrnehmung von Moral und öffentlicher Ordnung in der Habsburgermonarchie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also in der Zeit der „Restauration“ nach den napoleonischen Kriegen, vorstellte. Obwohl jene Zeit von einer Rückkehr zur vorrevolutionären Ordnung geprägt war, kam es laut Himl in der „unpolitischen“ Sphäre zu einer säkularen Entwicklung, in der sich bürgerliche Moralvorstellungen von kirchlichen Konzepten von moralischem und unmoralischem Handeln trennten. An der Grenze zwischen sozialpolitischen und kriminalpolitischen Maßnahmen befand sich in jener Zeit der „Schub“, über den ZDEŇKA STOKLÁSKOVÁ (Brno) referierte. Die Zwangsüberführung marginalisierter Bevölkerungsgruppen in ihre Heimatgemeinden war nicht nur ein Indikator für Armut, sondern auch Gegenstand von Kriminalitätsdiskursen, aus denen unterschiedliche gesellschaftliche Vorstellungen über den „Schub“ und die „Schüblinge“ herausgelesen werden können.

Wie schon in der einführenden Podiumsdiskussion betont, ist ein wichtiges Thema der Kriminalitätsgeschichte die Kriminalisierung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. MICHAL FRANKL (Prag/Wien) zeigte am Beispiel jüdischer Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina, die sich nach dem Ersten Weltkrieg auf dem Gebiet der Tschechoslowakei befanden, auf welche Weise diese vor dem Hintergrund der Bildung eines neuen Nationalstaats in den Medien als potenzielle Kriminelle stigmatisiert wurden. Neben dem Antisemitismus mündete in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit auch die negative Einstellung der Mehrheitsgesellschaft zu den Roma in Kriminalisierungsdiskurse: PAVEL BALOUN (Prag) demonstrierte am Beispiel von Strafprozessen gegen tatsächliche oder vermeintliche Straftäter aus den Reihen der Roma, welche Rolle die Frage der Ethnizität von Angeklagten in kriminologischen Diskursen und Argumentationen vor Gericht spielte. Über Überschneidungen bei der Erforschung von Kriminalität und Loyalität berichtete PASCAL TREES (München). Am Beispiel von Regionen, die bis 1918 Bestandteile von Preußen und danach von Polen waren, konzentrierte er sich außer auf Desertion und Verrat hauptsächlich auf politische Straftaten gegen die Ehre, wie Majestätsbeleidigung zur Zeit des Kaiserreiches und später Beleidigungen politischer Amtsträger oder Institutionen des polnischen Staates. Bei der Verfolgung dieser Straftaten lasse sich zum einen auf eine Kontinuität zwischen beiden Staaten schließen, zum anderen auf die spezifischen politisch-gesellschaftlichen Kontexte ihrer Begehung.

Das Grenzgebiet ist oftmals ein Raum, der wegen seiner geopolitischen Lage gleichfalls Ort der Kriminalität und Objekt der Kriminalisierung sein kann – gerade da, wo sich Staatsgrenzen (borders) mit Kulturgrenzen (boundaries) überschneiden. Der Schmuggel an der westpolnisch-deutschen Grenze in den 1930er-Jahren ist nicht nur als Wirtschaftsdelikt, das den Staat um Zolleinnahmen brachte, sondern gerade auch als soziale Praxis interessant. Über die Unterschiede im Schmuggel an der polnisch-deutschen Grenze im Südwesten und im Nordwesten sowie über die Formen der Bekämpfung bzw. zuweilen auch Tolerierung der Schmuggler durch Grenzbeamte referierte TADEUSZ JANICKI (Poznań). Der Topos einer spezifischen Kriminalität des Grenzgebiets ist im deutsch-polnischen Fall auch heute noch ein Thema. Mit dieser Kontinuität beschäftigte sich am Beispiel der beiden Grenzstädte Görlitz/Zgorzelec von 1945 bis heute SARAH KLEINMANN (Dresden). Sie geht der Frage nach, auf welche Weise sich die Teilung der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg in der Wahrnehmung von Devianz und Kriminalität äußert – insbesondere im Hinblick auf Narrative und Praktiken, die bezüglich beider Phänomene existieren.

Wirtschaftskriminalität, vor allem Alltagskorruption, ist ein wichtiges Thema auch bei der Erforschung staatssozialistischer Gesellschaften. VOLKER ZIMMERMANN (München/Düsseldorf) stellte verschiedene Zugänge zu diesem Problem in der Tschechoslowakei, der DDR und Polen in den 1970er- und 1980er-Jahren vor. Obwohl Korruption in allen drei Staaten eine weitverbreitete Praxis war, unterschied sich die fachwissenschaftliche kriminologische Reflexion und die Strafverfolgung in diesem Bereich teilweise erheblich. Kriminologische Diskurse und populärkulturelle Bilder von Wirtschaftskriminalität in tschechischen Filmen und Fernsehserien des Spätsozialismus analysierte PAVEL ŠINKOVEC (Kiel). Wirtschaftskriminalität hielten die Filmemacher zwar für ein attraktives Thema, ihre Darstellung unterlag jedoch bestimmten Stereotypen, die sich vor allem daraus ergaben, dass eine Schuldzuweisung für die Probleme an die Eliten des Regimes oder sogar das sozialistische System als Ganzes vermieden werden sollte.

Das letzte Panel des Workshops hatte die historische Pönelogie zum Thema. FELIX ACKERMANN (Warschau) präsentierte ein Projekt zur Geschichte des Gefängniswesens auf dem Gebiet des geteilten Polen im 19. Jahrhundert. Strafanstalten betrachtete er dabei nicht nur als Ort der Strafverbüßung und erzwungene Isolation der Verurteilten von der Gesellschaft, sondern auch als Raum sozialer Interaktion. Gleichzeitig bietet die unterschiedliche Praxis in den Gefängnissen der drei Teilungsgebiete in Preußen, Österreich und Russland die Möglichkeit, spezifische Erscheinungen der Herausbildung der Territorialstaaten im 19. Jahrhundert zu erforschen. ALICE VELKOVÁ (Prag) stellte statistische Daten zur Verhängung und zum Vollzug der Todesstrafe in den einzelnen Kronländern des österreichischen Teils der Habsburgermonarchie im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor. Wie häufig die Todesstrafe verhängt wurde, hing nicht nur von der auf diesem Gebiet gültigen Rechtslage ab, sondern auch von der Praxis der lokalen Gerichte – so sind Todesurteile für einige Kronländer deutlich häufiger als für andere nachweisbar.

Trotz der großen zeitlichen (vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Staatssozialismus) und thematischen (von allgemeinen Ordnungsvorstellungen bis zur Wirtschaftskriminalität) Spannbreite der Referate stellten die Teilnehmer/innen zahlreiche inhaltliche Überschneidungen fest und konnten so auch anhand von Beispielen aus sehr unterschiedlichen Epochen und Themenfeldern Anregungen für ihre eigene Arbeit gewinnen. Vor allem der Wert der Kriminalitätsgeschichte für die Erforschung sozialpolitischer Kontexte sowohl bei schweren Straftaten als auch bei verschiedenen Formen von Alltagskriminalität ist hier zu nennen – gerade bei Delinquenz, die nicht vonseiten des Staates strafrechtlich sanktioniert wird, sondern gegen von anderen gesellschaftlichen Akteuren geteilte (und zuweilen auch durchgesetzte) soziale Normen verstößt. Zudem wurde immer wieder betont, dass neben der Kriminalität als solcher gerade auch die Kriminalisierung verschiedener Bevölkerungsgruppen als diskursiver Exklusionsprozess zu analysieren ist, der reale Folgen haben kann (und hat).

In der Mehrheit der Vorträge standen die Täter im Vordergrund, allerdings sollte sich die Kriminalitätsgeschichte zukünftig ebenfalls stärker den Opfern widmen. Gleichzeitig könnten größere Untersuchungszeiträume und der Einbezug von Untersuchungsgebieten über Zentraleuropa hinaus einen Schritt hin zu einer Globalgeschichte der Kriminalität bedeuten. Der Workshop bewies in jedem Fall das große Potenzial verschiedener Ansätze der modernen Kriminalitätsgeschichte für die Erforschung der Geschichte Zentraleuropas – wobei die spezifischen Entwicklungen in vielen Ländern dieser Region bisher nur vereinzelt in allgemeinen Diskussionen und Darstellungen zur Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz berücksichtigt werden.

Tagungsbericht übersetzt aus dem Tschechischen von Helena Zimmermann.

Konferenzübersicht:

Podiumsdiskussion
Moderation: Rudolf Kučera (Prag)

Gerd Schwerhoff (Dresden) /Volker Zimmermann (München/Düsseldorf): Was kann uns Kriminalitätsgeschichte über vergangene und heutige Gesellschaften lehren?

Panel 1: Delinquenz & öffentliche Ordnung
Moderation: Gerd Schwerhoff (Dresden)

Pavel Himl (Prag): Der Körper und Gemüter Ruhe und Ordnung. Moral- und Gesellschaftsvorstellungen in Mitteleuropa zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters

Zdeňka Stoklásková (Brno): Der Schub in der Habsburgermonarchie. Instrument zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder zur Hilfe bei der Armutsfürsorge?

Panel 2: Minderheiten & Kriminalisierung
Moderation: Ota Konrád (Prag)

Michal Frankl (Prag/Wien): ”Criminal Refugees” and the Creation of the Czechoslovak Nation State

Pavel Baloun (Prag): Between ”Backwardness” and “Habitual Criminals”. Invoking “Gypsyness” at Courts in Interwar Czechoslovakia

Pascal Trees (München): Von den Grenzen und vom Ende der Loyalität: Deserteure, Verräter und „gewöhnliche“ Kriminelle in Preußen und Polen, 1871–1939

Panel 3: Grenze & Kriminalität
Moderation: Volker Zimmermann (München/Düsseldorf)

Tadeusz Janicki (Poznań): Schmuggel an der polnisch-deutschen Grenze in den 1930er-Jahren. Soziale und wirtschaftliche Hintergründe

Sarah Kleinmann (Dresden): Boundaries im „kriminalgeografischen Raum“. Kriminalität und Devianz an der deutsch-polnischen Grenze seit 1945

Panel 4: Staatssozialismus & Wirtschaftsverbrechen
Moderation: Johannes Gleixner (Prag)

Volker Zimmermann (München/Düsseldorf): Korruption im Staatssozialismus: DDR, Tschechoslowakei, Polen (1970er- und 1980er-Jahre)

Pavel Šinkovec (Kiel): Criminological Conceptions and Popular Depicting of Economic Crime in 1970s and 1980s Czechoslovakia

Panel 5: Strafe & Gefängnis
Moderation: Pascal Trees (München)

Felix Ackermann (Warschau): Mikrokosmos der Teilungen Polens. Das aufgelassene Reformatenkloster Rawitsch als preußisches Gefängnis

Alice Velková (Prag): Criminals Sentenced to Death in Cisleithania (1882–1910)

Abschlussdiskussion
Moderation: Rudolf Kučera (Prag)