Homosexuellenverfolgung im regionalen Vergleich

Homosexuellenverfolgung im regionalen Vergleich

Organisatoren
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.09.2019 - 07.09.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Christopher Mäbert, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden e.V.

Unter dem Titel „Homosexuellenverfolgung im regionalen Vergleich“ kamen Historikerinnen und Historiker zusammen, um die regionalen Unterschiede der Verfolgungspolitik und der daraus resultierenden Lebenssituation Homosexueller zu diskutieren. Der Workshop wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes veranstaltet, das seit April 2018 die staatliche Verfolgung Homosexueller in Sachsen in den Jahren der NS-Diktatur und unter dem DDR-Regime bis zur Aufhebung des § 175 StGB im Jahr 1968 untersucht.

Clemens Vollnhals, stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Instituts, und Alexander Zinn begrüßten gemeinsam die am Workshop teilnehmenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das von den Organisatoren erklärte Ziel der zweitägigen Veranstaltung war es, einen Diskurs über Verfolgung und Alltag von Homosexuellen sowohl in eher urban als auch eher ländlich geprägten Regionen anzuregen. Dabei sollten vor allem der Verfolgungsdruck seitens der Behörden, die Anzeigebereitschaft und das Denunziationsverhalten der Bevölkerung sowie der strafrechtliche Fokus der Verfolgungsmaßnahmen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Aber auch mögliche Ursachen regionaler Unterschiede sowie lokale Besonderheiten und Einstellungen zur Homosexualität sollten dabei diskutiert werden.

Als zuständiger Projektmitarbeiter präsentierte ALEXANDER ZINN (Dresden) erste quantitative und qualitative Forschungsergebnisse zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung in Sachsen und deren regionalen Aspekten. Er konstatierte ein Stadt-Land-Gefälle, sowohl hinsichtlich der Verfolgungsintensität und des Fokus der Verfolgung als auch beim Anzeigeverhalten. Für die damalige Handelsmetropole Leipzig stellte er in seinen Forschungen im Bereich des Anzeigeverhaltens signifikante Unterschiede zu anderen Studien fest. Zum einen seien die Anzeigen nur zu einem kleinen Teil als klassische Denunziationen unbeteiligter Beobachter zu deuten, zum anderen seien „homosexuelle Jugendverführung“ und Kindesmissbrauch in fast 90 Prozent der Fälle der Anzeigegrund. Diese Ergebnisse stehen im Kontrast zu denen anderer Städte und Regionen, weshalb Zinn die Frage formulierte, ob daraus auf ein „liberaleres Klima“ in der Homosexuellenverfolgung in Leipzig zu schließen sei.

Im Unterschied zu den Ergebnissen aus Leipzig resümierte STEFAN MICHELER (Hamburg) am Beispiel der Stadt Hamburg eine große Bereitschaft der Bevölkerung, Homosexuelle zu denunzieren. Auch wenn es selbst während des Nationalsozialismus keine Pflicht oder gar ein Gesetz zur Denunziation gab, wäre die staatliche Homosexuellenverfolgung ohne die aktive Mithilfe der Bevölkerung wesentlich weniger effektiv gewesen. In der nachfolgenden Diskussion wurde versucht, in den lokalen Mentalitäten oder dem Engagement der Behörden etwaige Ursachen für die Unterschiede im Denunziationsverhalten zwischen Sachsen und Hamburg zu suchen. Auch der bisher eher unerforschte Einfluss medialer Berichterstattung über die Homosexuellenverfolgung auf das Denunziationsverhalten wurde erörtert.

ANDREAS PRETZEL (Berlin) gab einen Überblick über Phasen der Verfolgung Homosexueller in Berlin. Es wurde deutlich, dass Berlin seinerzeit als Experimentierfeld in der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung galt. Im reichsweiten Vergleich war in der damaligen Reichshauptstadt die Verfolgung und Repression besonders intensiv, wobei vor allem die Gestapo eine Vorreiterrolle in der Verfolgungspraxis einnahm. Homosexuelle wurden zu Volksfeinden erklärt und galten als Sicherheitsrisiko, was wiederum neben den staatlichen Repressionen auch zu einer erhöhten Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung führte. Verglichen mit den Forschungsergebnissen für Leipzig konnte für Berlin auch eine besonders hohe Anzeigebereitschaft gegenüber sogenannten „Jugendverführen“ festgestellt werden.

Für Homosexuelle war kein Platz in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, dies stellte BURKHARD JELLONNEK (Saarbrücken) zu Beginn seines Vortrages unmissverständlich klar. Die massive Verfolgungspolitik habe das Leben eines jeden einzelnen Homosexuellen tiefgreifend geprägt, für Freiräume sei, anders als es Alexander Zinn sehe, kein Platz gewesen. Zwar hätte seine Auswertung lokaler Aktenbestände der Gestapo deutlich gezeigt, dass es keine von Berlin aus gesteuerte Homosexuellenverfolgung gegeben habe, jedoch ließen sich auch gewisse Generallinien in der Verfolgung sowohl im ländlichen Raum als auch in urbanen Ballungsräumen feststellen. In ländlich-dörflichen sowie kleinstädtischen Räumen agierte die Gestapo aufgrund fehlender Subkulturen in der Regel reaktiv und verließ sich auf Anzeigen aus der Bevölkerung, wohingegen der Verfolgungsdruck durch Razzien im öffentlichen Raum in den Großstädten enorm war. Jellonnek resümierte, dass der Verfolgungsdruck von den lokalen Akteuren und den Prioritäten der jeweiligen Dienststelle abhing.

ANDRÉ POSTERT (Dresden) thematisierte die Sittlichkeitsdiskurse in den 1930er Jahren rund um die Hitlerjugend, mit besonderem Bezug auf die Homosexualität. Einerseits konstatierte er, dass in den Diskursen über Homosexualität weniger das Ressentiment gegen Homosexuelle eine Rolle spielte als vielmehr die Tatsache, dass es sich bei den Betroffenen um Kinder und Jugendliche gehandelt habe. Jedoch habe innerhalb der Hitlerjugend sehr wohl Ausgrenzung und auch Verfolgung echter und vermeintlicher Homosexueller stattgefunden. Andererseits wurde in seinem Vortrag deutlich, dass zeitgenössische Sittlichkeits- und Moralvorstellungen auch einer vermeintlich progressiven Linken als Agitationsmittel dienten. Die Diskurse über Homosexualität in der Hitlerjugend dienten daher vor allem als politische Waffe von sich im Exil befindlichen Oppositionellen, was die Verfolgung in der Hitlerjugend wiederum angeheizt habe.

Die Diskussionen in der Wissenschaft über die Frage einer Verfolgung lesbischer Frauen im Nationalsozialismus nahm SAMUEL CLOWES HUNEKE (Fairfax, VA) zum Anlass, den noch unbekannten Fall einer Frau, die wegen ihres Lesbischseins bestraft wurde, vorzustellen. Käthe Abels war Leiterin eines Pflegeheims und hatte Beziehungen zu ihren Angestellten unterhalten. Nach dem Suizid einer der Angestellten leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein, in dem auch die lesbischen Beziehungen ein Thema waren. Strafrechtlich konnte Abels nicht belangt werden, jedoch wurde sie aufgrund der Anschuldigungen schließlich aus der NSDAP ausgeschlossen, und die weitere Leitung der Pflegeanstalt wurde ihr untersagt. Inwieweit man davon sprechen könne, dass Abels aufgrund ihres Lesbischseins bestraft worden sei, wurde im anschließenden Gespräch ebenso erörtert wie die Frage einer Präzisierung der Begriffe Verfolgung und Repression.

SUSANNE ZUR NIEDEN (Berlin) referierte über den Umgang mit verfolgten Homosexuellen im Berlin der ersten Nachkriegsjahre. Anhand von Akten des Berliner Magistrats zur Anerkennungspraxis von Opfern des Faschismus (OdF) zeigte sie auf, wie Homosexuellen dieser Status wieder aberkannt wurde, wenn eine Bestrafung nach § 175 bekannt wurde. Vereinzelt wurden sie sogar wegen Betrugs angezeigt, weil sie sich mit dem Status als OdF verbundene Vergünstigungen mit falschen Angaben erschlichen hätten. In der anschließenden Diskussion wurde über die Gründe für das fehlende Unrechtsbewusstsein gesprochen. Dabei wurden einerseits die Opferkonkurrenz sowie andererseits die auch unter Antifaschisten verbreitete Homophobie, die in den Antihomosexuellenkampagnen der damaligen Exil-Opposition wurzelte, hervorgehoben.

Weiterführend zeigte MARIA BOROWSKI (Berlin), wie die Angst vor einer Verführung von Jugendlichen zur Homosexualität – die mit der sozialistischen Moralvorstellung einer monogamen heterosexuellen Ehe kollidierte – die Einstellungen gegenüber Schwulen und Lesben in der frühen DDR prägte. Homosexuelles Begehren wurde in der DDR-Gesellschaft konsequent ausgegrenzt und marginalisiert, wobei die Idealisierung der heterosexuellen Lebensform sowie die Kategorisierung von Homosexuellen fortwährend als Ausgrenzungsmittel fungierten und möglicherweise über die Wiedervereinigung Deutschlands hinaus noch immer fungieren.

BENNO GAMMERL (London) wählte einen ausdruckstarken Zugang, um das Gefühlsleben Homosexueller in der Stadt und auf dem Land in der Bundesrepublik Deutschland vorzustellen. Auf der Grundlage von Oral-History-Interviews verglich er die Situation von gleichgeschlechtlich liebenden Menschen auf dem Land und in der Stadt. Er fragte zunächst, mit welchen Topoi die Erzählpersonen ihre ruralen oder urbanen Verfolgungserfahrungen beschreiben. Dann zog er den Gegensatz zwischen „toleranter Stadt“ und „homophobem Land“ in Zweifel und betrachtete typisch rurale Formen der Offenheit. Abschließend schlug er eine Differenzierung der Begriffe Toleranz und Offenheit, Versteck und Verfolgung vor, um so die untersuchten Phänomene angemessen beschreiben zu können.

Eine Perspektive auf die Liberalisierungsdebatten und den Mentalitätswechsel in den 1960er-Jahren in Baden-Württemberg gab KARL-HEINZ STEINLE (Stuttgart). Er zeigte auf, dass in Baden-Württemberg neben den Aktivisten aus der Emanzipationsbewegung auch Akteure aus der Justiz zu den Motoren der Reformdebatten zur Liberalisierung des Sexualstrafrechts zählten. Steinle stellte fest, dass der Mentalitätswandel in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre zum einen in eine Zeit des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs fällt und zum anderen auf den hartnäckigen Einsatz einzelner Akteure zurückzuführen war. Als Beispiel führte er den Fall eines Mannes an, der vor dem Bundesverfassungsgericht gegen seine Verurteilung klagte und durch ständiges Einreichen von Beschwerden und aktuellen Veröffentlichungen zur Liberalisierung des § 175 StGB beitrug. Im Plenum wurde daraufhin die Frage aufgeworfen, wie sich der allgemeine Mentalitätswandel an den Gerichten in dieser Zeit weiterführend feststellen und erforschen lässt.

VERONIKA SPRINGMANN (Berlin) beschäftigte sich ebenfalls mit den Konflikten und Diskussionen über eine Reform des § 175 StGB und legte dabei den Schwerpunkt auf die Rechtsordnung in der Bundesrepublik Deutschland. Sie nahm die „Gefängnishefte“ eines italienischen Staatsbürgers, der sich in seinem Herkunftsland nicht mit der Strafbarkeit seiner Homosexualität konfrontiert sah, jedoch in Deutschland dafür verurteilt wurde, zum Anlass, die Frage nach Moral und Recht in Bezug auf gleichgeschlechtliches Begehren zu diskutieren. Springmann machte deutlich, dass der Angeklagte durch das selbstbewusste Einstehen für sein Begehren die Gegensätzlichkeit von Selbstbestimmung und vorgegebenen Sittlichkeitsvorstellungen bezeichnend zum Ausdruck brachte. Dadurch sei eine wichtige Auseinandersetzung in der Debatte um den § 175 StGB deutlich geworden. Diese Kontroverse sei mit der Strafrechtsreform von 1969 zu einem vorläufigen Ende gekommen, indem der Versuch unternommen wurde, Recht und Moral voneinander zu trennen.

Zum Abschluss der Veranstaltung plädierte RÜDIGER LAUTMANN (Bremen) für eine (neue) Kultur des Ko-Erinnerns für alle Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes. Dabei verwies er mit einem historischen Rückblick auf die seit 1945 praktizierte Konkurrenz der unterschiedlichen Opfergruppen und befürwortete eine Änderung der Erinnerungskultur hin zu einer Koexistenz und gegenseitigen Anerkennung aller Opfergruppen. Lautmann bezog sich in seinen Ausführungen auf den amerikanischen Kulturwissenschaftler Michael Rothmann, der die Begriffe der Ko-Erinnerung und des zusammenhängenden Erinnerungsraumes maßgeblich prägte. Das Plenum erörterte die Frage, inwieweit diese Art des Erinnerns nicht bereits in vielen Gedenkstätten praktiziert werde. Kritisch betrachtet wurde die Gefahr einer Nivellierung der sehr unterschiedlichen Verfolgungsmaßnahmen, denen die einzelnen Opfergruppen ausgesetzt waren.

Insgesamt bot der Workshop durch seinen multiperspektivischen Charakter einen interessanten Einblick in die aktuellen Forschungsergebnisse zur Verfolgung Homosexueller in Deutschland. Im Vordergrund der Ausführungen standen vor allem die staatliche Verfolgung im Nationalsozialismus sowie die staatlichen Repressionen in der alten Bundesrepublik. Hinsichtlich des sächsischen Forschungsvorhaben wäre eine intensivere Betrachtung der Verhältnisse in der DDR wünschenswert gewesen. Insgesamt konnten durch das Workshop-Format ein reger Austausch und zahlreiche Diskussionen angeregt und das angestrebte Ziel – eine vergleichende regionale Betrachtung – erreicht werden.

Konferenzübersicht:

Clemens Vollnhans und Alexander Zinn (beide Dresden): Begrüßung

Alexander Zinn (Dresden): Stadt und Land – regionale Aspekte der Homosexuellenverfolgung

Stefan Micheler (Hamburg): „Wir dachten, damit ein gutes Werk zu tun …“. Denunziationen männerbegehrender Männer während der NS-Zeit in Hamburg

Andreas Pretzel (Berlin): NS-Homosexuellenverfolgung in Berlin. Anzeigen und Verfolgungsschwerpunkte

Burkhard Jellonnek (Saarbrücken): Anmerkungen zum Stadt-Land-Gefälle: Forschungsergebnisse zur Homosexuellenverfolgung unter dem Hakenkreuz aus Düsseldorf, Würzburg (Mainfranken) und der Pfalz im Vergleich

André Postert (Dresden): Hitlerjugend, eine „Schule der Homosexualität“? Diskurse über die sogenannte sittliche Gefährdung der Jugend

Samuel Clowes Huneke (Fairfax, VA): Cliquenbildung und Homophobie: Lesbischsein unter dem NS-Regime

Susanne zur Nieden (Berlin): „ … als Opfer des Faschismus nicht tragbar“ – Über den Umgang mit verfolgten Homosexuellen im Berlin der ersten Nachkriegsjahre

Maria Borowski (Berlin): Die Angst vor Verführung – Einstellungen zur Homosexualität in den frühen Jahren der DDR

Benno Gammerl (London): Jenseits der Metropolen. Aus den biografischen Erzählungen von Lesben und Schwulen über ihr Leben auf dem bundesrepublikanischen Land

Karl-Heinz Steinle (Stuttgart): Liberalisierungsdebatten und Mentalitätswechsel in den 1960er-Jahren mit Beispielen aus Baden-Württemberg

Veronika Springmann (Berlin): Die Homosexuellenbewegung und die Rechtsordnung in der Bundesrepublik

Rüdiger Lautmann (Bremen): „Ko-Erinnerung“ – Abschied von der Opferkonkurrenz