Die Utopie des „gesunden Volkskörpers“. Von der „Erb- und Rassenhygiene“ zur NS-Euthanasie

Die Utopie des „gesunden Volkskörpers“. Von der „Erb- und Rassenhygiene“ zur NS-Euthanasie

Organisatoren
Institut für jüdische Geschichte Österreichs, St. Pölten; Philipp Mettauer; Sabine Hödl
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
03.07.2019 - 05.07.2019
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Von
Philipp Mettauer, Institut für jüdische Geschichte Österreichs

Bis zu 300.000 Menschen wurden im „Dritten Reich“ und in den besetzten Gebieten im Zuge der NS-Euthanasie ermordet, 30.000 davon allein in der „Ostmark“. Opfer wurden Erwachsene und Kinder mit geistiger oder körperlicher Behinderung, psychisch Kranke – zunächst während der so genannten „Aktion T4“ in zentral geplanten Deportationen in die Vernichtungsanstalten, später dezentral und anstaltsintern –, KZ-Häftlinge im Rahmen der „Sonderbehandlung 14f13“, nicht mehr arbeitsfähige Zwangsarbeiter sowie, über diesen Personenkreis hinausgehend, Bewohner von Pflege- und Altersheimen. Rund 400.000 als „erbkrank“ qualifizierte Männer und Frauen wurden zwangssterilisiert.

Die diesjährige Sommerakademie behandelte, beginnend mit der Wende zum 20. Jahrhundert, die Themenfelder der Eugenik und Zwangssterilisationen, die schließlich zum Massenmord an Psychiatrie-Patienten und -Patientinnen führten. Die Beziehungen zum Rassenwahn und zum Genozid an den europäischen Jüdinnen und Juden wurden dabei im Blick behalten, um Unterschiede und Kausalitäten herauszuarbeiten. Als aktueller Schwerpunkt wurden die neuesten Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs zur „Heil- und Pflegeanstalt“ Mauer-Öhling in der NS-Zeit präsentiert. Weitere Vorträge waren der juristischen Ahndung der Medizinverbrechen, der Aufklärungsarbeit der Gedenkstätten und dem gesellschaftlichen – lange Zeit tabuisierten – Umgang von 1945 bis heute gewidmet.

Im Eröffnungsvortrag thematisierte GÖTZ ALY (Berlin) unter anderem das ökonomische Dilemma der Angehörigen, zwischen dem Mangel an bezahlbaren Pflegeeinrichtungen einerseits und fehlender staatlicher Unterstützung für „erbkranke Sippen“ andererseits. Die physische und psychische Überlastung konnte zu einer Ambivalenz sowohl der betroffenen Familienmitglieder, als auch des medizinischen Personals führen, was wiederum das Ausblenden der Tötungen bewirkte. Die bereits lange vor der NS-Diktatur verbreiteten Konzepte von „rassisch“ und genetisch bedingter „Minderwertigkeit“ einer bestimmten Menschengruppe begünstigten die Vernichtungsprogramme und die Indifferenz weiter Teile der Bevölkerung. Aly betonte dabei auch die aktive Rolle der Frauen, die in Pflegeanstalten und bei Transporten zu Täterinnen wurden.

Die strukturellen Veränderungen vom gefängnisartigen „Narrenturm“ aus Josephinischer Zeit hin zu den modernen „Heil- und Pflegeanstalten“ unter Kaiser Franz Joseph I. behandelte anschließend CLEMENS ABLEIDINGER (Wien) in seinem Vortrag. Dabei etablierte sich nicht nur die Psychiatrie als medizinische Disziplin, sondern auch ein politisches System von Governance, in dem sich Interaktionen zwischen Regierung, Medien und Gesellschaft entfalteten. Das Politikfeld „Mental Health“ stellte demgemäß ein dynamisches, multifokales System dar, in dem auch außerwissenschaftliche Akteure der „Laienöffentlichkeit“ Einfluss zu gewinnen suchten.

CHRISTOPH LIND (St. Pölten) befasste sich mit dem von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien betriebenen Rothschild-Spital, dessen psychiatrische Ambulanz im April 1907 eröffnet wurde. Während des Ersten Weltkriegs nahm dessen Bedeutung durch die Behandlung von traumatisierten Soldaten, den sogenannten „Kriegszitterern“, zu. Im folgenden Jahrzehnt stieß die eugenische Debatte auch unter der jüdischen Ärzteschaft auf starke Resonanz. Nach dem „Anschluss“ Österreichs und dem Einsetzen der Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager stand das Bemühen im Vordergrund, die jüdischen Patientinnen und Patienten als „transportunfähig“ davor zu bewahren. Das Spital wurde 1942 „arisiert“ und darin ein SS-Lazarett eingerichtet, nach dem Krieg diente es als bedeutende Versorgungsstätte für jüdische Displaced Persons.

Mit eugenischen Sterilisationen in Bethel als Präludium zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) beschäftigten sich MARION HULVERSCHEIDT (Kassel) und UWE KAMINSKY (Bochum). Zu den seit Januar 1934 im Deutschen Reich gesetzlich legitimierten Zwangssterilisationen zeigte die evangelische Kirche eine zwiespältige Haltung – bei vermeintlich „Erbkranken“ wurden sie akzeptiert, eugenische Abtreibungen hingegen abgelehnt. Die vorgestellten Fälle aus der größten privaten Anstalt Deutschlands zeigten eine eugenisch motivierte Praxis in einer konfessionellen Einrichtung bereits vor der Geltung des GzVeN. Die Vortragenden verdeutlichten auch die Rolle Richard Wilmanns, der die frühen Sterilisationen und das Gros der operativen Unfruchtbarmachungen nach Inkrafttreten des Gesetzes in Bethel durchführte.

THOMAS MAYER (Wien) thematisierte in seinem Beitrag die Entwicklung biopolitischer Initiativen in Österreich vor 1938. Anhand der Analyse der nach 1918 entstandenen eugenischen Vereinsnetzwerke stand die Frage im Mittelpunkt, wie die Akteure – sozialdemokratische, katholische, deutschnationale und insbesondere nationalsozialistische Mediziner – Eugenik popularisieren, verwissenschaftlichen und legalisieren wollten. Ahnenforschung, Antisemitismus und rassistische Ausrichtung stellten dabei vor allem bei den deutschnational geprägten Vereinen wichtige Orientierungspunkte dar. Bis auf die Eheberatung wurden die Vorschläge eugenischer Maßnahmen, die von Fortpflanzungsverboten, Abtreibungen bis zu erzwungenen oder freiwilligen Sterilisationen reichten, in Österreich allerdings nicht realisiert.

Mindestens 400.000 Menschen, annähernd gleich viele Frauen wie Männer, wurden im „Dritten Reich“ zwangssterilisiert, etwa 6.000 davon in der „Ostmark“. Hier trat das GzVeN, die rechtliche Grundlage dieses schwerwiegenden Eingriffs mit seinen lebenslangen Folgen, aufgrund juristischer Verzögerungen erst im Jänner 1940 in Kraft. Ausgehend von der Geschichte von Elisabeth S. zeigte CLAUDIA SPRING (Wien) die medizinischen, sozialen und geschlechtsspezifischen Aspekte im Vollzug des Gesetzes auf. Weiters behandelte ihr Vortrag den Ermessensspielraum der dafür verantwortlichen Richter und Ärzte, ihre Nachkriegskarrieren, sowie die – viel zu späte – Anerkennung von zwangssterilisierten Frauen und Männern als Überlebende gesundheitspolitischer NS-Verfolgung.

ROBERT PARZER (Wiesbaden) illustrierte stellvertretend anhand des Schicksals des jüdischen Schneiders Moszek Checinski, der sich ab 1938 in psychiatrischer Behandlung befand, die Tötung tausender Patientinnen und Patienten im besetzten Polen. Noch vor der „Aktion T4“ fanden in der Gaskammer im Fort VII in Posen von Oktober bis Dezember 1939 „Probevergasungen“ von psychisch Kranken statt, danach mordete das Sonderkommando unter Herbert Lange mittels Gaswagen. Die dabei gemachten Erfahrungen flossen später in die „Aktion Reinhardt“ ein, die Euthanasiemorde im „Wartheland“ können so als „Lernprozess“ für den Holocaust bezeichnet werden. In der Forschung und Gedenkkultur wurden sie bisher allerdings lediglich entweder als Teil der allgemeinen nationalsozialistischen Vernichtungspolitik oder im Rahmen des patriotisch-heroisch gestimmten Narrativs über die Opferrolle Polens thematisiert.

Patientinnen und Patienten wurden in den Anstalten nicht nur zu Arbeiten in der Landwirtschaft, den Werkstätten, der Küche oder Nähstube herangezogen, sondern auch als Helfer im Tötungsbetrieb, wie CHRISTOPH SCHNEIDER (Frankfurt am Main) am Beispiel von Hadamar ausführte. In der sogenannten zweiten Mordphase zwischen August 1942 und März 1945 bot sich den „nützlichen“ Insassen so die Chance, länger am Leben zu bleiben, wobei sich Vergleiche mit dem Einsatz der Funktions- bzw. Sonderkommandohäftlinge der Konzentrations- und Vernichtungslager aufdrängen. In Zeugenaussagen unmittelbar nach Kriegsende wurde einerseits die Zwangssituation der Beteiligten betont, während andere beschuldigt wurden, sich arrangiert und selbst bereichert zu haben. Als in den frühen 1960er-Jahren die soziale Rolle des Zeitzeugen an Kontur gewann, wurden die Überlebenden der NS-Euthanasie nicht eingebunden. Sie galten als zu inferior, um als Akteurinnen und Akteure selbst in der Grauzone wahrgenommen zu werden.

Im Zuge der NS-Krankentötungen wurden menschliche Präparate hergestellt und Sammlungen für weitere Forschungen angelegt, deren (pseudo-)wissenschaftliche Verwertung sich lange bis nach dem Krieg erstreckte. In seinem Vortrag bot HERWIG CZECH (Wien/Berlin) einen Überblick über die involvierten, zum Teil renommierten Institutionen wie das Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Gießen (vormals Berlin) und jenes für Psychiatrie in München sowie den heutigen Umgang mit dieser Problematik. Für Österreich ist in diesem Zusammenhang an erster Stelle die Sammlung von Gehirnpräparaten von Heinrich Gross zu nennen, der an der Kinderfachabteilung „Am Spiegelgrund“ in Wien tätig war.

FLORIAN SCHWANNINGER (Hartheim) thematisierte in seinen Ausführungen den Umgang mit den Opfern der NS-Euthanasie zwischen Stigmatisierung, Verdrängung und Aufarbeitung am Beispiel von Schloss Hartheim. Erst sehr spät erfolgte die Anerkennung von staatlicher Seite, was dem Umgang mit der Thematik in der Öffentlichkeit wie auch in vielen der betroffenen Familien entsprach. Die Verbrechen der NS-Medizin stießen erst in den 1970er-Jahren auf das Interesse der Geschichtswissenschaft und lange Zeit wurden die Ermordeten nicht in das Gedenken einbezogen, bis durch Bemühungen der Psychiatriereform und im Behindertenbereich in den 1980er-Jahren erste allgemeine Impulse ausgingen. Wie auch an anderen Orten des NS-Terrors in Österreich wurde die Erinnerung an die Vernichtungsanstalt in Alkoven bei Linz lange Zeit fast ausschließlich von ausländischen Verbänden getragen. 1995 wurde schließlich der Verein Schloss Hartheim gegründet, der die Landespolitik für die Gestaltung eines Lern- und Gedenkorts gewann, welcher 2003 eröffnet wurde.

Der Journalist Ernst Klee (1942-2013) bemühte sich hingegen schon frühzeitig und intensiv um Aufklärung und Forschung über die NS-Krankenmorde und die Shoah, wobei beide Opfergruppen gleichberechtigt Berücksichtigung fanden. Die Gedenkstätte Hadamar erhielt 2018 qua Testament seinen Nachlass. Er besteht neben seiner Privatbibliothek, die ca. 37 Laufmeter umfasst, aus 110 Aktenordnern, überwiegend aus Korrespondenzen und Mitschriften aus den Ärzteprozessen, aber auch aus Biografien und Forschungsskizzen zu einzelnen Tätern, deren weitere Karrieren Klee akribisch dokumentierte. Des Weiteren enthalten sind Sendeprotokolle und -berichte von Radio- und Fernsehbeiträgen, Leserbriefe, Zeichnungen sowie Fotomaterial. Für die Gedenkstätte Hadamar bedeutet dieser Nachlass eine große inhaltliche Bereicherung, wie ESTHER ABEL (Gießen) verdeutlichen konnte.

WINFRIED GARSCHA (Wien) befasste sich in seinem Beitrag mit der strafrechtlichen Ahndung der NS-Medizinverbrechen. Während sich die alliierte Gerichtsbarkeit hauptsächlich für die Kriegsverbrechen an ihren eigenen Staatsbürgern interessierte, d.h. die Morde an Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen während der „Sonderbehandlung 14f13“ in den Vernichtungsanstalten juristisch aufarbeitete, wurden für innerösterreichische Angelegenheiten eigene Volksgerichte geschaffen. Das erste Todesurteil wegen Tötung von Patientinnen und Patienten wurde in Klagenfurt 1946 vollstreckt, die umfangreichsten und öffentlichkeitswirksamsten Prozesse waren aber die gegen Personal der „Heil- und Pflegeanstalten“ Steinhof, Mauer-Öhling und Gugging. Der Hauptfokus der Schöffengerichte lag nicht auf den Gewaltverbrechen während der NS-Herrschaft in Österreich, sondern auf der Zeit davor. Rund 80 Prozent der Verurteilungen ergingen wegen Hochverrats und „illegaler“ NS-Betätigung von 1933-38. Bereits ab 1948 wurden erste Amnestien erlassen, bald danach war die justizielle Verfolgung der NS-Euthanasie im Wesentlichen beendet.

Dem langen Nachhall der NS-Herrschaft widmete sich HEMMA MAYRHOFER (Wien) in ihren Ausführungen zu Kindern mit Behinderungen am „Steinhof“ nach 1945. Während über den Pavillon 15 als Teil der Tötungsanstalt „Am Spiegelgrund“ bereits zeithistorische Forschungen vorliegen, drohte seine Geschichte in der Nachkriegszeit beinahe in Vergessenheit zu geraten. Der Pavillon diente bis in die 1980er-Jahre zur Unterbringung von Kindern und Jugendlichen, die von medizinischen, heilpädagogischen oder Fürsorge-Einrichtungen als nicht förderbar oder bildungsfähig eingestuft worden waren. Umfangreiche Studienergebnisse und Interviews aus dem Jahr 2017 verweisen in mehrfacher Hinsicht auf personelle und ideologische Kontinuitäten aus der NS-Zeit. Im Beitrag wurden diese herausgearbeitet sowie das über Jahrzehnte bestehende System umfassender Vernachlässigung und Verwahrlosung nachgezeichnet.

PHILIPP METTAUER (St. Pölten) ging in seinem Vortrag auf die Verantwortung der Beamten der Gesundheitsverwaltung sowie der Ärzte und des Pflegepersonals in Mauer-Öhling ein. Rund 2.400 Patientinnen und Patienten der „Heil- und Pflegeanstalt“ wurden in den verschiedenen NS-Euthanasie-Aktionen ermordet. Bemerkenswerterweise lag die Direktion bereits seit 1933 in nationalsozialistischen Händen, der weitere Organisationsgrad des ärztlichen Personals bis 1945 in NSDAP und SA lag bei beachtlichen 80 Prozent. Dennoch standen im Volksgerichtsprozess von 1948, mit Ausnahme des Gauärzteführers und Leiters der Abteilung „Volkspflege“ bei der Reichsstatthalterei Niederdonau, Richard Eisenmenger, keine Ärzte vor dem Richter: Während sich der Haupttäter des „Endphaseverbrechens“, bei dem kurz vor Kriegsende nochmals 190 Menschen getötet wurden, Emil Gelny auf der Flucht befand, wurde Direktor Michael Scharpf altersbedingt aus der Untersuchungshaft entlassen und verstarb kurz vor Prozessbeginn in seiner Wohnung in Linz, während der Vorstand der Frauenabteilung Josef Utz sich vernehmungsunfähig aufgrund von Demenz in psychiatrischer Behandlung „Am Steinhof“ befand.

In ihrem sehr persönlich gehaltenen Vortrag berichtete CHRISTA KOCHENDÖRFER (Linz) über ihre Urgroßmutter Theresia Fallmann, die ab Februar 1941 in der „Heil- und Pflegeanstalt“ Maurer-Öhling interniert war. Eingewiesen worden war sie vom Hausarzt der Familie in Scheibbs, vorausgegangen waren zahlreiche Schicksalsschläge, die sie aus dem psychischen Gleichgewicht gebracht und in Depressionen gestürzt hatten. Ihre Tochter Cäcilia, welche selbst acht Kinder hatte, war der Pflege ihrer Mutter nicht mehr gewachsen. Sie besuchte sie aber mit ihrer Tochter Erika mehrmals in der Anstalt und bemühte sich, nachdem sich ihr Zustand dort sichtlich verschlechtert hatte, intensiv um ihre Entlassung, die schließlich im Juli 1941 gelang. Die Einweisung Theresias in eine „Irrenanstalt“ hatte schon damals zu Kontroversen innerhalb der Familie geführt. Die Krankenakte, welche erst 2016 zugänglich gemacht wurde, ergänzte die tradierten Erzählungen zum Panorama eines Frauenschicksals im 20. Jahrhundert. Bis heute gebe es allerdings Nachkommen, welche von dieser „Geschichte“ nichts wissen wöllten.

Gemeinsam mit der Schülerin LISA WASER (Amstetten) lieferten WOLFGANG GASSER und TINA FRISCHMANN (beide St. Pölten) Ergebnisse aus dem zweijährigen Sparkling Science Projekt „,Geschlossene‘ Anstalt? Die ,Heil- und Pflegeanstalt‘ Mauer-Öhling in der NS-Zeit und im kollektiven Gedächtnis“ welches mit zwei Schulklassen von 17- bis 19-Jährigen der Fachschule Amstetten, Aufbaulehrgang Wirtschaft, durchgeführt worden war. Das Erinnern an die Ermordeten fand besonders im räumlichen Umfeld des Landesklinikums Mauer bislang keinen Platz, die Nennung ihrer Namen wird bis heute kontrovers diskutiert. Die Jugendlichen führten gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Team qualitative Interviews durch, unter anderem mit Angehörigen und Nachfahren von Patienten und Pflegern aus der Region, woraus ein Dokumentarfilm und eine Projektzeitschrift entstanden. Auch bei der feierlichen Enthüllung des Mahnmals für die Opfer der NS-Euthanasie im Landesklinikum waren die Schülerinnen und Schüler beteiligt.

Die Heil- und Pfleganstalten Gabersee (Wasserburg am Inn), Wiesloch (bei Heidelberg) und der „Schwarzacher Hof“ (Mosbach im Neckar-Odenwald-Kreis), die in das NS-Euthanasie-Programm eingebunden waren, wurden nach Kriegsende zu temporären Zufluchtsorten für Holocaustüberlebende umfunktioniert, wie JIM TOBIAS (Nürnberg) vortrug. So entstand ein Camp für bis zu 2.000 jüdische Displaced Persons, ein internationales Kinderzentrum für Hunderte Waisen, sowie ein „Mental Hospital“ der Hilfsorganisation UNRRA für psychisch erkrankte ehemalige Zwangsarbeiter, Verschleppte und KZ-Häftlinge. Nachdem das deutsche Anstaltspersonal allerdings nicht ausgetauscht worden war, entstanden zum Teil Situationen, in denen Pfleger die jüdischen Patienten antisemitisch beschimpften oder die DPs ihr Misstrauen gegenüber den ehemals nationalsozialistischen Ärzten ausdrückten. Probleme bereitete zudem die Auswanderung der Arbeitsfähigen nach Palästina, USA und Kanada, bei der die Alten und Kranken zurückblieben.

Nahe der Stadt Rothenburg in der Oberlausitz wurde 1898 durch Pfarrer Martin von Gerlach und der Inneren Mission das „Brüder- und Pflegehaus Zoar“ gegründet, dem MANJA KRAUSCHE (Berlin) ihren Vortrag widmete. Bis zur teilweisen Beschlagnahme durch die SS im Sommer 1941 wurden dort „geisteskranke“ Männer versorgt, die, in die staatlichen Heil- und Pflegeanstalten in Bunzlau und Plagwitz verlegt, Opfer der NS-Krankenmorde wurden. Im Pflegehaus wurde in der Folge ein Sammel- und Durchgangslager für niederschlesische Juden eingerichtet, auch das jüdische Altersheim wurde aus Breslau hierher verlegt. Bis zum Jahreswechsel 1942/43 wurden die Internierten sukzessive in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert, danach betrieb der schlesische Altersheimverband den „Martinshof“ weiter, bis er im Februar 1945 evakuiert wurde. Am Beispiel dieser Pflegeeinrichtung konnte die enge Verzahnung zwischen NS-Euthanasie und Holocaust aufgezeigt werden. Die Diakone, die mit ihren Familien sowohl mit den Pfleglingen als auch den internierten Juden auf dem Gelände, ja teilweise in den gleichen Häusern wohnten, reagierten dabei sehr unterschiedlich auf die wechselnde „Belegung“.

Der Vortrag von LUTZ KAELBER (Vermont) bot einen Überblick über die Abteilung für jüdische „Mischlinge“ des „Erziehungsheims“ in Hadamar, in dem in den letzten beiden Jahren der NS-Herrschaft noch etwa 40 Kinder ermordet wurden. Analysiert wurden die Einweisung und die Verweildauer der Minderjährigen sowie ihre Lebensdaten und die der jüdischen Elternteile, wobei die Väter oft unbekannt blieben. Die Meldepflicht für als „jüdisch geltende“ Kinder und Jugendliche seit Herbst 1942 veranlasste die Gesundheitsämter, auch „Zigeunermischlinge“ anzuzeigen. Der Ausschluss der „Mischlinge“ aus dem „Volkskörper“ manifestierte sich sowohl in der Einschränkung der Ausbildungsmöglichkeiten, als auch in der Stigmatisierung durch die Zuschreibung verschiedener Formen von Devianz, beispielsweise als kriminell, psychopathisch oder schwererziehbar. Die Verfolgung im Nationalsozialismus führte bei zahlreichen Betroffenen zur Verarmung und hinterließ oftmals dauernde psychische und physische Beeinträchtigungen bis weit in die Nachkriegszeit hinein.

Die dreitägige Konferenz war mit durchschnittlich 80 Zuhörerinnen und Zuhörern täglich ausgesprochen gut besucht. Die wertvollen Diskussionsbeiträge des interdisziplinär zusammengesetzten Publikums – nicht nur in akademischen Berufen Tätige, historisch Interessierte und Studierende, sondern auch Beschäftigte von Pflegeeinrichtungen oder Personen in psychotherapeutischer Ausbildung – schufen ein Bewusstsein für die Aktualität und Bandbreite des Themas.

Besprochen wurden nicht nur die unterschiedlichen NS-Euthanasie-Programme, sondern auch die Beziehungen zwischen dem Genozid an den europäischen Jüdinnen und Juden und dem Massenmord an Psychiatrie-Patientinnen und -Patienten. Die verwandten weltanschaulichen Wurzeln wurden ebenso wie die ökonomischen Aspekte diskutiert und auf Parallelen und Unterschiede im heutigen Gedenken und Forschen verwiesen.

Begleitend erschien die Publikation „Die Utopie des „gesunden Volkskörpers“. Von der „Erb- und Rassenhygiene“ zur NS-Euthanasie. Juden in Mitteleuropa 2019, herausgegeben vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs, sowie ein Bericht in der Online-Ausgabe der Tageszeitung „Der Standard“.1

Konferenzübersicht:

Götz Aly (Berlin), Die „Euthanasie“-Aktion und die Botschaften der Ermordeten

Clemens Ableidinger (Wien), Psychiatrie als Diskurs- und Politikfeld. Mental Health unter Franz Joseph I.

Christoph Lind (St. Pölten), Psychiatrie im Wiener Rothschild-Spital (1873–1945)

Marion Hulverscheidt (Kassel)/Uwe Kaminsky (Bochum), Eugenische Sterilisationen als Präludium zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Bethel

Thomas Mayer (Wien), Eugenik in Österreich vor 1938

Claudia Spring (Wien), Erbitterter Widerstand gegen die Zwangssterilisation: Ein Bericht zu Elisabeth S. und ihren Erfahrungen mit der NS-Bürokratie

Robert Parzer (Wiesbaden), Patientenmorde und Holocaust im besetzten Polen. Kontiguität und Kontinuität?

Christoph Schneider (Frankfurt am Main), Patientinnen und Patienten als Helfer/innen im Tötungsbetrieb

Herwig Czech (Wien/Berlin), Wissenschaftliche Forschung im Kontext der NS-Krankentötungen vor und nach 1945

Florian Schwanninger (Hartheim), Alles Schweigen? Der Umgang mit den Opfern der NS-Euthanasie zwischen Stigmatisierung, Verdrängung und Aufarbeitung am Beispiel von Schloss Hartheim

Esther Abel (Gießen), Holocaust, Krankenmord und Strafprozesse. Die Aufklärungsarbeit von Ernst Klee und sein Nachlass in der Gedenkstätte Hadamar

Winfried Garscha (Wien), Gescheiterte Gerechtigkeit? Die strafrechtliche Ahndung der NS-Medizinverbrechen

Hemma Mayrhofer (Wien), Langer Nachhall der NS-Zeit: Kinder mit Behinderungen am „Steinhof“ zwischen 1945 und 1983

Philipp Mettauer (St. Pölten), Ärzte und andere Täter. Die „Heil- und Pflegeanstalt“ Mauer-Öhling im Nationalsozialismus

Christa Kochendörfer (Linz), Meine Urgroßmutter in der „Heil- und Pflegeanstalt“ Mauer-Öhling 1941 – Erinnern oder Vergessen?

Tina Frischmann, Wolfgang Gasser (St. Pölten) und Lisa Waser (Amstetten), Tatort Mauer. Schüler/innen erforschen die NS-Euthanasie

Jim Tobias (Nürnberg), Vom Tod zum Leben. Frühere NS-„Pflegeanstalten“ als Zufluchtsorte für Verfolgte des Nationalsozialismus

Manja Krausche (Berlin), Brüderhaus, Pflegehaus, „Ghetto“ – der Zoar-Martinshof in Rothenburg (Oberlausitz)

Lutz Kaelber (Vermont), „Jüdische Mischlinge“ im „Erziehungsheim“ in Hadamar (1943–45) und ihre jüdischen Eltern

Anmerkung:
1 Bericht vom 4. Juli 2019 unter dem Titel „NS-Patientenmorde in Polen als ‚Lernprozess‘ für den Holocaust“, abrufbar auf:
https://www.derstandard.at/story/2000105922068/ns-patientenmorde-in-polen-als-lernprozess-fuer-den-holocaust (07.10.2019).


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