Auf der Spur der Dinge. Internationale Summerschool zum Sammeln und Ausstellen musealer Objekte

Auf der Spur der Dinge. Internationale Summerschool zum Sammeln und Ausstellen musealer Objekte

Organisatoren
Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL)
Ort
Lübeck
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2017 - 29.09.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Miriam Stamm, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bremen

Als Zusammenarbeit von kulturwissenschaftlicher Forschung mit Museen und Sammlungen stand jeder Veranstaltungstag der von den Stipendiatinnen und Stipendiaten des ZKFL organisierten Summerschool unter einem anderen Thema.

Der Titel „Auf der Spur der Dinge“ zog sich als roter Faden durch die fünf Tage. Nach der Einleitung von Birgit Stammberger und der Begrüßung von Cornelius Borck und Hans Wißkirchen (alle Lübeck) führte die erste Spur zu den Objekten im Museum. HANS PETER HAHN (Frankfurt am Main) stellte heraus, dass die Objekte durch die Hervorhebung im Museum aus dem Kontext gelöst werden. Diese Hervorhebung werde mit dem Verlust der Beziehungen erkauft. Deshalb seien die Objekte dort auch nicht „außer Dienst gestellt“, wie Wißkirchen es formuliert hatte, sondern zu dem schlimmsten aller Dienste gezwungen, nämlich dem Stillstehen im Museum.

In einem sogenannten World-Café leiteten Michael Schütte, Ole Meiners und Miriam Stamm drei Diskussionsgruppen, die sich mit den Themenkomplexen „Bedeutung von Objekten für Museen“, „Epistemologischer Mehrwert durch objektorientierte Forschung“ und „Die Aufgaben von Museen heute“ befassten.

Wie zuvor Hahn widmete sich auch MAIKE SUHR (Berlin) den aus dem Kontext gerissenen Dingen, allerdings nicht im Museum, sondern im privaten Bereich. Sie untersuchte, welche Rolle der Transfer von Objekten in den jeweils anderen Kulturraum vor deutsch-türkischem Migrationshintergrund hat. In ihrem Vortrag wurde deutlich, welche Bedeutungszuweisung Objekte erhalten können, wenn sie emotional aufgeladen werden.

Als Kontrast dazu stellte MARIE TROMMER (Strasbourg) die französischen Interpretationszentren vor, die Ausstellungsorte ohne Objekte sind. An ihrer Stelle werden mit digitalen Hilfsmitteln zum Beispiel Ruinen zu vollständigen und ausgestatteten Gebäuden. Dabei stehen mehr die Erlebnisse und weniger die wissenschaftlichen Forschungen im Vordergrund. Eine Sinnverbindung lässt sich zu dem Besuch im Hansemuseum am Mittwoch ziehen. Dort wird versucht, einen Mittelweg zwischen Erlebnis und Vermittlung zu finden, indem in der Ausstellung zwischen Inszenierungen und Objekträumen gewechselt wird. Die hohe Anzahl der dort genutzten Repliken und Pars-pro-toto-Objekte gab weitere Anstoßpunkte für die während der gesamten Summerschool laufende Diskussion über die Funktion von Objekten im Museum und die Bedeutung von Originalen.

Am Abend des ersten Tages besuchten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das St. Annenmuseum und beschäftigten sich dort zum einen mit dem historischen Teil der Dauerausstellung anhand von Retabeln und zum anderen mit dem ästhetischen Zusammenspiel von moderner Kunst und historischem Schriftgut. Mit der Leiterin des Museums Dagmar Täube wurde über mögliche Vermittlungsformen der Bedeutung dargestellter Szenen diskutiert. Retabel spielten auch in dem Vortrag der ZKFL-Stipendiatin THEKLA HANSEN (Lübeck/Hamburg) am Freitag eine große Rolle. Sie beschäftigte sich mit der Ausstellungsmöglichkeit dieser komplexen Objekte, da durch die Klappfunktion und die vielschichtige Gestaltung sich auf mehreren Ebenen Vermittlungsanforderungen ergeben, die bei bisherigen Ausstellungsformaten noch nicht zufriedenstellend berücksichtigt werden.

Der Dienstag begann mit dem Keynote-Vortrag von FELIX THÜRLEMANN (Konstanz), der den Beginn der Fotografie mit Inszenierung und Montage und damit ihre von Anfang an enge Verbindung mit der Kunst darstellte. Dieser Verbindung konnte im Rahmen des von ALEXANDER BASTEK und ZKFL-Stipendiatin JULIA DIEKMANN (Lübeck/Göttingen) im Behnhaus Drägerhaus durchgeführten Workshops nachgespürt werden. In der aktuellen Ausstellung waren nicht allein einige der im Vortrag besprochenen Beispiele früher Fotografie präsent, vielmehr wurde ihre enge Beziehung zur zeitgenössischen Zeichnung und Malerei im Vergleich der Originale greifbar.

LENA HOPPE (Göttingen) zeigte anhand von Zunftpokalen, dass diese über ihren Wert als ästhetisches Kunsthandwerksstück hinaus auch für die politische Kommunikation und als Repräsentationsobjekt eine große Bedeutung hatten. Außerdem wurde deutlich, dass eine Untersuchung dieser Pokale nicht nur für die Kunstgeschichte interessante Ergebnisse zu Tage bringen kann. Wegen kaum vorhandener Schriftquellen muss ein objektorientierter Zugang gewählt werden. BIRTE HINRICHSEN (Hamburg) präsentierte eine Inszenierung des Künstlers Mark Dion, bei der die Wege von Ausstellungsobjekten reflektiert wurden.

JOHANNA LESSING (Berlin) griff ein Element aus einer wissenschaftlichen Ausstellung heraus, das eigentlich nicht im Fokus der Ausstellung stand. Sie verdeutlichte die Schritte, die das Ausstellungselement, in diesem Fall die „Erde“, bis zum Depotplatz durchläuft. Dadurch regte sie zum Nachdenken und Diskutieren darüber an, wann ein Objekt zum Museumsobjekt wird und welcher Faktoren es bedarf, dass ihm Museumswürdigkeit zugeschrieben wird.

HEIKE GFREREIS (Stuttgart) und GUDRUN PÜSCHEL (Erlangen-Nürnberg) widmeten sich zwischen den Zeilen ebenfalls dieser Frage. Erstere vertrat den Ansatz, dass es nichts gäbe, was nicht wert sei, ausgestellt zu werden, und dass es ebenfalls nichts gäbe, was nicht ausstellbar sei, und machte in dem Zusammenhang auf die Bedeutung von Rahmen zur Hervorhebung von Objekten aufmerksam. Gudrun Püschel zeigte auf, dass es eine gleichwertige Abhängigkeit von Objekten und Schriften gäbe. Am Beispiel eines Brotkrumens machte sie deutlich, dass erst durch einen beigefügten Text die Besonderheit für jeden sichtbar und das Objekt dadurch eine Bedeutung bekomme. Gleichzeitig gelte auch, dass der Text ohne das Objekt ebenfalls an Bedeutung verliere.

Auch CHRISTIANE HESS (Fürstenberg/Havel) machte in ihrem Vortrag über die Sammlungen der Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen deutlich, wie wichtig die Auseinandersetzung mit dem Kontext der Dinge ist. Am Beispiel von Ausstellungsobjekten in Holocaustgedenkstätten zeigte sie auf, wie schwierig eine Bewertung im Ausstellungskontext ist. So driften die Aufgabe der Gedenkstätten als Bollwerk gegen den Neofaschismus und die Wahrnehmung der Objekte wie Alltagsgegenstände oder Tauschwaren und Geschenke auseinander. Stellt man diese Objekte aus, weil sie immer ausgestellt wurden, weil keine anderen zur Verfügung stehen oder weil sie eine besondere Bedeutung haben? Erschwerend komme hinzu, dass diese Objekte nachträglich immer wieder als Zeichen von Normalität umgedeutet werden.

Der Mittwochnachmittag war den Literaturhäusern gewidmet. MARINA SAWRANSKAJA (Moskau) stellte das Bulgakow-Museum in Moskau vor, das vor der Schwierigkeit steht, das Leben und die Werke Bulgakows ohne überlieferte Objekte auszustellen. Das Museum steht ähnlich wie das Buddenbrockhaus vor dem Problem, den Besuchern literarische Inhalte so zu vermitteln, dass diese zwischen Autor und Literaturdarstellung trennen können.

Nach dem Vortrag teilte sich die Gruppe. Eine Hälfte ging in das Buddenbrookhaus, um vor dem Hintergrund von musealisierter Literatur über das Ausstellen von Immateriellem zu diskutieren. Nach einer kurzen Einführung in das Haus und in das Konzept seiner neuer Dauerausstellung durch die Museumsleiterin Birte Lipinski widmete sich der Workshop der ZKFL-Stipendiatin VANESSA ZEISSIG (Lübeck/Hamburg) den konzeptionellen und gestalterischen Grundlagen des immateriellen Ausstellens. Es wurde hervorgehoben, dass Themen und keine Sammlungsbestände der Ausgangspunkt aller immateriellen Ausstellungen seien und dass das Immaterielle denselben Status wie materielle Exponate erhalten müsse. Die Schwierigkeit des immateriellen Ausstellens liege weniger im Fehlen der Objekte als vielmehr in den gesellschaftlichen Konnotationen von Museen.

Die zweite Gruppe nahm im Günter-Grass-Haus am Workshop zur Entwicklung und zu den Einsatzmöglichkeiten digitaler Medien in Museen teil. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Multimediale und Interaktive Systeme (IMIS) der Universität zu Lübeck wurde eine besondere Anwendung für das Museum entwickelt, die ausgewählte Exponate mit digitalen Medien anreichert, welche vom Besucher via Augmented Reality mit dem eigenen mobilen Gerät abrufbar sind. ZKFL-Stipendiatin JULIA WITTMER (Lübeck) vermittelte in einem Workshop das Hintergrundwissen zum Günter-Grass-Haus. THOMAS WINKLER, wissenschaftlicher Mitarbeiter am IMIS, stellte das entwickelte System vor. Nach einer praktischen Erprobung gab es eine Diskussion über die Einsatzmöglichkeiten und Vor- und Nachteile digitaler Medien in Ausstellungen sowie eigene Ideen für das "Museum der Zukunft".

Am Donnerstag hielt DIETMAR SCHENK (Berlin) den Keynote-Vortrag, der sich um die Metapher der Verborgenen Schätze im Bezug auf Archive drehte. Er zeigte die Geschichte dieser Institution auf und endete mit dem Hinweis, dass dieses Sinnbild sowohl mögliche Erkenntnisgewinne durch die Archivinhalte bedeute, aber auch Streifzüge, vergebliches Suchen und die damit verbundenen Mühen. Plastischer wurde dieser Hinweis bei dem darauffolgenden Besuch in der Stadtbibliothek Lübeck, wo der Einblick in die Musikaliensammlung durch deren Leiter Arndt Schnoor zeigte, dass durch aktives Beforschen im Bestand immer wieder neue Entdeckungen gemacht werden können.

Am Abend zeigte die Leiterin des Theaterfigurenmuseums, Antonia Napp, wie schwierig die Arbeit mit Objekten ohne vorhandene Dokumentation sein kann. Das meint sowohl Objektbiographie als auch den Kontext der Nutzung, denn hinter jeder stereotypen Figur stehe eine zugeschriebene Geschichte. Ohne dieses Wissen sind die Figuren „nur“ ästhetische Objekte. ZKFL-Stipendiat MICHAEL SCHÜTTTE (Lübeck/Göttingen) verdeutlichte anhand einer Figur der zentralafrikanischen Fang die verschiedenen Bedeutungen, die ein Objekt besitzen kann. So fanden solche byeri genannten Figuren bei den Fang im Zusammenhang mit der Ahnenverehrung Verwendung, wurden gleichzeitig aber auch als Handelswaren an Europäer verkauft. Bei ihnen waren sie nicht nur begehrte Souvenirs, sondern übten unter anderem als herausragende Beispiele „primitiver“ Kunst wichtigen Einfluss auf die Ästhetik europäischer Künstler aus.

Die Bedeutung der Objektbiographie wurde auch am Freitag im Vortrag von BRITTA LANGE (Berlin) offensichtlich. Im Mittelpunkt standen die Gipsabgüsse von ethnologischen Expeditionen und der Fund des Kopfes der Nofretete. Es wurde deutlich, wie wichtig es für die Arbeit mit diesen sensiblen Objekten ist, auch die Perspektive zu reflektieren, aus der die Objektgeschichte erzählt wird. Das gilt im Besonderen für ethnologische Sammlungen. Bei dem Besuch in der Lübecker Völkerkundesammlung zeigte die Leiterin Brigitte Templin vielfältige Beispiele für die Uminterpretation von Objekten durch einseitige oder fehlende Objektgeschichte.

Im Vortrag von ZÜMRIYE ERKOVAN (Berlin) wurde die Bedeutung der ebenfalls von Britta Lange formulierten Aussage, dass Diskurse die Wahrnehmung von Objekten beeinflussen, sichtbar. Die Fundsituation der Bremer Kogge machte eine (Re-)Konstruktion des Schiffes nötig, die durch moderne Ansichten und historische heterogene Abbildungen beeinflusst wurde.

Zum Abschluss der Veranstaltung fasste Miriam Stamm die Vorträge zusammen und schlug einen Bogen über die gesamte Summerschool, indem sie Verbindungen untereinander und Bezüge zu den im World-Cafe gestellten Fragen zog. Es wurde deutlich, dass die von Birgit Stammberger in der Einleitung genannte Faszination der mal kleineren und mal größeren Dinge durch immer neue Fragen neue Perspektiven bietet.

Konferenzübersicht:

Anspruch und Einspruch der Objekte

Birgit Stammberger (Lübeck), Prof. Dr. Cornelius Borck (Lübeck), Prof. Dr. Hans Wißkirchen (Lübeck): Begrüßung und Einführung

Hans Peter Hahn (Frankfurt am Main): Was Dinge zeigen – und was sie verbergen. Epistemische Herausforderungen in verschiedenen Lesarten materieller Kultur

World-Café mit anschließender Diskussion

Maike Suhr (Berlin): Bewegte Dinge. Zur Rolle von materieller Kultur im Kontext deutsch-türkischer und türkisch-deutscher Transkulturalität

Marie Trommer (Strasbourg): Geschichte ohne Objekte – Beispiele aus Frankreich

Dagmar Täube, Museumsleiterin: Führung im St. Annen-Museum und Gespräch:Warum ist das heute interessant? Mittelalterliche Kunst im St. Annen-Museum

Blickwechsel. Archiviert und wiederentdeckt

Felix Thürlemann (Konstanz): Eine neue Syntax der Bilder und der Dinge. Zur Genese der Fotomontage im 19. Jahrhundert

Lena Hoppe (Göttingen): Zunftpokale

Birte Hinrichsen (Hamburg): Von der Themse in die Tate – Interkontextuelle Ausstellungspraxis zwischen Kunst und Wissenschaft am Beispiel von Mark Dion

Johanna Lessing (Berlin): Terracognita? Eine Spurensicherung der „Erde“ in der Sammlungs- und Ausstellungsgeschichte von Orobates Pabsti

Alexander Bastek, Museumsleiter, und Julia Diekmann: Führung im Behnhaus Drägerhaus und Workshop: Das „Making of“ der Sammlung früher Fotografien im Behnhaus Drägerhaus

Erfahrungsraum Museum: Ausstellen neu denken

Heike Gfrereis (Stuttgart): A rose is a rose is a rose oder: Wann, wie, wo und warum ist ein Ding ein Ding

Felicia Sternfeld, Museumsleiterin: Führung im Europäischen Hansemuseum und Gespräch: Museum ohne Dinge? Das Europäische Hansemuseum

Gudrun Püschel (Erlangen-Nürnberg): Entdeckung der Nebensachen: Beschriebene Varia in Goethes Sammlung

Marina Sawranskaja (Moskau): Als die Dinge verschwanden, blieben nur die Worte. Die „ungute Wohnung“ aus dem Roman Der Meister und Margarita und das Bulgakow-Museum in Moskau

Birte Lipinski, Museumsleiterin: Zur Ausstellbarkeit von Literatur. Das Günter-Grass-Haus und das Buddenbrookhaus;

Vanessa Zeissig: Immaterielles ausstellen. Ein Workshop zur Gestaltung

Thomas Winkler, Universität zu Lübeck, und Julia Wittmer: Das Ungenaue genau treffen. Ein Workshop zum Einsatz digitaler Medien im Museum

Verborgenes: Sammlungsorte und Sammlungsgeschichten

Dietmar Schenk (Berlin): Verborgene Schätze. Nachdenken über einen kulturellen Topos

Arndt Schnoor, Leiter der Musikabteilung: Führung in der Stadtbibliothek und Gespräch: Historische Bestände der Musikabteilung der Stadtbibliothek. Möglichkeiten der Arbeit mit bedeutenden Musikalien

Christiane Heß (Fürstenberg/Havel): Heimlich gezeigt. Über widerständige Dinge in den Sammlungen und Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen

Antonia Napp, Museumsleiterin, und Michael Schütte: Führung im Theaterfigurenmuseum und Gespräch: Geschichte einer Sammlerleidenschaft. Theaterfiguren aus drei Jahrhunderten

Objekte an fremdem Ort: Entziehen, Aufbewahren, Verweisen

Britta Lange (Berlin): Deplatzierte Objekte. Orte und Ontologien

Thekla Hansen (Lübeck/Hamburg): Deplatzierte Objekte? Zum Ausstellen von mittelalterlichen Flügelretabeln im musealen Kontext

Zümriye Erkovan (Berlin): Deplatzierte Objekte: Übersetzung und Transferprozesse musealer Dinge

Brigitte Templin, Leiterin der Völkerkundesammlung: Gespräch und Objektpräsentation: Was Objekte erzählen. Die Völkerkundesammlung Lübeck