Zweiter Weltkrieg und Holocaust in den erinnerungspolitischen und öffentlichen Geschichtsdiskursen Ostmittel- und Osteuropas nach 1989/1991

Zweiter Weltkrieg und Holocaust in den erinnerungspolitischen und öffentlichen Geschichtsdiskursen Ostmittel- und Osteuropas nach 1989/1991

Organisatoren
Daria Kozlova, Friedrich-Schiller-Universität Jena / KZ-Gedenkstätte Flossenbürg; Paul Srodecki, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Ostravská univerzita; IKGN e. V. - Nordost-Institut; Universität Hamburg; Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) Osnabrück; Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft (HI) Marburg
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.09.2019 - 28.09.2019
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Von
Anne Krohn, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und Holocaust nach den politischen Umbrüchen von 1989 stellt gerade in den Staaten Ostmittel- und Osteuropas ein kontroverses Thema dar. Während in Westeuropa die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit unter national unterschiedlichen Vorzeichen ab dem Kriegsende wahrgenommen wurde, verhinderte das von Moskau vorgegebene Geschichtsnarrativ in den meisten Ländern östlich des Eisernen Vorhangs eine eigenständige Betrachtung. So stand die Entwicklung der erinnerungspolitischen Aufarbeitung seit 1989 und die dazugehörigen Neuinterpretationen historischer Narrative im Fokus der internationalen und interdisziplinären Konferenz in Kiel.

Nach einleitenden Worten thematisierte PAUL SRODECKI (Kiel / Ostrava) zunächst den Wandel der polnischen Erinnerungspolitik nach 1989 anhand der Denkmalpolitik und konstatierte zwei Phasen der „Dekommunisierung des öffentlichen Raumes“. Während zunächst die Demontage der kommunistischen Ideologie im Fokus gestanden habe, schaffe die rechtsnationale Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) seit dem Regierungswechsel 2015 ein neues Geschichtsbild, welches die polnische Geschichte glorifiziere, eine polnische Mittäterschaft am Holocaust ausschließe und auf Abgrenzung, sowohl nach außen als auch nach innen, aufbaue.

ELIZAVETA GAUFMANN (Bremen) stellte die kollektive Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg in Russland dar und untersuchte, in welcher Weise diese im Kontext der Ukraine-Krise von der Regierung Putin instrumentalisiert wurde. Durch die Weitergabe des Kriegstraumas von einer Generation an die nächste in Form des „post-memory“ und die staatlich forcierte Teilnahme der Bevölkerung an Gedenkveranstaltungen sei eine Emotionalität und Verbundenheit geschaffen worden, die bestimmte, regierungsseitig erwünschte Reaktionen auf Kriegsnarrative hervorgerufen habe und immer noch hervorrufe, und so zur Diffamierung des politischen Gegners beitrug.

Anders verhält es sich seit der Perestroika in Georgien. NINO CHIKOVANI (Tblisi) erklärte, wie das offizielle sowjetische Narrativ des Großen Vaterländischen Krieges hier erstmals hinterfragt wurde und mit neuen Narrativen des Kampfes für die georgische Unabhängigkeit innerhalb der deutschen Armee kollidiert habe beziehungsweise kollidiere. Beginnend mit der Unabhängigkeit 1991 seien sowjetische Kriegsdenkmäler zwar bereits zerstört und die russische Bezeichnung des Krieges verworfen worden, doch erst der Kaukasuskrieg von 2008 habe zum radikalen Bruch mit der russischen Linie geführt.

PAWEL KLADIWA (Ostrava) gewährte einen lokalen Einblick in die bewegte Geschichte des Hultschiner Ländchens, das aufgrund der hauptsächlich deutschen Bevölkerung einen Konfliktherd zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakei darstellte. Vom Münchner Abkommen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Teil des NS-Staates, nach Kriegsende wieder tschechoslowakisch, stellte die Frage nach dem Verbleib der Bevölkerung ein Dilemma für die Regierung dar. Seit 1920 bestand Anspruch auf das „historisch-tschechische“ Gebiet, womit eine Rechtfertigung für die Vertreibung fehlte. Die einzigartige Mentalität der Hultschiner Bevölkerung werde seit der Wende nicht mehr tabuisiert, sondern sei demgegenüber Gegenstand musealer und quellenbasierter Erinnerungsarbeit.

DAVID FEEST (Hamburg) arbeitete diejenigen Faktoren heraus, welche den estnischen Umgang mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ab 1991 prägten. Die Bewältigung des durch den sowjetischen Terror hervorgerufenen Traumas einerseits, des mangelnden eigenen Widerstands andererseits, habe zum retrospektiven Mythos der nie aufgegebenen Handlungsfähigkeit und Eigenständigkeit geführt. Die Kollaboration mit der deutschen Armee werde hierbei als Fortsetzung des Freiheitskampfes für die estnische Unabhängigkeit interpretiert, eine Mitschuld an den Naziverbrechen geleugnet. Feest betrachtete eine Synthese aus lokaler Erinnerung und der Hervorhebung der individuellen Opferperspektive als wünschenswert.

Als Teil der vielgestaltigen ungarischen Erinnerungskultur befasste sich BÉATA MÁRKUS (Pécs) mit der Deportation deutschstämmiger Zivilisten zu Beginn des Jahres 1945, an der die ungarischen Behörden wesentlich beteiligt gewesen seien. Erst ab 1989 sei das Ereignis wieder Teil des öffentlichen Diskurses geworden, während die ungarische Verantwortung nach wie vor nicht anerkannt werde. Stattdessen versuche man, das Gedenken mehrerer Opfergruppen zu vereinen, wobei sich seit 2000 die Tendenz abzeichne, die Opfer des Kommunismus zu bevorzugen. Dies habe zu einer Márkus zufolge für Ungarn typischen Rivalisierung der Opfergruppen geführt. Die Nationalisierung der ungarischen Erinnerungskultur mache der deutschen Minderheit eine Identifizierung unmöglich.

Eine sehr ähnliche Entwicklung stellte MAGDALENA NOWICKA-FRANCZAK (Łódz) für Polen fest. Hier finde seit 2015 ein Konkurrenzkampf um die Opferrolle zwischen Polen und Juden statt. Die seit 2001 vorherrschende Linie der tendenziellen Anerkennung einer Mitverantwortung werde von der aktuellen Regierung gänzlich verworfen. Die PiS bediene rigoros das Narrativ der Polen als Opfer, das erinnerungskulturelle Angebot sei hier jedoch größer als das gesellschaftliche Interesse an solch einseitiger Erinnerung und Identifikation. Eine Neubelebung der jüdischen Erinnerung finde hingegen nur marginal statt und bürge die Gefahr, die Debatte zu ethnisieren.

Die intensive Erforschung der Jahre 1941 bis 1944 habe, so führte JOACHIM TAUBER (Hamburg) aus, in Litauen seit Mitte der 1990er-Jahre einen Wandel im Umgang mit dem Holocaust herbeigeführt. Die Kollaboration und litauische Beteiligung am Holocaust sei zwar weithin bekannt. Tauber skizzierte jedoch auch Debatten im öffentlichen Diskurs der letzten Jahre, die die tiefe Verwurzelung von Narrativen wie der vermeintlich jüdischen Beteiligung an Sowjetverbrechen oder des Unabhängigkeitskampfes im kollektiven Gedächtnis verdeutlichten. Den Holocaust als litauischen Erinnerungsort zu etablieren sei gelungen, er bliebe jedoch innerhalb des litauischen Kollektivgedächtnisses durchaus umstritten.

GORAN HUTINEC (Zagreb) schlüsselte drei Phasen der Erinnerungskultur in Kroatien nach 1989 auf. So seien die 1990er-Jahre vor dem Hintergrund des Kroatienkrieges von einem Wiedererstarken faschistischer Symbolik geprägt gewesen. Eine Mitverantwortung am Holocaust sowie die Verbrechen des faschistischen Ustaša-Regimes wurden dabei geleugnet. Unter dem Vorwand, der Opfer des Kommunismus zu gedenken, habe man jene faschistischen Narrative rehabilitiert. Die ab 2000 einsetzende Orientierung hin zur EU konnte einer weiterhin stattfindenden Zelebrierung des Ustaša-Kults nicht entgegenwirken. Stattdessen habe sich seit 2013 das Bestreben, die nationale Erinnerung reinzuwaschen, sogar noch verstärkt.

Die Keynote von FRANK GOLCZEWSKI (Hamburg) verband die Entwicklungen der Erinnerungskultur in Osteuropa mit den wesentlichen Elementen des Umgangs mit und der Interpretation von Vergangenheit. Kennzeichnend sei eine Selektion positiv erscheinender historischer Ereignisse, während die Erinnerung an negativ konnotierte unterdrückt werde. Gleichzeitig schwanke die Stilisierung des Gedenkens zwischen Opfer- und Heldenrollen. Am Übergang von kommunikativem zu kulturellem Erinnern habe in vielen osteuropäischen Ländern ein erinnerungspolitischer Backlash stattgefunden und zu einem Zustand der „diskursiven Unfreiheit“ geführt. Golczewskis Ausführungen lösten eine rege Diskussion im Plenum aus, die das Augenmerk auf die Gründe für das Interesse und die Nachfrage an nationalistischen Narrativen lenkte.

DARIA KOZLOVA (Jena / Flossenbürg) untersuchte anhand selektierter Beispiele die museale Darstellung des Zweiten Weltkriegs in der unabhängigen Ukraine. Dabei könne man drei wesentliche Beobachtungen machen. Zunächst sei die staatliche Geschichtspolitik seit 1991 dynamisch, die musealen Ausstellungen dagegen bis zu den Ereignissen des Euro-Maidan eher statisch. Des Weiteren resultierte die Neuausrichtung der Geschichtspolitik und die gesellschaftliche Resonanz auf letztere häufig in Mischformen zusammenlaufender nationalukrainischer, sowjetischer beziehungsweise europäischer Narrative. Überdies diene der Holocaust als Meistererzählung und stehe stellvertretend für alle zu Sowjetzeiten tabuisierten Themen und Opfergruppen.

Der belarussische Erinnerungsort Malyj Trostenez stand im Fokus des Vortrags von ALIAKSANDR DALHOUSKI (Minsk). Zwischen 1942 und 1944 wurden hier ca. 40.000 Menschen ermordet, darunter auch sowjetische Kriegsgefangene und belarussische Partisanenkämpfer, weitaus überwiegend aber aus Mitteleuropa deportierte Juden. Während vor 1989 den Opfern nach sowjetischer Tradition ohne explizite Benennung einzelner Opfergruppen, so etwa der Juden, gedacht wurde, berge die Nationalitätenfrage der Opfer heute Potenzial für politische Instrumentalisierung. Wie Dalhouski anschaulich erläuterte, stoße der Wunsch, eine übernationale Gedenkstätte zu gestalten dabei auf die Priorisierung der jeweils „eigenen“ Opfer.

MELINA HUBEL (Greifswald) erläuterte das Heldennarrativ um den polnischen Auschwitz-Freiwilligen Witold Pilecki, das insbesondere in den letzten Jahren auf vielseitige Art innerhalb der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg aber auch in der Populärkultur bedient werde und so vielseitige Identifikationsmöglichkeiten biete. Hubel bezeichnete das Pilecki-Heldennarrativ als Musterbeispiel für die von PiS propagierte Erinnerungspolitik.

In Bezug auf die museale Darstellung einer möglichen Opferkonkurrenz zwischen Letten und Juden als Leidtragende des Stalinismus und Nationalsozialismus betrachtete KATJA WEZEL (Göttingen) zwei jüngere Museen Rigas, das Stura Maja und das Ghetto-Museum. Wezel zog als positive Bilanz, dass diese zwei tatortgebundenen Museen sich jüngst um eine Personalisierung sowie einer Thematisierung der ethnischen Vielfalt der Opfer bemühten. Überdies beuge die getrennte Darstellung der Diktaturen einer Opferkonkurrenz vor.

Zusammenfassend konstatierte LUDWIG STEINDORFF (Kiel) eine gelungene Koordinierung verschiedener nationaler Diskurse, merkte jedoch an, dass eine umfassendere Klärung der jeweiligen historischen Vorbedingungen wünschenswert gewesen wäre. Allgemein ließe sich beobachten, dass die Auseinandersetzung mit dem Erinnerungsort Holocaust weiterhin schwierig sei, aber immerhin stattfinde. Das sowjetische Heldennarrativ werde vielerorts hinterfragt und abgelöst, allerdings habe die Neigung, die eigene Nation als Opfer zu stilisieren, oft zu einem Verschweigen der Mitverantwortung an Verbrechen des Krieges geführt.

Im Rahmen der Konferenz ist eine vergleichende Gegenüberstellung der vielfältigen nationalen Erinnerungsdiskurse gelungen. Es war bemerkenswert zu sehen, mit welcher Emotionalität und Unsachlichkeit die nationalen Debatten teilweise geführt werden und wie leicht beides zu politischer Instrumentalisierung bestimmter Narrative beiträgt. Gerade vor dem Hintergrund aktuell europaweit zu beobachtender Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien verbleibt als Ergebnis der Tagung die Aufgabe, nach den Adressaten der neuen Erinnerungspolitik und den Hintergründen ihres Erfolgs zu fragen.

Konferenzübersicht:

I. Staat und Erinnerung. Konkurrenz der nationalen und lokalen Narrative
Moderation: Daria Kozlova (Jena / Flossenbürg)

Paul Srodecki (Kiel / Ostrava): Zwischen verklärten Mythen und historischer Dekonstruktion. Kriegsdenkmäler als geschichtspolitische Zankäpfel am Beispiel Polens

Elizaveta Gaufman (Bremen): Post-Trauma of World War II in Russia

Nino Chikovani (Tbilisi): From the Great Patriotic War to World War II: How the Memory Has Changed in Georgia after Independence

Pavel Kladiwa (Ostrava): Deutsch denkende Tschechen? Zweiter Weltkrieg, Hultschiner Ländchen und Lokalgedächtnis

David Feest (Hamburg): Eine rein örtliche Angelegenheit? Estland und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg

II. Ethnische und religiöse Minderheiten zwischen Tabuisierung, Vergessen und Erinnerung
Moderation: Paul Srodecki (Kiel / Ostrava)

Beáta Márkus (Pécs): Von der Tabuisierung bis zum Gedenkjahr - Die Deportation der Ungarndeutschen in die Sowjetunion 1944/1945 als Teil ungarischer Erinnerungskultur

Magdalena Nowicka-Franczak (Łódz): Memory's Backlash or Revival? Polish-Jewish Wartime Past in the Contemporary Public Debate in Poland

Joachim Tauber (Hamburg): Schwierige Vergangenheit: Der Umgang mit dem Holocaust in Litauen seit 1989

Goran Hutinec (Zagreb): Holocaust in the Memory Politics and Public Historical Discourses in Croatia (1989-2019)

Frank Golczewski (Hamburg): Key Note: Mechanismen des Umgangs mit der Vergangenheit

III. Orts- und personenbezogene Narrative zum Zweiten Weltkrieg
Moderation: Rebekka Wilpert (Kiel)

Daria Kozlova (Jena / Flossenbürg): Museale Darstellung des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine

Aliaksandr Dalhouski (Minsk): Zwischen Nationalisierung, Resowjetisierung und Europäisierung: Konkurrierende Diskurse zum Erinnerungsort Malyj Trostenez

Melina Hubel (Greifswald): Der Auschwitz-Freiwillige. Eine Skizze des Heldennarratives um Witold Pilecki

Katja Wezel (Göttingen): Abkehr von der Opferkonkurrenz? Neue museale Darstellungen des Holocaust und der sowjetischen Gewaltherrschaft in Lettland

Ludwig Steindorff (Kiel): Conclusio


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