Siebter Workshop zur Jugendbewegungsforschung

Siebter Workshop zur Jugendbewegungsforschung

Organisatoren
Jugendbildungsstätte Ludwigstein; Stiftung Dokumentation der Jugendbewegung
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.05.2019 - 12.05.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Michael Kubacki, Philipps-Universität Marburg/Karls-Universität Prag; Felix Linzner, Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde, Würzburg

Der diesjährige Workshop zur Jugendbewegungsforschung stand wieder ganz im Zeichen des Austausches von NachwuchswissenschaftlerInnen zu den Themen Jugend, (historische) Jugendbewegung und verwandten Feldern. 19 Teilnehmende trafen sich, um personelle, institutionelle und ideelle Aspekte der historischen Jugendbewegung zu erörtern sowie die Vielfalt jugendkultureller Praxis seit dem 20. Jahrhundert in den Blick zu nehmen. Dabei zeichnen themenverwandte Forschungsinhalte den interdisziplinären Charakter dieser Veranstaltungsreihe aus. Lebensreform, Vegetarismus und jugendlicher Protest werden hier ebenso behandelt wie ihre historischen Kontexte, Kontinuitäten und Brüche. Diesem Anspruch trägt die Veranstaltung Rechnung und verfolgt den in den Vorjahren eingeschlagenen Kurs einer zeitlichen und thematischen Öffnung bis hin zu heutigen jugendkulturellen Phänomenen. Auch der siebte Workshop, den Michael Kubacki und Felix Linzner leiteten, wurde vom Archiv der deutschen Jugendbewegung sowie dessen wissenschaftlichem Beirat unterstützt.

Stephan Sommerfeld von der Jugendbildungsstätte Ludwigstein und die Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Susanne Rappe-Weber, begrüßten die Teilnehmenden und stellten ihre Einrichtungen und Tätigkeiten vor. Im Archiv bestand die Möglichkeit, an einer Führung teilzunehmen und die aktuelle Ausstellung zu besuchen.

Gastreferent BERND WEDEMEYER-KOLWE (Hannover) stand mit seiner Expertise das gesamte Wochenende zur Verfügung. Mit seinem Vortrag zur Forschungsgeschichte der sozialen Bewegungen seit den 1960er-Jahren legte er einen wichtigen Grundstein für das gemeinsame Reflektieren der eigenen, forschenden Rolle in den jeweiligen Feldern sowie zum zeitgenössischen (wissenschaftlichen) Verständnis derselben. Dabei wurde die Bedeutung sozialer Bewegungen hervorgehoben, „die als sensible Seismografen der jeweiligen Geschichtsepoche gelten, und zwar sowohl der zu erforschenden Epoche als auch derjenigen der Forschenden“ (nach Wedemeyer-Kolwe). Sein Plädoyer, die subjektive Rolle des/der Forschenden und die jeweilige Forschungstradition bewusst zum Gegenstand der Reflexion zu machen, zu formulieren und mit zur Diskussion zu stellen, prägte den Workshop nachhaltig.

Individuelle Interessen, Kontakte und Zugänge sowie die Prägung durch wissenschaftliche LehrerInnen leiteten und bereicherten nicht nur den ersten Vortrag von PHILIPP LEHAR (Innsbruck). Lehar gab am Beispiel der Biographie des Priesters und Jugendführers Hans Grünbacher (1910–1989) Einblicke in die Tiroler Pfadfinder-, Zeit- und Kirchengeschichte. Dabei konnte er auf unterschiedliches und reichhaltiges Quellenmaterial zurückgreifen. Mithilfe von Gruppenchroniken, Nachlässen, Interviews, Fotoalben, Protokollen und Pfadfinder-Logbüchern konnte Grünbacher vor allem als engagierter, international vernetzter Förderer der Pfadfinderarbeit nachgezeichnet werden.

Um Individuum, Zugehörigkeit und Identifikation ging es auch PIA KLEINE (Berlin), die mit ihrem Vortrag zu Techno als jugendkulturellem Phänomen den zeitlichen Rahmen bis in die 1990er-Jahre absteckte. Ausgehend von ihrer Bachelorarbeit ging sie der Frage nach, inwieweit die „Jugendbewegung Techno“ mit Begrifflichkeiten und Charakteristika operiert bzw. durch solche beschrieben werden kann, die anderen als jugendkulturell bezeichneten Erscheinungen zugerechnet werden. Dabei spürte Kleine einem szeneimmanenten Duktus nach, der vor allem durch eine zentrale Quelle, das Fanzine Frontpage, transportiert wurde.

HANS-PETER JOURDAN (Frankfurt am Main) und SELMA SCHUCHES (Berlin) widmeten sich dem Medium der SchülerInnenzeitung, geleitet durch unterschiedliche Foki. Schuches betrachtete SchülerInnenzeitungen der 1960er-Jahre in Westdeutschland. Sie zeichnete ein Changieren zwischen den Rollen der eigenverantwortlichen und unabhängigen SchülerInnenschaft und einer restriktiven Schulpolitik nach. Die Diskussion um Politisierung und Zensur, das Ausloten von Spielräumen und Emanzipationsmöglichkeiten und die Ausgestaltung von Machtverhältnissen waren Themen ihres Vortrags. Dabei machte sie deutlich, dass die Zeitungen, trotz der Heterogenität der westdeutschen Gymnasien, einen „Seismographen der westdeutschen Schulkultur“ (nach Schuches) darstellten. Jourdan schöpfte aus seinen umfangreichen Privatbeständen, die ein breites Spektrum hessischer SchülerInnen- und Jugendzeitungen abbilden und stellte die Zensurfälle jugendeigener Medien seit 1946 in den Mittelpunkt seiner Betrachtung.

CHRISTIAN KÖHLER (Berlin) stellte sein Dissertationsprojekt vor, das die Fahrenden Gesellen thematisiert. Der Bund war 1909 als Jugendorganisation des antisemitischen Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands entstanden und hatte die Weimarer Republik trotz einer Spaltung im Jahre 1919 überdauert, aus der sich der Jungvölkische Bund unter dem Namen Die Geusen gründete. Die ausschließlich aus männlichen Mitgliedern bestehende Gruppierung war in der Republik im bündischen Milieu aktiv und galt bei ZeitgenossInnen wie auch nach 1945 als völkisch. Köhler warf die Frage auf, ob diese Einordnung der Fahrenden Gesellen zutreffend sei, denn im Bund wurden Rassismus, völkische Rassenlehre und gängige Bücher der völkischen Bewegung nicht besprochen. Zudem sei die völkische Symbolik und Ideologie nur von wenigen Mitgliedern getragen worden. Anregend war Köhlers Hinweis auf die aktuelle Forschung zur völkischen Bewegung, die die Gruppierung, je nach Enge der Begriffsauslegung, unterschiedlich deutlich dem Völkischen zuordnet (S. Breuer, U. Puschner).

Thematisch knüpfte BENET LEHMANN (Berlin) mit den Ergebnissen seiner Bachelorarbeit an. Er befasste sich mit Entwürfen des Zusammenlebens in völkischen Bünden innerhalb der Jugendbewegung, besonders mit dem Konzept der Jugendgemeinschaft, den an die „Volksgemeinschaft“ angelehnten Ideen des Zusammenlebens von Frauen und Männern. Neben „Rasse“, die in Abgrenzung zur modernen Gesellschaft verwendet wurde, gehörte die Kategorie „Geschlecht“ in den völkischen Bünden, wie im Deutschen Mädchen-Wanderbund, zu diskutierten Themen über Ideale des gemeinschaftlichen Zusammenlebens.

Mit dem Volkstanz und seiner Bedeutung innerhalb der historischen Jugendbewegung stellte SUNG-YOUN CHUNG (Halle/Saale) einen Aspekt seines Dissertationsvorhabens vor. Im Rückgriff auf das vermeintlich Traditionelle haben Gruppen der Jugendbewegung den Volkstanz als gemeinschaftliche Betätigung übernommen. Anders als bei modernen Tänzen stand hier nicht Perfektionismus im Vordergrund, sondern der Genuss, der durch das Gemeinschaftserlebnis, die körperliche Erfahrung und das Vertrauen in die Tanzgruppe bestimmt war. Mit den populären Laien- und Kreistänzen waren zudem traditionelle Geschlechterrollen verbunden, die dadurch reproduziert wurden.

Am Beispiel junger Frauen im Ruhrgebiet der 1950er-Jahre stellte NICOLE NUNKESSER (Dortmund) ihr Dissertationsprojekt zur Selbstinszenierung und Vereinnahmung städtischen Raumes durch Jugendliche vor. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Niederlage Deutschlands brachten auch ein Ende der Ordnungsvorstellungen mit sich, wie sie während des Nationalsozialismus propagiert worden waren. Der jungen Generation im Nachkriegsdeutschland standen neue Möglichkeiten offen, sich selbst zu inszenieren und Räume im städtischen und öffentlichen Leben für sich zu beanspruchen. Obwohl die Jugendforschung an diesem Thema schon früh ansetzte, konzentrierten sich diese Untersuchungen vorwiegend auf Jungen und junge Männer. Nunkesser möchte Mädchen und junge Frauen anhand fotografischer Quellen näher betrachten und zeigte an Beispielen, wie die jugendlichen Frauen von US-amerikanischen und britischen Vorbildern inspiriert wurden, dass starke (auch männliche) Figuren als ihre Idole galten und sie mit cross dressing die binären Geschlechtercodes irritierten.

JOHANN THUN (Berlin) machte auf ein bisher wenig erforschtes Feld der historischen Jugendbewegung aufmerksam: ihre Rezeptionsgeschichte außerhalb Deutschlands. Im Mittelpunkt standen zwei Vertreter des libertären Personalismus, Bernard Charbonneau (1910–1996) und Jacques Ellul (1912–1994), die bis vor kurzem sowohl in Frankreich als auch in Deutschland kaum Beachtung fanden. In ihrer Kritik an Technisierung und Entfremdung in der rationalistisch-kapitalistischen Moderne untersuchten sie auch die deutsche Jugendbewegung, die sie zunächst als geistige Quelle des nationalsozialistischen Naturbezugs identifizierten. In ihren späteren Texten erkannten die beiden Franzosen die deutsche Jugendbewegung als eine Alternative zu den modernen Erscheinungen.

Während der Abschlussdiskussion wurden offene Fragen beantwortet und der Workshop resümiert. Positiv wurde die interdisziplinäre Ausrichtung aufgenommen, insbesondere die Öffnung für Themen, die nicht nur die historische Jugendbewegung behandeln. Zwar führt die thematische Breite dazu, dass Probleme, Methoden und Theorien der einzelnen Beiträge wenig Gemeinsamkeiten aufweisen, doch bietet sie die Möglichkeit, bisher nicht hinterfragte Konzepte und Begriffe neu zu betrachten. Besonders diskutiert wurde die Frage nach der Einbeziehung von Gender in den Beiträgen. Dieser Aspekt sei in der Forschung bisher gar nicht oder nur wenig beleuchtet worden.
Der nächste Workshop wird vom 24. bis 26. April 2020 stattfinden und von Sandra Funck (Göttingen) und Michael Kubacki (Marburg) organisiert.

Konferenzübersicht:

Bernd Wedemeyer-Kolwe (Hannover): Forschungsgegenstände und Forschungsgenerationen – die Forschungsgeschichte der Alternativen Bewegungen als Reflexionsproblem: Verläufe, Interpretationen, Selbstbilder

Philipp Lehar (Innsbruck): Hans Grünbacher – Priester und Jugendführer

Pia Kleine (Berlin): „The Future is Ours“? – Techno als jugendkulturelles Phänomen in den 1990ern

Hans-Peter Jourdan (Frankfurt am Main): „Gedruckt, zensiert, verboten“ – Schülerzeitung und Zensur in Hessen

Selma Schuches (Berlin): Westdeutsche Schülerzeitungen der 1960er-Jahre – junge Journalisten zwischen Politisierung und Zensur

Christian Köhler (Berlin): Die Fahrenden Gesellen

Benet Lehmann (Berlin): „Ungestörte Entwicklung“ in der Jugendgemeinschaft. Entwürfe des Zusammenlebens in völkisch-jugendbewegten Bünde

Sungyoun Chung (Halle/Saale): Regulierte Freiheit - Tanz und Körperbild in der Jugendbewegung

Nicole Nunkesser (Dortmund): Jugendliche Selbstinszenierung und Vereinnahmung des städtischen Raums durch junge Frauen im Ruhrgebiet der 1950-Jahre

Johann Thun (Berlin): „Créer une Jugendbewegung, oui…“ – Zur französischen Rezeption der Jugendbewegung am Beispiel von Jacques Ellul und Bernard Charbonneau


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