Die Fabrik des Textes – Materialität und Textualität des Versailler Vertrages

Die Fabrik des Textes – Materialität und Textualität des Versailler Vertrages

Organisatoren
Steffen Bruendel, Goethe-Universität Frankfurt a. M., Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften; Axel Dröber, Deutsches Historisches Institut Paris; Frank Estelmann, Goethe-Universität Frankfurt a. M., Institut für Romanistik; Pierre Monnet, Institut franco-allemand de sciences historiques et sociales, Frankfurt a. M.
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
26.09.2019 - 27.09.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Cornelius Goop, Historisches Seminar, ZEGK, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Der Versailler Vertrag gehört zu den bedeutendsten Dokumenten der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Seine Auswirkungen auf die Politik- und Mentalitätsgeschichte der europäischen Staaten, insbesondere Deutschlands und Frankreichs, sind aufgrund reger historischer Forschung gut bekannt. Selten in den Blick genommen wurde bisher jedoch das Dokument des Vertragswerkes an sich: seine Genese, begriffliche Zusammensetzung und Überlieferungsgeschichte, die Frage also, wie der Vertragstext „fabriziert“ worden ist. Die Auseinandersetzung mit der Materialität und Textualität des Friedensvertrages von Versailles war, einhundert Jahre nach seiner Entstehung, Ziel eines Workshops am Deutschen Historischen Institut in Paris (DHIP). Eingeladen waren dazu deutsche und französische Spezialisten aus unterschiedlichen Disziplinen, darunter eine Reihe jüngerer Forscherinnen und Forscher.

In seiner Begrüßung betonte THOMAS MAISSEN (Paris) die Vorteile einer deutsch-französischen Herangehensweise an den Versailler Vertrag. So könnten zwei für die Historiographie der beiden Länder jeweils typische Quellenzugänge miteinander verbunden werden. Während für die philologisch geschulte deutsche Geschichtswissenschaft die Textualität stets zentral gewesen sei, habe in der von der Annales-Schule geprägten französischen Geschichtsschreibung lange die Materialität eine wichtige Rolle gespielt.

In ihrer Einführung stellten STEFFEN BRUENDEL (Frankfurt a. M.), FRANK ESTELMANN (Frankfurt a. M.), PIERRE MONNET (Paris/Frankfurt a. M.) und AXEL DRÖBER (Paris) den Workshop in eine Reihe mit anderen von ihnen ausgerichteten Veranstaltungen zum Ersten Weltkrieg, die in den letzten Jahren stattgefunden haben. Daraus sei die Idee hervorgegangen, sich auch mit dem Ende des Krieges und speziell dem Versailler Vertrag auseinanderzusetzen. Den Vertragstext als solchen zu betrachten, solle dabei als Auftakt zu neuen Einsichten in die Geschichte des Friedens und die deutsch-französischen Beziehungen verstanden werden. Daneben versuchten die Organisatoren auf dem Workshop auch einen direkten Austausch herzustellen: dem Hauptvortrag einer Referentin oder eines Referenten folgte jeweils ein Kommentar bzw. ein Kurzreferat, mit dem die Diskussion eingeleitet wurde.

Die erste Sektion des Workshops beschäftigte sich mit der materiellen Spur des Friedensvertrages von Versailles. ULRICH PFEIL (Metz) sprach über die – einer breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannte – Geschichte des verlorenen Originaldokuments. Dieses war während der deutschen Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg aus Paris geraubt worden und ging vermutlich 1945 während des Kampfes um Berlin im Archiv des Auswärtigen Amtes in Flammen auf. Deutsche Archivare, unter ihnen viele Mediävisten, spielten in dieser Geschichte eine zentrale Rolle. Sie waren bereits nach dem Überfall auf Belgien unter dem Stichwort „Archivschutz“ beauftragt worden, französische Archivalien für Deutschland zu sichern. Mit diesem Archivraub, der unter Leitung des Sonderkommandos Künsberg durchgeführt wurde, suchte das Regime neue Erkenntnisse zur französischen Politik der Zwischenkriegszeit zu gewinnen, die es bei späteren Friedenverhandlungen einzusetzen gedachte. Insbesondere Akten des Außenministeriums am Quai d’Orsay waren für dieses Vorhaben der politischen Instrumentalisierung interessant. Trotz Evakuierung der wichtigsten Bestände wurde der Versailler Vertrag unter Leitung des Romanisten Karl Epting im Château de Rochecotte aufgefunden und beschlagnahmt. INA MEHLER (Frankfurt a. M.) ging in ihrem anschließenden Kommentar auf den Zweck des „Archivschutzes“ ein. PASCAL HOHMANN (Frankfurt a. M.) schloss mit einer Vertiefung der politischen Dimension der Archivarbeit an und kam dafür auf einen geplanten, schließlich aber doch nicht realisierten deutschen Dokumentarfilm aus den 1940er-Jahren über den Versailler Vertrag zu sprechen.

SÉVERINE BLENNER-MICHEL (La Courneuve) ging in ihrem Vortrag auf die Archivbestände der Friedens- und Botschafterkonferenz (Archives de la Conférence de la paix et des ambassadeurs) ein, die in den Archives diplomatiques in La Courneuve liegen. Sie stellte heraus, wie der Archivraub durch die Deutschen die Zusammensetzung und Zugänglichkeit der Bestände bis heute prägt. Die gestohlenen Dokumente wurden zwar 1945 aus Deutschland und 1978 aus Polen restituiert, jedoch waren sie durch Archivbrände stark dezimiert worden. Die in den 40er-Jahren durch die Deutschen erstellten Mikrofilme gleichen den Verlust nur teilweise aus. Seit 2014 sind umfassende Restaurierungs- und seit 2017 Neustrukturierungsarbeiten in Gang. LAURIANE BUTANJI (La Courneuve) stellte in ihrem Impulsvortrag einen speziellen Bestand dieses Archives vor: die Akten der Kommission für die Beantwortung der Stellungnahmen der deutschen Delegation (Comissions de réponse aux obsérvations de la délégation allemande).

Die zweite Sektion des Workshops war der Textualität des Versailler Vertrages gewidmet. VINCENT LANIOL (Paris) stellte seine Forschungen zum Kriegsschuldartikel 231 vor. Er verwies darauf, dass die Vertreter der Entente durchaus von der Kriegsschuld Deutschlands überzeugt waren, es aber große Differenzen darüber gab, ob diese moralische Schuld überhaupt in einen Rechtstext aufgenommen werden sollte. Auf fast paradoxe Weise sei der Artikel überhaupt erst auf Initiative der USA entstanden, die zwischen den zum Teil völlig überzogenen Reparationsforderungen der französischen und britischen Seite und einer für Deutschland erträglichen Schuldlast vermitteln wollten. Jedoch wurde der Artikel, der die Reparationsforderungen für zivile Schäden auf eine rechtliche Grundlage stellen sollte, bald um eine moralische Interpretation ergänzt, was ihm erst seine bekannte Sprengkraft verlieh. Auch Missverständnisse bei der Übersetzung und Interpretation einzelner Wörter hätten bei den Verhandlungen über Artikel 231 eine zentrale Rolle gespielt. MARIYA ROMANOVA (Paris) ergänzte diese Ausführungen um einen Kurzvortrag zu den Verhandlungen über die Ukraine auf der Pariser Friedenskonferenz.

VERENA STELLER (Frankfurt a. M.) fragte nach der Bedeutung des symbolischen Handelns der Diplomaten auf der Pariser Friedenskonferenz. Sie verwies auf die zentrale Bedeutung der Aufzeichnungen von Diplomaten als Quellen, wie das Buch Peacemaking 1919 des britischen Konferenzteilnehmers Harold Nicolson. Diplomaten seien Experten von An- und Abwesenheit im Zwischenraum der Interaktion, da sie Positionen mittelbar zu erkennen gäben und abwesende Personen stellvertretend repräsentierten. Sie würden somit als Vermittler zwischen der Verhandlungspraxis und dem Vertragstext fungieren. Die Abwesenheit eines Verhaltensprotokolls auf der Pariser Friedenskonferenz habe dabei eine wichtige Rolle gespielt. Steller wies somit nicht nur auf den Einfluss der Diplomaten auf den Vertragstext hin, sondern fragte auch nach dem Einfluss des Textes auf das Verhalten der Diplomaten selbst. BENJAMIN PFANNES (Mainz) beschäftigte sich anschließend mit der Organisation der Friedenskonferenz und sprach darüber, wie man von der ursprünglichen Absicht, zunächst einen Präliminarfrieden zu schließen, abkam und schließlich doch einen Definitivfrieden schuf.

Die dritte Sektion schließlich beschäftigte sich mit der Rolle, die Übersetzungen und Übersetzer für den Versailler Vertrag spielten. Den Auftakt hierzu machte PHILIPP SIEGERT (Frankfurt a. M.), der sich dem Spezialfall der juristischen Übersetzungen widmete. Er stellte fest, dass sich Rechtsbegriffe, die sich auf die Kriegsführung bezogen, zwischen den an der Friedenskonferenz beteiligten Staaten zum Teil stark unterschieden. Dies betraf etwa Bezeichnungen wie die französische „Retorsion“ oder auf deutscher Seite die „Kriegsnotwendigkeit“. Selbst internationale Juristenvereinigungen wie das Institut de Droit International hätten diese Diskrepanz in den Jahrzehnten zuvor nicht aufgelöst. Das Wirtschaftskriegsrecht war in diesem Zusammenhang besonders betroffen. Hier kam erschwerend hinzu, dass sich die Art der Wirtschaftskriegsführung im Laufe des Weltkrieges verschoben habe: von einer klassischen zwischenstaatlichen Ebene (Handelskrieg) auf eine zivile Ebene. Als 1919 die Abwicklung der Wirtschaftskriegsmaßnahmen erfolgen sollte, wurde die Verantwortungslogik und somit die Haftbarmachung entsprechend vom Staat auch auf Zivilpersonen übertragen. Es sei somit, auch unter Ausnutzung rechtsbegrifflicher Unterschiede, im Versailler Vertrag zu einer Verschiebung von einer Staatsverantwortlichkeit zu einer Nationalverantwortlichkeit gekommen. DOMINIC SCHMOLL (Überherrn) diskutierte anschließend Entstehung und Auswirkungen der Artikel 45 bis 50 des Versailler Vertrages, die – als „Sicherheit“ für französische Reparationsansprüche – zur Gründung des Saargebietes führten.

Der abschließende Vortrag von FRANZISKA HEIMBURGER (Paris) machte auf eine wenig erforschte Personengruppe bei der Pariser Friedenskonferenz aufmerksam: die der Übersetzer und Dolmetscher. Englisch und Französisch seien sowohl für die Verhandlungen als auch für den Vertragstext als gleichberechtigt bestimmt worden, was durchaus zu Diskussionen bei der Übersetzung einzelner Wörter geführt habe. Anders als bei heutigen diplomatischen Konferenzen habe es keine Simultanübersetzungen gegeben, sondern ein Konsekutivdolmetschen, d. h. eine zeitversetzte Übersetzung. Insbesondere die Person des französischen Dolmetschers Paul Mantoux sei als Fallstudie interessant, da dieser nicht nur den meisten Zusammenkünften der Großen Vier beiwohnte, sondern auch für seine schnelle Auffassungsgabe hochangesehen war. Zwei Aspekte seien als Konsequenzen aus der Anwesenheit von Übersetzern und Dolmetschern und damit aus der Mehrsprachigkeit der Konferenzteilnehmer hervorzuheben: temporalité (Zeitlichkeit) und invisibilité (Unsichtbarkeit). Reaktionen auf Reden wie beispielsweise Applaus erfolgten oft zeitversetzt, und auch die Kommunikation fand nicht unmittelbar statt, sondern vermittelt und somit mit zeitlichem Abstand. Zudem waren auch bei wichtigen Verhandlungen in Person der Dolmetscher stets weitere im Hintergrund tätige und somit für heutige Betrachter oft unsichtbare Akteure anwesend. CORENTIN SIRE (Caen) analysierte im Anschluss die Aufzeichnungen und Notizen, die Paul Mantoux während der Verhandlungen erstellt hatte.

Der Workshop vermochte es, einem durchaus schon gut erforschten historischen Ereignis wie der Pariser Friedenkonferenz von 1919 einige neue Aspekte und Perspektiven abzugewinnen. Zurück zu den Quellen zu gehen und dabei im Sinne Marc Blochs noch einige „Zeugen wider Willen“ aufzuspüren, erwies sich als sehr fruchtbringend. Insbesondere die detaillierte Beschäftigung mit der Genese einzelner Artikel und die Heraushebung der Bedeutung von Übersetzungen warfen neue spannende Fragen auf. Auch die Organisationsform als Atelier, das darauf abzielte, eine stärkere Beteiligung aller Anwesenden auf Augenhöhe zu erreichen, erwies sich als gelungen. So nahmen nicht nur fortgeschrittene Wissenschaftler aus Deutschland und Frankreich an den Diskussionen teil, sondern es konnten sich auch Nachwuchswissenschaftler und Studierende aktiv miteinbringen.

Konferenzübersicht:

Thomas Maissen (Paris): Begrüßung

Steffen Bruendel (Frankfurt a. M.), Axel Dröber (Paris), Frank Estelmann (Frankfurt a. M.), Pierre Monnet (Paris/Frankfurt a. M.): Einführung

Sektion 1: Die materielle Spur des Friedensvertrages von Versailles

Ulrich Pfeil (Metz): Das verlorene Original des Versailler Vertrages und seine Geschichte

Kommentar: Ina Mehler und Pascal Hohmann (beide Frankfurt a. M.)

Séverine Blenner-Michel, Lauriane Butanji (beide La Courneuve): Les archives de la Conférence de la paix et des ambassadeurs

Sektion 2: Textualität des Friedensvertrages

Vincent Laniol (Paris): L’article 231 entre histoire des faits et des représentations

Mariya Romanova (Paris): L’influence de la textualité du traité de Versailles sur la délimitation des frontières ukrainiennes

Verena Steller (Frankfurt a. M.): Friedensvertrag und diplomatische Handlungsformen in den deutsch-französischen Beziehungen

Kommentar: Benjamin Pfannes (Mainz)

Sektion 3: Die Übersetzung

Philipp Siegert (Frankfurt a. M.): Vom Wirtschaftskriegsrecht zur Responsibilisierung im Friedensvertrag

Kommentar: Dominic Schmoll (Überherrn)

Franziska Heimburger (Paris): Approcher de la complexité linguistique d’une négociation. Les notes de Paul Mantoux à la conférence de la paix

Kommentar: Corentin Sire (Caen)


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger