Medizin und Revolution. 8. Mitteldeutsche Konferenz für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte

Medizin und Revolution. 8. Mitteldeutsche Konferenz für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte

Organisatoren
Florian Bruns, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.10.2019 - 09.10.2019
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Von
Nicolas Heirich, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Zur Konferenz waren neun Referenten verschiedener Fachrichtungen eingeladen. Die ersten fünf Vorträge hatten die Revolution(en) im mitteldeutschen Raum 1918–1923 in und um Halle als gemeinsamen Themenschwerpunkt. In der nachfolgenden freien Sektion trugen die Referenten zu verschiedenen Themen vor, ohne dabei das Ziel der Tagung aus den Augen zu verlieren, nämlich einen für alle Seiten spannenden, interdisziplinären Austausch von medizinischem, psychologischem und historischem Fachwissen.

PATRICK WAGNER (Halle an der Saale) nahm die KonferenzteilnehmerInnen mit in die konfliktgeladenen Nachkriegsjahre 1918–1921. Er konzentrierte sich dabei auf die sozialen und politischen Ereignisse in und um Halle, wo es im März 1919 sowie in den zwei darauffolgenden Jahren immer wieder zu Aufständen und Revolutionsversuchen kam. Kann man bei diesen Ereignissen von Revolution sprechen? Dieser von einigen Historikern schon seit Jahren zu den Akten gelegten Frage nahm sich Wagner noch einmal entschieden an und bejahte sie aus der Perspektive der Revolutionäre. Die in der Nachkriegszeit unter existenziellen Nöten leidenden Arbeiter verstanden sich als Revolutionäre, freilich ohne diesen Begriff immer verinnerlicht bzw. für sich definiert zu haben. So führten die Märzaufstände in Halle zu keiner gezielten Besetzung des Postwesens, der Bahnhöfe oder des Rathauses. Stattdessen wurde eher unkoordiniert protestiert und zumindest symbolisch (rote Fahne auf dem Rathaus) mit der alten Ordnung gebrochen. Die aufbegehrenden Arbeiter forderten die Vergesellschaftung der Betriebe (nicht zu verwechseln mit der Verstaatlichung), die Abschaffung des alten Militärwesens und soziale Umverteilung.

Nach diesem zeithistorischen Einstieg widmete sich JUDITH HAHN (Berlin) am Beispiel der Münchener Räterepublik der Psychopathologisierung mancher Revolutionäre durch zeitgenössische Psychiater. Hahn zufolge lassen sich die zeitgenössischen Einschätzungen in drei Kategorien unterteilen. Zum einen werden die Revolutionäre als eine psychisch labile Risikogruppe beschrieben, die es durch geschickte Reden schaffe, dass Volk zu verführen. Zum anderen wird angenommen, dass psychopathische Züge die Kreativität und die Schaffenskraft, geradezu das Genie fördern können und deshalb nicht nur negativ zu sehen seien. Eine dritte Position war um Vermittlung zwischen diesen beiden Polen bemüht, wich aber auch nicht davon ab, Revolutionäre grundsätzlich als psychisch abnorm zu betrachten.

Der Wissenschaftshistoriker MICHAEL KAASCH (Halle an der Saale) stellte das Handeln des Hallenser Physiologen Emil Abderhalden in den Revolutionsjahren vor. Abderhalden engagierte sich nach dem Krieg für die Gesundheit der deutschen Bevölkerung, insbesondere für kranke oder unterernährte Kinder. In der frühen Nachkriegsphase erwachte auch sein politisches Engagement, wobei er sich zunächst vehement für die Demokratie und die Beteiligungsmöglichkeit der BürgerInnen aussprach. Die Schweiz als Vorbild vor Augen, strebte er eine Demokratie an, in der mündige BürgerInnen sich freiwillig an der Gestaltung der Politik beteiligten. Anfangs noch Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, verlor Abderhalden allerdings immer stärker das Vertrauen in die Gestaltungskraft des Parteienstaates und in die politische Pflichterfüllung der BürgerInnen, weswegen er schließlich zu der Überzeugung kam, dass ein nicht an politischer Beteiligung interessiertes Volk eine starke Führungspersönlichkeit benötige. Abderhaldens spätere, von Ambivalenz geprägte Haltung zum Nationalsozialismus deutete sich hier bereits an.

SOONIM SHIN (Wien) sprach über den Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf, der durch Kriegserlebnis und Revolution zum Kommunisten wurde. Schon früh verschmolzen für Wolf medizinische und politische Sphäre. In treffenden Polemiken setzte er sich nach 1918 für ein verstaatlichtes Gesundheitswesen ein. Wolf zufolge sollten etwa Kurorte auch der Arbeiterklasse zur Verfügung stehen, und die Arzt-Patient-Beziehung dürfe nicht durch finanzielle Erwägungen der ÄrztInnen bestimmt sein. Die ärmste Schicht der Bevölkerung werde, so Wolf, zu schlecht versorgt, und das Bewusstsein dafür sei in der republikanischen Regierung nicht vorhanden. Insbesondere im Kontrast zum vorangegangenen Referat war der Lebenslauf von Wolf spannend, da so der sehr unterschiedliche Umgang von Ärzten derselben Epoche mit denselben sozialen Problemen deutlich wurde.

Der Arzt und Medizinhistoriker FLORIAN BRUNS (Halle an der Saale / Berlin) lieferte erste Einblicke in die größtenteils erhalten gebliebenen Patientenakten der Halleschen Universitätsklinik für Psychiatrie aus den Jahren 1918–1923. Bruns konnte zeigen, dass die politischen Unruhen sich sowohl in der formalen Gestaltung der Akten als auch in den Patientenschicksalen widerspiegeln. Anamnesen, ärztliche Kommentare oder auch Bemerkungen in Patientenbriefen nehmen besonders im Winter 1918/19 Bezug auf die politischen Umbrüche außerhalb der Klinik. Auf diese Weise treten zeitgenössische Einschätzungen der Ereignisse plastisch hervor. Ob und in welchem Ausmaß sich der Umgang mit den PatientInnen, die Diagnosen sowie die Qualität der Behandlung im Verlauf der Jahre verändert hat, wird Gegenstand zukünftiger Forschung sein.

Der Kardiologe DIETER SCHWARTZE (Petersberg) leitete mit seinem Vortrag über das Instituto Nacional de Cardiologia (NIC) in Mexiko City und dessen Bezüge zur Halleschen Universitätsmedizin die thematisch freie Sektion der Konferenz ein. Ein prominenter Absolvent des NIC war der aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohene jüdische Arzt Rudolf Zuckermann. Dieser kehrte 1953 in die DDR zurück, wo er zunächst als Spion verdächtigt und stalinistischer Verfolgung ausgesetzt war. 1962 erhielt Zuckermann schließlich den ersten Lehrstuhl für Kardiologie in Deutschland an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Der Historiker PHILIPP KARSCHUCK (Dresden) stellte aktuelle Forschungsergebnisse über die Geschichte der Anthroposophie in Israel vor. Er konzentrierte sich auf die Bereiche Medizin, Heilfürsorge und Pädagogik, deren Transfer nach Israel und die dortige Weiterentwicklung nach der Staatsgründung 1948. In Israel hat sich seitdem eine gesellschaftlich sehr gefragte, alternative und eigenständige Version der Anthroposophie herausgebildet, bei der praktische Angebote gegenüber dem ideologisch-theoretischen Diskurs Rudolf Steiners dominieren. Steiners auch von Antisemitismus geprägte Weltanschauung wird dabei bislang weitgehend ausgeblendet.

Der an den Franckeschen Stiftungen tätige Historiker THOMAS GRUNEWALD (Halle an der Saale) berichtete über eine für das Jahr 2021 geplante Ausstellung über Pietismus und Medizin. Ausgangspunkt hierfür werden neue Erkenntnisse zum Kinderkrankenhaus der Franckeschen Stiftungen sein, das ab 1721 auf dem Gelände der vormaligen Glauchaischen Anstalten errichtet wurde. Grunewald nahm die Überlegungen, Projekte und Einrichtungen zur Krankenpflege ab der Grundsteinlegung des Waisenhauses 1698 in den Blick. Zudem verwies er auf die enge Verbindung zur Medizinischen Fakultät der Friedrichs-Universität und das für die Umsetzung der Krankenhauspläne wesentliche Zusammenspiel Franckes mit adligen Gönnern.

JACOB SCHILLING (Haale an der Saale) ging es in seinem Vortrag über den Medizinprofessor Friedrich Hoffmann um eine kritische Analyse von dessen Autobiographie. Der Gründer der Halleschen Medizinischen Fakultät hat sich – nachweislich bisher unveröffentlichter Korrespondenzen – im Alter Gedanken um seinen Nachruhm gemacht. Hoffmann verfasste bzw. diktierte zu diesem Zweck eine Autobiographie, von der es heute zwei Versionen gibt, die in manchen Schilderungen voneinander abweichen. Im Rahmen eines Projekts zu Hoffmanns „Gedächtnisarbeit“ könnte es aufschlussreich sein, so Schilling, die beiden Lebensbeschreibungen vergleichend zu betrachten und sie mit anderen biographischen Dokumenten (Leichenpredigten, Memoriae) in Beziehung zu setzen. Auch Hoffmanns Testament sowie seine Legate, die bis weit ins 19. Jahrhundert in Halle ausgezahlt wurden, wären dabei zu berücksichtigen.

Die 8. Mitteldeutsche Konferenz gab interessante Einblicke in laufende medizin- und wissenschaftshistorische Forschungsprojekte. Die zahlreich erschienenen ZuhörerInnen diskutierten lebhaft mit den Vortragenden. Überschattet wurde die Veranstaltung von einem rechtsextremen Anschlag auf die Hallenser Synagoge unweit des Tagungsortes, bei dem zwei Passanten ermordet und weitere Menschen verletzt wurden. Organisatoren und Teilnehmern der Konferenz ist für ihr umsichtiges Verhalten in der über Stunden unklaren und unsicheren Situation zu danken.

Konferenzübersicht:

Patrick Wagner (Halle an der Saale): Die dreifachen Märzkämpfe. Dynamiken der Gewalt in Halle und dem mitteldeutschen Industrierevier zwischen 1919 und 1921

Judith Hahn (Berlin): Zur Psychopathologisierung von Revolutionären um 1918

Michael Kaasch (Halle an der Saale): Der Demokrat Emil Abderhalden in den Revolutionsjahren

Soonim Shin (Wien): Friedrich Wolf (1919): Der Arzt als „Volksdiener“ für das „Recht auf Gesundheit“

Florian Bruns (Halle an der Saale / Berlin): Psychisch krank in unruhiger Zeit. Ein erster Blick in die Patientenakten der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Halle 1918-1923

Dieter Schwartze (Petersberg): Das Instituto Nacional de Cardiologia (NIC) in Mexico City, die Bedeutung für die Gründung der Internationalen Kardiologenvereinigung 1944 sowie für die hallesche Universitätsmedizin

Philipp Karschuck (Dresden): Transfer of Knowledge: Rudolf Steiners Anthroposophie in Israel seit 1920

Thomas Grunewald (Halle an der Saale): Die Krankenhäuser der Franckeschen Stiftungen. Eine Quellengeschichte der ersten 50 Jahre

Jacob Schilling (Halle an der Saale): Die Autobiographie Friedrich Hoffmanns (1660-1742). Ein Beispiel gelehrter Gedächtnisarbeit im 18. Jahrhundert


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