Preußen und sein Osten in der Weimarer Republik. Jahrestagung der Preußischen Historischen Kommission

Preußen und sein Osten in der Weimarer Republik. Jahrestagung der Preußischen Historischen Kommission

Organisatoren
Preußische Historische Kommission, Berlin; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin; Carl und Annelise Goerdeler Stiftung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.11.2019 - 09.11.2019
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Von
Antonia Sophia Podhraski, Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz

„Preußen geht fortan in Deutschland auf.“ Diese Schlagwortwendung zog sich seit ihrer ursprünglichen Erwähnung in einer Proklamation von Friedrich Wilhelm IV. am 21. März 1848 wie ein roter Faden durch das preußisch-deutsche Verhältnis und errang, insbesondere in der Weimarer Republik, erneut Bedeutung. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung und zur preußischen Landesversammlung fokussierte die diesjährige Konferenz der Preußischen Historischen Kommission in verfassungsrechtlicher, politiktheoretischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive auf die politische Kultur der preußischen Ostprovinzen in den Jahren nach 1919 und bot wichtige Erkenntnisse zur weiteren Erforschung des Untergangs der Weimarer Republik.

Nach der Begrüßung durch den Vorsitzenden der Preußischen Historischen Kommission, Frank-Lothar Kroll, und die Direktorin des Geheimen Staatsarchivs, Ulrike Höroldt, leitete HORST MÖLLER (München) die Konferenz ein. In seinem Vortrag charakterisierte er die Stellung Preußens im föderativen System der Weimarer Republik. Die Eigenart des mit Abstand größten Landes im Reich bestehe in der Stabilität seines politischen Systems: pragmatische Entwicklung der Parteien, solide Mehrheitsergebnisse bei Wahlen sowie stabile und handlungsfähige Regierungen. Die politische Kultur in Preußen sei, wie auf Reichsebene, durch eine Politisierung gekennzeichnet, die allerdings, in Abgrenzung zum Gesamtstaat, nicht in Form einer „Parteienherrschaft“ erfolge, denn die preußischen Staatsämter rekrutierten ihr Personal primär aus verfassungstreuen Juristen. Möller betonte, dass Preußen zur Zeit der Weimarer Republik einen beispielhaft stabilen Parlamentarismus pflegte und demzufolge als Bollwerk der Demokratie fungierte, an dem die Weimarer Republik hätte genesen können.

Die erste Sektion Verfassung begann mit dem Vortrag von GEORG ECKERT (Wuppertal), der versuchte, die zentrale Frage zu beantworten, wie denn prominente Zeitgenossen Preußen eigentlich wahrnahmen. Die Perzeption des Preußischen lasse sich in drei Aushandlungsprozessen erkennen: I. Preußen als Bastion des Militarismus, II. preußische Eigenarten als Stereotyp und III. preußisch konnotierte Werte und Ideale.

Auf dieser Grundlage thematisierte WOLF NITSCHKE (Winsen/Aller) den „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932 sowie dessen Vorgeschichte, Verlauf und Folgen. Durch die Übertragung der Staatsgewalt auf die Reichsregierung hörte Preußen faktisch auf zu existieren. Nitschke erklärte, dass neben dieser extremen Variante einer „Reichsreform“ drei weitere, in der zeitgenössischen Debatte erwogene Alternativen bestanden: I. Deutschland in Preußen aufgehen zu lassen (z. B. Georg Gustav Freiherr von Gayl, Friedrich Wilhelm Walther Schotte), II. Preußen in Deutschland aufgehen zu lassen (Otto Braun, Kurt von Schleicher), III. den Parlamentarismus durch Etablierung eines autoritären (aber nicht nationalsozialistischen) Systems zu überwinden (Publizisten im Umfeld der Zeitschrift Die Tat).

Ein Höhepunkt der Konferenz war der öffentliche Abendvortrag von INGO SOMMER (Kleinmachnow). In seinem architekturhistorischen Referat verdeutlichte er die stilistischen Unterschiede zwischen den preußischen Landesteilen wie Berlin, Schlesien, der Provinz Pommern, der Grenzmark Posen-Westpreußen und der Provinz Posen. Das soziokulturell entwickelte Neue Bauen konzentrierte sich auf urbane Ballungsräume, so Sommer, und trat ebenso stilpluralistisch wie avantgardistisch auf, während in ländlichen Gebieten die Erneuerung und Erweiterung des vermeintlich Regionalen zum ästhetischen Ideal avancierte.

Die Ausführungen von CRISTOPH GUSY (Bielefeld) über die preußische Verfassung von 1920 beendeten die erste Sektion. Den Hauptstreitpunkt bei der Verfassungsgebung erblickte der Referent in der Binnengliederung des Landes – die Rechte der Ostprovinzen, ihre Vertretung und die Berücksichtigung ihrer Interessen im Gesamtstaat. Auch wenn die Republik in Preußen Gusy zufolge überdurchschnittlich positiv perzipiert wurde, zerbrach die Republik wesentlich an der Spaltung innerhalb des Landes – insbesondere an den Widerständen im Osten.

In diesen Bedeutungszusammenhang ist der erste Vortrag der zweiten Sektion Politik einzuordnen. Neben regionalen Unterschieden zwischen Königsberg, Masuren und Ermland charakterisierte RALF MEINDL (Olsztyn) die politische Parteienlandschaft Ostpreußens, insbesondere die ländlichen Gebiete, als konservativ. Ab 1928 begann der Aufschwung der NSDAP, der durch Faktoren wie den Niedergang der DNVP, offensiv agierende Gauleiter und Besuche prominenter Parteiangehöriger (z. B. Adolf Hitler und Hermann Göring) befördert wurde. Damit wurde der Bevölkerung vermittelt, dass sie in keiner von Berlin vergessenen Region lebten. Darüber hinaus vermochte die NSDAP die Bedürfnisse Ostpreußens mittels ihres Wirtschaftsprogramms – Stärkung der Landwirtschaft und Großgrundbesitz ohne Enteignungen – anzusprechen. Das zwischenzeitige Tief bei den Novemberwahlen 1932 konnte die NSDAP in Ostpreußen letztlich nur durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler „beheben“. Wäre Hitler nicht zum Reichskanzler ernannt worden, wäre die Partei in Ostpreußen, so der Referent, wahrscheinlich bald von der politischen Bildfläche verschwunden.

STEFAN SAMERSKI (Berlin) thematisierte die Danziger Parteienlandschaft und stellte bereits in seinem Vortragstitel die provokative Frage, ob die Danziger „Epigonen des Reiches“ waren. Trotz der Sonderrolle Danzigs orientierte sich die autonome Stadt kulturpolitisch an Deutschland – wirtschaftspolitisch hingegen konkurrierte sie mit dem polnischen Hafen Gdynia, sodass die Stadt ab Ende der 1920er-Jahre einen eigenen wirtschaftspolitischen Kurs verfolgte und sich verstärkt nach Polen ausrichtete. Die Parteienlandschaft sei, so Samerski, deutlich bürgerlicher und konservativer gewesen als im Reich, sodass die Regierungsbildung stabiler, kontinuierlicher und langfristiger erfolgte – in Danzig amtierten zwischen 1919 und 1933 drei Regierungen, im Reich waren es sechszehn. Kontinuität und Stabilität wurden zudem durch das eingeschränkte Personaltableau Danziger Politiker bewirkt. Parteiübergreifend war das Streben nach einem Wiederanschluss an Deutschland. Demzufolge verhielten sich die Parteien, die zwar habituell Epigonen der Reichsparteien waren, alles andere als epigonenhaft.

Der preußischen Region Schlesien widmeten sich zwei weitere Vorträge. WINFRIED HALDER (Düsseldorf) referierte über das „rote Schlesien“, während sich GUIDO HITZE (Düsseldorf) dem noch eher unerforschten Oberschlesien zuwendete. Das Vorurteil von der „roten“ Region wurde dabei weitgehend entkräftet, lediglich die Erinnerung an sozialdemokratische Persönlichkeiten wie Ferdinand Lassalle oder Paul Löbe wirkt hier bis heute prägend nach. Oberschlesien hingegen stellte sich als eine der „republikanischsten aller preußischen Provinzen“ dar, denn die Weimarer Verfassung löste, in Anlehnung an die Sonderrolle Danzigs, eine Freistaatsbewegung aus, die von der deutschen Schwerindustrie unterstützt und finanziert wurde. Deren Ziel war es, durch Etablierung eines eigenen Staates Reparationszahlungen zu umgehen. Infolge des Plebiszits in Oberschlesien vom 20. März 1921 stimmten allerdings 60 Prozent der Wähler für den Verbleib im Deutschen Reich. Polnische und kommunistische Insurrektionen schlugen fehl.

DESIDERIUS MEIER (Passau) befasste sich sodann mit dem Wirken Carl Friedrich Goerdelers in Königsberg, wo der bedeutendste zivile Kopf der Widerstandsbewegung vom 20. Juli 1944 seinen politischen Werdegang begann. 1920 wurde er dort für die DNVP Bürgermeister. Während Goerdelers Amtszeit wurden zahlreiche Modernisierungsmaßnahmen eingeleitet, effiziente Sparkurse verfolgt und die Infrastruktur ausgebaut, auf deren Grundlage sich der wirtschaftliche Aufschwung der Stadt vollziehen konnte. Zudem engagierte sich Goerdeler im preußischen und deutschen Städtetag und publizierte Abhandlungen zur Regionalverwaltung, zu Beamtenfragen und zu den wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages für Ostpreußen. Dieses Engagement ebnete ihm den Weg für die Stellung als Oberbürgermeister von Leipzig, die er zwischen 1930 und 1937 innehatte. Goerdelers Haltung gegenüber der Weimarer Republik beschrieb der Referent jedoch als zwiespältig – in der Öffentlichkeit war er moderat, in privaten Korrespondenzen kritisch.

Die Sektion Kultur begann mit einem groß angelegten Vortrag von HELMUT KIESEL (Heidelberg). Der Untertitel „eine Verlegenheit“ offenbarte, dass Preußen in der Literatur der Weimarer Republik kaum präsent war – ganz im Gegensatz zur Literatur der Ersten Österreichischen Republik, in der eine Vielzahl von Romanen den Verfall und den Untergang der Habsburger Dynastie schildern. In der Essayistik wurde Preußen – wenn überhaupt – als Inbegriff der Restauration und des Militarismus (Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky) dargestellt. Die Lyrik verabschiedete Preußen sogar fast vollständig – lediglich Erich Kästner befasste sich in vereinzelten Gedichten aus den 1920er-Jahren mit dem Thema Preußen. Eines der wenigen Gedichte eines bekannten Lyrikers, das „Preußen“ im Titel aufweist, ist Lustgarten Preußen von Stefan George, das allerdings bereits um 1900 entstand. Die Rarität des Themas setzt sich in der Dramatik fort – allerdings mit einer Ausnahme: Der Hauptmann von Köpenick. Ein deutsches Märchen in drei Akten (1931) von Carl Zuckmayer, der auf humoristisch-satirische Weise Kritik am Preußentum übt. In der Epik hingegen herrscht eine größere Vielfalt in Bezug auf Preußen. So übt beispielsweise Ernst Ottwalt mit Denn sie wissen was sie tun (1931) in der Tradition Ossietzkys und Tucholskys Kritik am preußischen Justizwesen. Aber auch Heinrich Manns Der Untertan (1918) wurde von Kiesel hervorgehoben, weil gerade dieses Werk die negativen Seiten des „preußischen Stils“ auf übertriebene Weise parodiere. Im Gegensatz dazu ist ab den 1930er-Jahren eine zunehmend positive Hinwendung zu Preußen erkennbar. Zahlreiche Romane integrierten Preußenanekdoten und führten letztlich dazu, dass das Heroische gemütlich und das Absurde heimisch wurde. Darüber hinaus wurden Werke wie die Die Hohenzollern (1933) von Reinhold Schneider und Der Vater (1937) von Jochen Klepper stilprägend, indem sie, verklärend und bewundernd, ein Gleichnis für die Gegenwart entwarfen.

Um darzulegen, wie präsent Preußen und die Dynastie der Hohenzollern in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Weimarer Republik waren, ging GUIDO HINTERKEUSER (Berlin) auf die Musealisierung des Berliner Schlosses ein. Bereits kurz nach Kriegsende wurde beschlossen, die ehemaligen Wohnräume der preußischen Könige unberührt zu lassen, um sowohl einen weiteren gesellschaftspolitischen Konflikt als auch eine Konfrontation mit der königlichen Familie zu vermeiden. In die Räume des Schlosses zogen zwei voneinander separate Museen ein – das Schlossmuseum, das die Kunstsammlungen beherbergte, und ein weiteres, das die historischen Wohnräume der Königsfamilie präsentierte. Der Glanz der preußischen Dynastie wirkte in den zwanziger und dreißiger Jahren weiterhin derart anziehend auf die Bevölkerung, dass die Schlossräume zur am häufigsten frequentierten musealen Berliner Institution wurden.

Am Ende der dreitägigen Konferenz wurde deutlich, dass Preußen weder 1871 mit der Reichsgründung endete, noch 1918 mit der Abdankung des letzten preußischen Königs. Auch der „Preußenschlag“ 1932 bewirkte nicht den Untergang dieses Staates. Preußen versank zwar in der politischen Bedeutungslosigkeit, doch diente es weiterhin als Referenzgröße. Und obwohl der Alliierte Kontrollrat 1947 durch das Kontrollratsgesetz Nr. 46 Preußen formal und endgültig auflöste, war auch dies nicht sein endgültiges Ende, denn: Preußen lebt in Deutschland weiter.

Konferenzübersicht:

Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll (Chemnitz) und Prof. Dr. Ulrike Höroldt (Berlin): Begrüßung

Prof. Dr. Manfred Kittel (Regensburg/Berlin): Einführung in das Tagungsthema

Eröffnungsvortrag
Prof. Dr.Dr. h.c. mult. Horst Möller (München): Preußen und die Weimarer Republik

Sektion I: Verfassung
Leitung: Prof. Dr. Thomas Simon (Wien), Prof. Dr. Manfred Kittel (Regensburg/Berlin)

PD Dr. Georg Eckert (Wuppertal): Der kurze Weg nach Weimar: Neuerfindungen Preußens 1910-1930

Dr. Wolf Nitschke (Winsen/Aller): Preußens Ende -Weimars Untergang? Der „Preußenschlag“ 1932

Öffentlicher Abendvortrag
Prof. Dr. Ingo Sommer (Kleinmachnow): Neues Bauen, die Weimarer Republik und Preußen: Zwischenkriegsarchitektur im Osten

Prof. Dr. Christoph Gusy (Bielefeld): Die preußische Verfassung von 1920: Pläne, Debatten, Realisierung

Sektion II: Politik
Leitung: Prof. Dr. Manfred Kittel (Regensburg/Berlin), Prof. Dr. Ulrike Höroldt (Berlin)

Dr. Ralph Meindl (Olsztyn): Ostpreußen 1918-1933. Von einer bunten Parteienlandschaft zur späten Dominanz der NSDAP

Prof. Dr. Manfred Kittel (Regensburg/Berlin): Eine „deutsche Vendée“ gegen Weimar? Junker, Landbund und Deutschnationale in der politischen Landschaft Pommerns (1918-1933)

Prof. Dr. Stefan Samerski (Berlin): Epigonen des Reiches? Die Danziger Parteienlandschaft in den zwanziger Jahren

Prof. Dr. Winfrid Halder (Düsseldorf): Von Lassalle bis Löbe. Das rote Schlesien

Dr. Guido Hitze (Düsseldorf): Die „republikanischste“ aller preußischen Provinzen? Das unbekannte Oberschlesien 1919-1933

Desiderius Meier, M. A. (Passau): Carl Friedrich Goerdeler in Königsberg

Sektion III: Kultur
Leitung: Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll (Chemnitz), Prof. Dr. Jörg Trempler (Passau )

Prof. Dr. Helmuth Kiesel (Heidelberg): Preußen in der Literatur der Weimarer Republik: eine Verlegenheit

Dr. Guido Hinterkeuser (Berlin): Die Musealisierung des Berliner Schlosses in der Weimarer Republik 1919-1933

Dr. Nils Aschenbeck (Bad Kissingen): Ostpreußische Baukunst in der Weimarer Republik

Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll (Chemnitz): Schlusswort