„Ausgeforscht?“ Neuste Forschungsergebnisse zur Friedlichen Revolution 1989/90

„Ausgeforscht?“ Neuste Forschungsergebnisse zur Friedlichen Revolution 1989/90

Organisatoren
Deutsche Gesellschaft e.V.
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.09.2019 - 27.09.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Johanna Reichel / Laura Kulik, Kultur & Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft e. V.

Im 30. Jubiläumsjahr der Friedlichen Revolution veranstaltete das Forum Deutschlandforschung, das sich unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft e.V. der wissenschaftlichen Forschung und der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse widmet, ein Sommerkolloquium in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie Forschende und Forschungsinteressierte bekamen die Möglichkeit, ihre Forschungen vorzustellen und sich über neuste Forschungserkenntnisse und Forschungsentwicklungen zur Friedlichen Revolution 1989/90 auszutauschen.

Nach einer kurzen Begrüßung durch TILMAN MAYER (Bonn), den Vorsitzenden des Forum Deutschlandforschung, leitete STEFAN WOLLE (Berlin), wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museum Berlin, den ersten Veranstaltungstag mit einem Grundlagenvortrag über die Entwicklungsgeschichte der Forschung zur Friedlichen Revolution ein. In einem ebenso umfassenden wie tiefscharfen Überblick fasste Wolle die Aufarbeitung der SED-Diktatur zusammen, auf die sich gegenwärtig eine große mediale Aufmerksamkeit richte. Im internationalen Maßstab sei, auch und gerade für die Länder des ehemaligen Ostblocks, die Aufarbeitung der „roten Diktatur“ beispielhaft – wie nicht nur die Fülle der wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern etwa auch die Institutionalisierung der Aufarbeitung in Form einer Bundesbehörde zur Verwaltung und Erforschung der Akten des Staatssicherheitsdienstes der DDR zeige. Hinsichtlich der Forschung und Aufarbeitung der deutsch-deutschen Vergangenheit identifizierte Wolle mehrere Entwicklungsphasen. Während der Fokus unmittelbar nach der Wiedervereinigung auf der Aufarbeitung von Unrecht und der Verbrechen im SED-Staat gelegen habe, sei später die Erforschung des ostdeutschen Alltagslebens sukzessive in den Vordergrund gerückt. Dies habe zu einer Polarisierung der Forschungslandschaft geführt, da auf der einen Seite eine Verharmlosung der totalitären Verbrechen befürchtet, auf der anderen Seite eine Fokussierung auf die Verbrechen als Perspektivenverengung moniert wurde. Neuere Forschungen ließen ausgleichende Ansätze erkennen; zudem erschließe sich die Forschung neue Fragestellungen, die im Grunde den von neuen Forschergenerationen getragenen Wandel des Diskurses widerspiegeln.

AXEL-WOLFGNG KAHL (Potsdam) stellte als zweiter Referent des Tages seine laufende Dissertation zur Transformation der ostdeutschen Rechts-, Wirtschaft- und Sozialwissenschaften in den 1980- und 1990er-Jahren am Beispiel der Zusammenführung dreier ehemaliger ostdeutscher Spezialhochschulen zur heutigen Universität Potsdam vor. Ziel seiner Forschungsarbeit sei es, die Forschungslücken bezüglich der durch die Transformation und Abwicklung aufgetretenen Veränderungen und Herausforderungen in den genannten wissenschaftlichen Disziplinen zu schließen. So seien die Übernahme des wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Personals, die Kontinuität der wissenschaftlichen Inhalte sowie die Beziehung zur außerwissenschaftlichen Welt zentrale Aspekte der Untersuchung. Ziel sei es, basierend auf Zeitzeugengesprächen sowie Vergleichsstudien anderer ostdeutscher Standorte bis 2022 weitreichende Erkenntnisse über den Veränderungsprozess und die Gründungsgeschichte der Universität Potsdam zu erhalten.

Als Abschluss des ersten Veranstaltungstages führte Oberstleutnant HEINER BRÖCKERMANN (Potsdam), Leiter des Projektbereichs Grundlagen der Abteilung Bildung am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, in aktuelle Forschungsfragen zur Militärgeschichte der DDR ein. Zentrale Themen seien unter anderem die Alltagsgeschichte der Nationalen Volksarmee (NVA), Vergleichsstudien von Bundeswehr und NVA sowie die Erforschung der Transformationsgeschichte und des Endes der NVA. Hierbei habe es verschiedene Zäsuren gegeben, die das Ende der NVA markieren würden. Die Militärreform von 1989 sei, so Bröckermann, der „Anfang vom Ende der NVA“ gewesen und sei ein wichtiger Bestandteil der Friedlichen Revolution. Grundsätzlich habe es kein wichtiges politisches Ereignis ohne Rückwirkung auf die NVA gegeben. Diese Rückkopplungen gelte es zukünftig noch weiter zu erforschen – wie ebenso die Transformation der durch die Wiedervereinigung entstandenen Armee der Einheit.

Der zweite Veranstaltungstag begann mit einem Vortrag von MAX TRECKER (Berlin) über Geschichte und Wirken der Treuhandanstalt. Entgegen der allgemeinen Auffassung, so Trecker, habe es in der DDR einen vitalen Mittelstand gegeben, der sich unter ständigen Spannungen gegen den Machtapparat durchsetzen konnte. Die Verstaatlichungskampagne von 1972 mit dem Ende des ostdeutschen Mittelstands gleichzusetzen, bezeichnete Trecker als „nicht präzise genug“. Zum einen wurden nicht alle Unternehmen enteignet, zum anderen steuerte die SED bereits ab 1976 einen Kurs, der sich, so Trecker, durch vorsichtige Privatisierungstendenzen ausgezeichnet habe. Diese Ansätze von Privatwirtschaft gelte es nicht zu vergessen, wenn die Transformation des ostdeutschen Wirtschaftssystems in seiner Gesamtheit untersucht werden solle. Bei diesem Unterfangen rücke die Treuhand nachgerade automatisch in den Mittelpunkt. Zu deren Aufgaben gehörte es, den Mittelstand als Kern der sozialen Marktwirtschaft wiederherzustellen. Dabei konzentrierte man sich jedoch auf die enteigneten Unternehmen, während der bestehende Mittelstand bei den Subventionen nicht berücksichtigt wurde. Die Gesamtbilanz der Treuhandanstalt und ihre Rolle bei der Mittelstandspolitik seien differenziert zu beurteilen, auch wenn sie verschiedenen Anspruchsgruppen als „beliebter Buhmann“ gelte. Einerseits sei die Treuhandanstalt personell und administrativ überlastet gewesen, andererseits seien jedoch auch Fälle von Unvermögen und Korruption nachweisbar. Eine wesentliche Verantwortung, nicht zuletzt für die weitestgehend gescheiterte Mittelstandspolitik, müsse jedoch der Politik zugeordnet werden, weil sie zögerte, westdeutsche Steuerzahler zum Zwecke einer stärkeren Subventionierung des Ostens zu belasten.

Anschließend referierte THORSTEN HOLZHAUSER (Mainz) über die Transformation und Integration der ostdeutschen Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). Holzhauser stellte insbesondere die Kontinuitäten zwischen der PDS und ihrer Nachfolgepartei DIE LINKE heraus, die seit 2007 in der gesamten Bundesrepublik vertreten ist. Maßgeblich zur Etablierung in der gesamtdeutschen Parteienlandschaft habe der „Primat der Integration“ beigetragen, den die 1990 gewählte PDS-Parteiführung sowie der reformerische Flügel gesteuert habe. Dieser Flügel befand sich lange Zeit in einem Kampf mit jenen Parteikräften, die eine Systemtransformation der Bundesrepublik zum Sozialismus anstrebten. Für die anderen Parteien stellte sich somit die Frage, ob die PDS als SED-Nachfolgepartei in das politische System integriert oder isoliert werden sollte. Zunächst wurde die PDS basierend auf einem „Konsens der Demokraten“ abgelehnt, weil man die Abkehr der Partei von ihrem totalitären Erbe in Zweifel gezogen habe. Dieser Konsens sei bereits einige Jahre später zerfallen, als 1995 in Sachsen-Anhalt eine von der PDS unterstützte rot-grüne Minderheitsregierung gebildet wurde.

Den Abschluss des Kolloquiums bildete der Vortrag von KERSTIN BRÜCKWEH (Potsdam), die ihre Forschungsergebnisse zum gesellschaftlichen Wandel in Ostdeutschland vor und nach dem Epochenbruch von 1989/90 vorstellte. Im Rahmen dieses Themenkomplexes beschäftigt sich Brückweh insbesondere mit dem Wohneigentum in der DDR. Wie Brückweh feststellte, hätten die Eigentumsideen in Ost- und Westdeutschland weitgehend übereingestimmt, die Eigentumspolitiken jedoch fundamental voneinander abgewichen. In der DDR, so Brückweh, habe es keine Rechtssicherheit durch das Grundbuch gegeben, vielmehr sei die Eigentumspraxis des Regimes „absichtlich willkürlich“ gewesen. Das 1990 erlassene Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (VermG) baute jedoch mit dem Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ maßgeblich auf dem Grundbuch auf. Die Ostdeutschen hätten sich – durchaus mit Erfolg – gegen die Bevorteilung der Alteigentümer aus dem Westen engagiert, sodass lediglich in zweiundzwanzig Prozent der Fälle eine Rückübertragung stattfand.

In den vielfältigen Forschungsbeiträgen sowie dem anregenden wissenschaftlichen Dialog wurde deutlich, dass die Friedliche Revolution von 1989/90 noch lange nicht ausgeforscht ist. Eine neue Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die immer stärker vom Leben im gesamtdeutschen Rahmen geprägt ist und sein wird, bringt neue Forschungsfragen und Forschungsansätze ein, die nicht zuletzt wichtige Beiträge zur aktuellen Diskussion leisten. Insofern bleibt für Forschende noch viel zu tun.

Konferenzübersicht:

Stefan Wolle (DDR-Museum Berlin): Entwicklung und Grundprobleme der Forschung zur Friedlichen Revolution.

Axel-Wolfgang Kahl (Universität Potsdam): Die Transformation der ostdeutschen Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in den 1980/90er Jahren.

Oberstleutnant Heiner Bröckermann (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam): Das Ende der NVA.

Max Trecker (Institut für Zeitgeschichte, Berlin): Möglichkeiten und Grenzen neuer zeithistorischer Forschungen zur Nachwendezeit am Beispiel der Treuhandanstalt.

Thorsten Holzhauser (Johannes Gutenberg Universität Mainz): Die „Nachfolgepartei“. Die Transformation von der SED zur PDS und der Streit um ihre politische Integration.

Kerstin Brückweh (Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam): Die lange Geschichte der „Wende“. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989.


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