Aktuelle Fragen der Edition in transdisziplinärer Perspektive. Workshop des Mediävistischen Arbeitskreises der Herzog August Bibliothek

Aktuelle Fragen der Edition in transdisziplinärer Perspektive. Workshop des Mediävistischen Arbeitskreises der Herzog August Bibliothek

Organisatoren
Sabine Griese, Universität Leipzig; Michael Klaper, Hochschule Weimar / Universität Jena
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.11.2019 - 09.11.2019
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Von
Frank Buschmann, Institut für Germanistik, Universität Leipzig

Erarbeitung und Nutzung von Editionen gehören zum Kerngeschäft historisch arbeitender Disziplinen. Die rasant wachsende Bedeutung von Digitalisierung und Digitalität hat auch hier ihre Spuren hinterlassen und wird es auch weiterhin, man denke etwa an die verschiedenen Methoden, die in den Digital Humanities zur Generierung und Auswertung von Daten entwickelt wurden. Hinsichtlich der Frage nach gedruckten oder digitalen Editionen wird man sich nicht zwangsläufig auf der Seite der Befürworter oder Gegner der jeweiligen Publikationsform positionieren oder von digital turn oder digital gap sprechen müssen1, sondern sollte anhand verschiedener Faktoren eines geplanten Editionsvorhabens nach dem Mehrwert der digitalen oder gedruckten Veröffentlichung fragen.2

Gegenstand des Workshops waren aktuelle Projekte, die digitale und analoge Editionen erarbeiten und nicht nur Text, sondern auch Musiknotationen und Bilder umfassen. Zur Diskussion standen die jeweiligen Prämissen der Ausgaben, die Anforderungen von potentiellen (interdisziplinären) NutzerInnen, das Nebeneinander von Kerntext und Kommentar, Text und Noten oder Noten und Text und die editorische Handhabung von Illustrationen oder Text-Bild-Synopsen. Bedacht werden sollte außerdem der Umgang mit komplexen überlieferungsgeschichtlichen Befunden, wie sie etwa beim Übergang handschriftlicher Traditionen in den Druck im 15. und 16. Jahrhundert vorliegen.

ELISA BISANTI (Trient) erläuterte ihr Vorhaben einer Neuedition von Platons Phaidon in der lateinischen Übersetzung des Henricus Aristippus († 1162), die zwischen 1154 und 1160 verfasst wurde und in zwei Fassungen überliefert ist. Insgesamt seien in den verschiedenen Handschriften 319 Marginalien erhalten, die sich verschiedenen funktionalen Kategorien zuordnen ließen, nämlich Anmerkungen zu Grammatik und Lexik, „responsive marginalia“ (wie stupor, nota modum, nota pulchra), zusammenfassende und interpretierende Glossen oder Personen- und Quellenverweise. Die Glossen erscheinen im zweispaltigen Layout der Edition rechts, der Text einer Fassung des Phaidon links. Diese Parallelführung ermöglicht einen Fokus auf die Rezeption der Übersetzung, wie sich auch an einem weiteren geplanten Element zeigt: Über einen Fußnotenapparat würden spätere Texte ausgewiesen, die auf die Übersetzung des Phaidon‘ verweisen, diese zitieren oder exzerpieren. Da zudem einige der kommentierenden Schreibhände bedeutenden historischen Personen wie Petrarca zugeordnet werden konnten, lassen sich durch die vorgeschlagene Anlage der Edition Netzwerke des Wissens und spezifische Lektüreinteressen einzelner NutzerInnen analysieren.

Die Überlieferungsverhältnisse und die daraus resultierenden Prämissen ihrer geplanten Printedition des von Michael Scotus (* vor 1200, † um 1235) verfassten Liber Introductorius erläuterte ELEONORA ANDRIANI (Salento/Köln/London). Dessen Kurzfassung sei sekundär aus der Langversion hervorgegangen, kompiliere diese und formuliere an einigen Stellen um – von einer Autorschaft Scotus' wäre aber bei beiden Fassungen auszugehen. Die Edition wird den Text der Langversion nach dem Leithandschriftenprinzip bieten; in einem Appendix erscheinen die jeweiligen Abschnitte der Kurzversion. Der Apparat soll außerdem Hinweise zur Textgenese beinhalten, indem Passagen ausgewiesen werden, die Michael Scotus aus dem von Honorius Augustodunensis verfassten Elucidarium entnommen habe. Abhängigkeiten zwischen Kurz- und Langfassung könnten zwar durch einen Parallelabdruck besser dargestellt werden, hier bestünde aber das Problem, dass längere Auslassungen, Umstellungen und Erweiterungen schwieriger abzubilden seien und die Benutzbarkeit eingeschränkt würde.

ELKE ZINSMEISTER (Berlin) gab einen Einblick in den derzeitigen Stand des interakademischen Langzeitprojektes „Der Österreichische Bibelübersetzer“.3 Dieser – ein anonymer Laie – wirkte im 1. Viertel des 14. Jahrhunderts und hinterließ ein breites Œuvre, das neben kürzeren Texten eine deutsche Teilübersetzung des Alten Testamentes, eine Evangelienharmonie und einen Psalmenkommentar umfasst. An zwei Arbeitsstellen in Berlin und Augsburg werden mit dem Ziel einer Hybridedition derzeit die beiden bekannten Fassungen des Evangelienwerkes bearbeitet; die Leithandschriften befinden sich heute in Göttweig (Fassung 1) sowie Schaffhausen und Klosterneuburg (Fassung 2). In Berlin transkribiert, kollationiert und ediert man mit TUSTEP, das sich in der renommierten Reihe „Deutsche Texte des Mittelalters“ bewährt hat. In Augsburg verwendet man Transkribus4 für die Transkription, während weitere editorische Tätigkeiten über ediarum5 erfolgen. Die Ausgabe der Ergebnisse kann durch die NutzerInnen den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend angepasst werden, da sich der Editionstext codex- oder werkbasiert anzeigen lässt und Rohdaten und Transkriptionen der einzelnen Handschriften einsehbar sind.

BENEDIKT MARXREITER und BERND POSSELT (beide München) stellten drei aktuelle Editionsvorhaben aus den „Monumenta Germaniae Historica“ (MGH) vor: die von Thomas Buck für den Druck konzipierte und nachträglich digital aufbereitete Ausgabe der Richental-Chronik sowie die genuin digitalen Editionen von Hartmann Schedels Weltchronik und der Bamberger Weltchronistik Frutolfs von Michelsberg († 1103) und seiner Fortsetzer. Neben einer Einführung in die Anlage und Weiternutzung von XML-Dokumenten wurden verschiedene Aspekte des digitalen Arbeitens und Publizierens diskutiert: Digitale Editionen könnten komplexe Überlieferungsverhältnisse, wie sie bei mittelalterlichen Handschriften häufig begegnen, flexibel und angemessen darstellen. Das Kriterium der Abgeschlossenheit habe auch für im Web veröffentlichte Ausgaben zu gelten, unfertige und nicht qualitätsgeprüfte Teilergebnisse seien zu vermeiden. Man müsse zudem die Nachhaltigkeit digitaler Publikationen gewährleisten, die z. B. bei dynamisch erzeugten synoptischen Darstellungen perspektivisch nicht immer sicher sei; festgelegt habe man sich in den MGH daher auf ein dreistufiges Publikationsmodell.6

JAKUB ŠIMEK und JANA WOLF (beide Heidelberg) thematisierten den Umgang mit Illustrationen im Rahmen des Projektes „Welscher Gast digital“7, das sich der digitalen Edition des 1215/16 von Thomasin von Zerklaere (* um 1187) verfassten Werkes widmet. 15 der 25 von diesem bekannten Handschriften sind illustriert, in vier weiteren waren Bilder vorgesehen. Vorgestellt wurde, was mit „Bild-Edition“ gemeint und wie diese gestaltet ist: Verzeichnet wird die Position der Illustrationen im Text, wobei zugleich jene Verse markiert sind, auf die sich ein Bild bezieht. Abbildungen aller erhaltenen Illustrationen werden online zugänglich gemacht, um eine codexübergreifende Analyse zu ermöglichen. Erfasst sind zudem Motive, die in einzelne konkret auftretende Elemente wie z. B. Figuren, (Bild-)Texte und Gegenstände zerlegt, annotiert und in den Digitalisaten über Shapes markiert werden.8 Nach einer Einführung in die Graphentheorie erschloss eine Akteursanalyse dominante Bildelemente und thematische Verbindungen, eine phylogenetische Auswertung visualisierte Zusammenhänge zwischen einzelnen Bildzyklen.

TIM EIPERT, ANNA SANDA und LUCIA SWIENTEK (alle Würzburg) sprachen über Erfassung und Aufbereitung musikalischer Notationen im Projekt „Corpus Monodicum“. Das an der Universität Würzburg angesiedelte Projekt der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur widmet sich der Erforschung und Edition einstimmiger und lateinisch textierter Musik des Mittelalters in gesamteuropäischer Perspektive.9 Die verschiedenen historischen Notationsarten werden im Zuge der Edition in eine abstrahierte und einheitliche Form überführt. Im Projekt erfasst man über ein XML-Modul der Music Encoding Initiative (MEI)10 möglichst vollständig das jeweilige Repertoire (Lieder, Spiele, Ordinariumsgesänge, Tropen, Sequenzen und Antiphonen) geographischer Überlieferungszentren. Da eine direkte Eingabe in XML aufgrund komplexerer Dokumentstrukturen bei Musikeditionen wenig praktikabel wäre, wurde die Software mono:di entwickelt, die über eine grafische Benutzeroberfläche verfügt und kollaboratives Arbeiten ermöglicht.11 Neben den vorwiegend händischen Transkriptionen arbeite man an einer Optical Music Recognition (OMR), die in Kombination mit einer Handwritten Text Recognition (HTR) den Transkriptionsprozess zukünftig vereinfachen soll; Einblicke in die dafür notwendigen Arbeitsschritte wurden präsentiert.

JULIA BURKHARDT (Heidelberg) umriss die Überlieferung der lateinischen Fassung des Bienenbuchs (Bonum universale de apibus) von Thomas von Cantimpré (* um 1200, † 1264/70), die sie im Rahmen des an den Akademien Heidelberg und Leipzig (Arbeitsstelle Dresden) angesiedelten Projektes „Klöster im Hochmittelalter. Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle“ erschlossen hat.12 Die lateinische Fassung des Bienenbuchs ist vom 13. bis 17. Jahrhundert in 120 vollständigen oder minimal gekürzten Abschriften erhalten, in über 100 weiteren Textzeugen fänden sich Auszüge. Sowohl hinsichtlich der Entstehung als auch der Rezeption läge eine breite geographische Streuung über verschiedene soziale Gruppen hinweg vor. Für die Edition wurden fünf Handschriften gewählt, „die in zeitlicher und geographischer Divergenz wichtige Überlieferungsgruppen des Textes zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert repräsentieren“ (Burkhardt). Die Auswahl ist Ergebnis einer textkritischen Untersuchung, die mit einem Ansatz der Computerised Stemmatology verbunden wurde. Die sich so ergebenden stemmatischen Gruppierungen seien als Ordnungskriterien der Überlieferung und Anhaltspunkte für die Einrichtung einer Edition zu gebrauchen, könnten aber auch mit historischen Fakten verbunden und interpretiert werden. Nachvollziehbar würden hier Beziehungs- und Kontaktnetzwerke zwischen einzelnen Institutionen und ihren Mitgliedern, die eine plausible Erklärung für eine nur auf den ersten Blick willkürliche Verteilung der Überlieferungsträger bieten.

Neben inhaltlichen und methodischen Diskussionen zu einzelnen Beiträgen gab es im Rahmen des Workshops einige übergreifende Anmerkungen. Hinsichtlich der Planung zukünftiger Editionsprojekte wurde gefordert, auch spezifische Interessen anderer Disziplinen in Vorüberlegungen zu Antragsstellungen einzubeziehen, da Drittmittel für Editionen nicht mehrfach gewährt würden. Abhilfe können hierbei digitale Editionen durchaus schaffen, da diese keiner strikten räumlichen Begrenzung unterliegen, wie es bei gedruckten Werken der Fall ist. Voraussetzung ist aber, dass die Rohdaten – wie dies z. B. bei den MGH und im Projekt „Der Österreichische Bibelübersetzer“ praktiziert werden wird – zugänglich sind und eine Weiterverarbeitung ohne größere Hürden möglich ist.

Die Verfügbarkeit von Daten wurde auch hinsichtlich der verwendeten Software diskutiert. Nicht immer ist diese und ihr jeweiliger Quellcode frei verfügbar und einzusehen (Transkribus). Dies mündete im Appell, während der Projektplanung auch langfristige Entwicklungen und Alternativen zu bedenken13 – was nicht zuletzt auch für den physischen Speicherort der eigenen Projektdaten gilt.

Deutlich machten die Vorträge des Workshops, dass digitale Editionen nicht weniger arbeitsintensiv als gedruckte Ausgaben sind und einen nicht zu unterschätzenden Betreuungsbedarf durch informatisch geschultes Personal haben, während sie zugleich schon heute mit hohen Erwartungen der NutzerInnen konfrontiert sind. Bereits anhand der verschiedenen Möglichkeiten zur synoptischen Anzeige von Digitalisat, Transkription und Editionstext in codex- oder werkzentrierter Form zeichnet sich aber ab, dass Forschungen über unterschiedliche Disziplinen hinweg vom digitalen Edieren und den damit verbundenen annotierten Daten profitieren werden. Und nicht zuletzt kann bei Hybrideditionen am Ende, wer möchte, auch ein gedrucktes Buch in den Händen halten.

Konferenzübersicht:

Elisa Bisanti (Trient): Problems in Editing Glosses: Interlinear and Marginal Notes on Henry Aristippus' translation of Plato's Phaedo

Eleonora Andriani (Salento/Köln/London): The Liber Introductorius of Michael Scot: Alternative Strategies for an Edition of the Prohemium

Elke Zinsmeister (Berlin): Der Österreichische Bibelübersetzer auf dem Weg ins Web – Probleme und Chancen

Benedikt Marxreiter und Bernd Posselt (beide München): Die MGH an ihrem 200. Geburtstag – Editionen zur mittelalterlichen Geschichte im digitalen Zeitalter

Jakub Šimek und Jana Wolf (beide Heidelberg): Bilder edieren im Heidelberger Projekt „Welscher Gast digital“

Tim Eipert / Anna Sanda / Lucia Swientek (alle Würzburg): Die Sequenzen-Edition im CORPUS MONODICUM (CM). Perspektiven und Probleme einer Hybrid-Edition einstimmiger Musik des lateinischen Mittelalters

Julia Burkhardt (Heidelberg): Geschichten für alle? Überlieferung und Edition des Bienenbuchs von Thomas von Cantimpré

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu Constanze Baum, Digital gap oder digital turn? Literaturwissenschaft und das digitale Zeitalter, in: Zeitschrift für Germanistik 27 (2017), S. 316-318.
2 Dass digitales Publizieren seine ganz eigenen Probleme bereiten kann, die sich zum Teil auch erst retrospektiv erkennen lassen, fasste z. B. Roland Kamzelak einleitend und – ex negativo – anhand der verschiedenen Hinweise im Verlauf des Beitrages zusammen: Roland S. Kamzelak, Empfehlungen zum Umgang mit Editionen im digitalen Zeitalter, in: editio 26 (2012), S. 202-209.
3 Siehe https://bibeluebersetzer.badw.de/das-projekt.html (12.11.2019) und http://www.bbaw.de/forschung/bibeluebersetzer/uebersicht (12.11.2019).
4 Verfügbar unter: https://transkribus.eu (12.11.2019).
5 Diese Arbeitsumgebung für den Oxygen-Editor ermöglicht kollaboratives Arbeiten, bietet eine nutzerfreundliche und voraussetzungsarme Bearbeitungsoberfläche der im Back-End vorhandenen XML-Dokumente und eine Ausgabe als Website oder PDF. Verfügbar ist ediarum unter: http://www.bbaw.de/telota/software/ediarum (12.11.2019) und https://github.com/ediarum (12.11.2019).
6 (1) Eine Ausgabe nach den Vorgaben des jeweiligen Editors unter Verwendung von HTML, CSS und JavaScript, (2) die Bereitstellung der Rohdaten in TEI-XML inklusiver rudimentärer und notwendiger Skripte sowie (3) eine „Notfall“-PDF, die bei fehlender Funktionalität der anderen Zugänge den Editionstext bereithält. Zu diesem Modell und weiteren in den MGH für digitale Editionen festgelegten Punkten vgl. Clemens Radl/Bernd Posselt, Die MGH im dritten Jahrhundert: Digitale Editionen und Forschungsdaten, in: Das Mittelalter 24 (2019), S. 237-240.
7 Für einen umfassenden Überblick siehe http://digi.ub.uni-heidelberg.de/wgd/ (12.11.2019).
8 Dies sieht man beispielsweise unter http://wgd.materiale-textkulturen.de/illustrationen/motiv.php?m=1 (12.11.2019).
9 Zum Projekt siehe http://www.musikwissenschaft.uni-wuerzburg.de/forschung/corpus-monodicum/ (12.11.2019).
10 Siehe https://music-encoding.org/ (12.11.2019).
11 Eine Demoversion der Software ist verfügbar unter: https://monodi.corpus-monodicum.de/ (12.11.2019).
12 Zum Projekt siehe https://www.hadw-bw.de/forschung/forschungsstelle/kloester-im-hochmittelalter (12.11.2019).
13 Im erwähnten Fall wäre eine solche Alternative z. B. Transcribo http://transcribo.org/de/ (12.11.2019).


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