StadtGemeinsamkeiten: Immaterielles Kulturerbe im urbanen Raum

StadtGemeinsamkeiten: Immaterielles Kulturerbe im urbanen Raum

Organisatoren
Landesstelle Immaterielles Kulturerbe Nordrhein-Westfalen; Geschäftsstelle Immaterielles Kulturerbe der Deutschen UNESCO-Kommissione.V.; Beratungsstelle Immaterielles Kulturerbe Bayern
Ort
Dortmund
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.07.2019 -
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Von
Paul Duschner, Materielles und Immaterielles Kulturerbe, Universität Paderborn / Lena Elster, Paderborn

Seit Deutschlands Beitritt zum UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes im Jahre 2013 wurden 97 kulturelle Phänomene in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes eingetragen. Allerdings sind die urbanen Zentren gegenüber dem ländlichen Raum bislang auf den Listen unterrepräsentiert. Gegenstand der vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft Nordrhein-Westfalens geförderten Tagung vom 9. Juli 2019 war daher die Befassung mit dem immateriellen Kulturerbe im urbanen Raum. Veranstalter waren die Landesstelle Immaterielles Kulturerbe Nordrhein-Westfalen und die Geschäftsstelle Immaterielles Kulturerbe der Deutschen UNESCO-Kommission e.V., gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, mit Unterstützung der Beratungsstelle Immaterielles Kulturerbe Bayern. Als Tagungsort diente die ehemalige Zeche Zollern in Dortmund, heute ein Industriedenkmal mit entsprechendem Museum.

EVA-MARIA SENG (Paderborn) als Leiterin der Landesstelle für Immaterielles Kulturerbe Nordrhein-Westfalen begrüßte die Referent/innen und Gäste. In einer kurzen Einführungsrede bot sie einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Bewerbungen und Eintragungen in die Verzeichnisse und Listen des immateriellen Kulturerbes auf Landes-, Bundes- und internationaler Ebene seit dem Beitritt Deutschlands zum UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes im Jahre 2013. Dabei verwies sie auf die Unterrepräsentation städtischer Phänomene in Bayern wie in Nordrhein-Westfalen, aber auch darüber hinaus – ein Befund, der den Landesstellen beider Bundesländer die Anregung zur gemeinsamen Tagung gegeben hatte. Seng bedankte sich bei dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe für die Einladung auf die Zeche Zollern und stellte das Programm der Tagung vor. Dann trat HILDEGARD KALUZA (Düsseldorf), die Leiterin der Abteilung Kultur im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, ans Podium um im Namen ihrer Landesregierung das erste Grußwort zu sprechen. Dabei stellte sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden großen Flächenländer Bayern und Nordrhein-Westfalen in den Mittelpunkt ihrer Erörterungen. So verfügten beide sowohl über internationale Großstädte als auch über kulturell höchst disparate Landesteile, unterschieden sich aber in ihren Besiedlungsmustern und politischen Strukturen. Die zahlreichen bayerischen Trägergemeinschaften seien bezüglich der Eintragungen ihres Kulturerbes bislang besonders aktiv geworden. Nordrhein-Westfalen, so Kaluza, habe inzwischen nachgezogen. Auch forderte sie zur Reflexion wichtiger grundsätzlicher Fragen auf. Dazu gehöre die der Sinnhaftigkeit einer Unterscheidung zwischen urbanem und ländlichem immateriellem Kulturerbe sowie die Frage, wann eine neue Kulturform als Erbe und nicht mehr als kurzfristige Modeerscheinung gelten könne. Ferner, so Kaluza, müsse darüber nachgedacht werden, wie mit kulturellen Phänomenen wie der Street Art umzugehen sei, die über keine Institutionen als Ansprechpartner und Vermittler verfügten. Die Kulturdezernentin des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, BARBARA RÜSCHOFF-PARZINGER (Münster), hieß die Teilnehmer ebenfalls willkommen und stellte ihnen den Tagungsort vor, die ehemalige Musterzeche Zollern, die aufgrund bürgerlichen Engagements dem Abriss entging und heute als Industriedenkmal dient. Die erst im letzten Jahr endgültig eingestellte Kohleförderung im Ruhrgebiet habe allerdings nicht nur ein bauliches Erbe hinterlassen, so Rüschoff-Parzinger, sondern auch einen nachhaltigen Einfluss auf die Mentalität der Menschen, Traditionen und Vereinigungen. Auch bei diesem immateriellen Erbe stelle sich die Frage der Erhaltung unter Anpassung an neue Bedingungen und Aufgaben. Als Beispiel nannte sie die Knappschaften der Bergleute, deren Engagement für Bildung und soziale Unterstützung in neuen Kontexten gewinnbringend fortgeführt werden solle.

In seiner Keynote bot der Europäische Ethnologe WOLFGANG KASCHUBA (Berlin) einige Überlegungen zur urbanen Kultur und wodurch sich diese von jener der ländlichen Regionen unterscheide, mit denen immaterielles Kulturerbe bislang noch bevorzugt assoziiert werde. Dabei betonte Kaschuba, dass der urbane Raum sich durch eine auf dem Lande nicht gegebene Vielfalt an kulturellen Phänomenen auszeichne. Neben ökonomischen Anreizen sei die Möglichkeit zur individuellen Selbstentfaltung ein Grund für die Abwanderung junger Menschen aus den ländlichen Regionen in die Städte, was sich in Europa als Ost-West- bzw. Süd-Nord-Migration bemerkbar mache. Die urbane Freiheit und Vielfalt sei es, die als Wesensmerkmal der Städte anerkannt und bewahrt werden müsse. Eine akute Bedrohung geht in der Einschätzung Kaschubas von rechtsgerichteten Parteien wie der AfD aus. Diese arbeite mit einem wissenschaftlich überholten Kulturbegriff, wonach es eine ursprüngliche, einheimische Lebensart gäbe, die es gegen fremde Einflüsse, ihre Träger und Förderer zu verteidigen gelte. Mittels Kleiner Anfragen in den Parlamenten versuche sie außerdem, mit ihren Vorstellungen nicht konforme kulturelle Einrichtungen zu delegitimieren. Ferner verwies Kaschuba auf die Notwendigkeit eines Bestandsschutzes für städtische Kulturereignisse wie Open Air-Musikveranstaltungen, um diese vor Verboten zu bewahren, die beispielsweise mit dem Verweis auf Ruhestörung gerechtfertigt werden könnten. In der anschließenden Diskussion wurde der von Kaschuba gezeichnete scharfe Stadt-Land-Gegensatz von einigen Teilnehmern kritisch hinterfragt. Der Referent erläuterte, dass es sich um eine bewusst gewählte, weil zur Debatte anregende Überspitzung gehandelt habe.

Es folgten im Programm drei Fallbeispiele zur Veranschaulichung und Anregung der weiteren Diskussion. Den Anfang bildete die „Deutsche Theater- und Orchesterlandschaft“, 2014 aufgenommen in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes und gegenwärtig Anwärter für die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit. CHRISTIAN HÖPPNER (Berlin), Generalsekretär des Deutschen Musikrates e.V., bezeichnete Musik- und Theateraufführungen als flüchtige Kunstformen, deren performative Akte sich nicht reproduzieren ließen. In Deutschland gäbe es eine historisch gewachsene große Dichte an Orchestern, die eine wohl weltweit ihres Gleichen suchende Grundversorgung der Bevölkerung mit Kultur gewährleisteten. Voraussetzung der professionellen Musikszene seien die Musikschulen und Amateure, weshalb beide Sphären nicht zu trennen seien. Basierend auf seinen eigenen Erfahrungen bot Höppner Überlegungen zum Nutzen der Bewerbungen und Eintragungen der Theater- und Orchesterlandschaft auf Listen des immateriellen Kulturerbes. Dazu erinnerte er an die gegenwärtige Ökonomisierung aller Lebensbereiche auf Kosten einer Vorstellung vom Gemeinwohl, die sich auch in der Förderung der Kultur bemerkbar mache. So sei der Wert der Musik zwar bei Bevölkerung und Politik grundsätzlich anerkannt und würde in „Sonntagsreden“ bekräftigt. Allerdings würden diesen allzu häufig keine „Montagstaten“ folgen. Dem gegenüber biete das UNESCO-Übereinkommen ein potentiell mächtiges Instrument um auf den Bedarf einer langfristig gesicherten Finanzierung der Musikkultur durch die öffentliche Hand hinzuweisen, die sich nicht durch einzelne Projekte ersetzen lasse. Doch bereits der Prozess der Bewerbung habe seinen Nutzen, indem er zur Vernetzung und Gemeinschaftsbildung unter den verschiedenen Akteuren sowie zu wichtigen Klärungsprozessen anrege. Hierzu gehöre die Reflexion des Selbstverständnisses, Vokabulars und gesellschaftlichen Anspruchs: Wolle man Kunst im Dienst einer Sache betreiben, etwa der positiven Mitgestaltung gesellschaftlicher Prozesse, oder als Kunst um ihrer selbst willen? In diesem Zusammenhang sprach Höppner auch über die Möglichkeit einer Vereinnahmung durch die Politik. So könnte von Orchestern verlangt werden, dass sie fehlenden schulischen Musikunterricht kompensieren, ein Bildungsauftrag für den diese nicht ausgestattet seien. Wie seinem Vorredner war es Höppner ein Anliegen, vor der Gefahr einer Einschränkung der Kunstfreiheit durch rechtsgerichtete Politiker/innen zu warnen. Er betonte, dass, wo Kunst nicht totalitär unterdrückt werde, sie sich in einem ständigen Transformationsprozess befinde. Sie sei geeignet, die Neugier der Menschen zu bewahren und zu entwickeln und gesellschaftlichen Ängsten vor neuen Entwicklungen wie der Zuwanderung entgegenzuwirken.

Es folgte das zweite Fallbeispiel, vorgestellt von ANDREAS LANGE (Berlin) von der European Federation of Game Archives, Museums and Preservation Projects e.V. und TOBIAS KOPKA (Köln) vom Digitale Kultur e.V. Thema des Referentenpaars war die „Demoscene“ und die von ihnen gestartete Initiative für deren Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe in mehreren UNESCO-Mitgliedstaaten. Dies wäre in Deutschland die erste Bewerbung einer digitalen Kulturform. Ihre Anfänge lassen sich in den frühen 1980er-Jahren verorten, der Zeit, als es erstmals möglich wurde, Computer zu kreativen Zwecken zu nutzen. Hacker lernten den Software-Kopierschutz von Computerspielen zu entfernen und signierten die vervielfältigen Exemplare mit eigenen Intros, bestehend aus kurzen musikunterlegten Echtzeit-Animationen. Aus diesen entwickelte sich eine eigene, vor allem in Europa gepflegte Form der digitalen Kunst, die heute auf eigenen Demo-Partys und Wettbewerben mit Großleinwänden praktiziert wird, wie sie vom Verein für Digitale Kultur ausgerichtet werden. Als Besonderheiten der Demoscene nannten Lange und Kopka den sich im digitalen Raum auflösenden Gegensatz zwischen Stadt und Land, die Nutzung der englischen Sprache als Lingua Franca und die hohe Bedeutung der Selbstorganisation über das Internet. Von der Würdigung als Immaterielles Kulturerbe versprachen sich die Referenten neben der generationenübergreifenden Anerkennung der digitalen Kunst und Kultur, eine Verbesserung des internen Diskurses und die Gewinnung neuer Interessenten. Sie verwiesen auf den noch zu geringen Frauenanteil, der nun Gegenstand einer Diskussion innerhalb der Szene geworden sei. Überhaupt sei erst durch den Bewerbungsprozess ein Bewusstsein für die Herausforderung der Bewahrung der Demoscene entstanden. Entsprechend ihres pan-europäischen Charakters sei die Bewerbung über die nationalen Bestrebungen hinaus als zwischenstaatliche Initiative angelegt.

Als drittes Fallbeispiel sprachen JULIA STARON (Hamburg) und EVA DECKER (Hamburg) von der Initiative Kulturerbe Sankt Pauli über die Möglichkeit der Auszeichnung des Lebensgefühls dieses Stadtviertels als immaterielles Kulturerbe. Dabei argumentierten sie mit der spezifischen Lebens- und Umgangsform, die sich in dem Hafenviertel vor Hamburg und Altona herausgebildet habe. Dieses zeichne sich durch eine Gemeinschaftsbildung in der Vielfalt aus, durch die Ko-Existenz armer und reicher Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit verschiedenen Lebensentwürfen. In St. Pauli, so Staron und Decker, sei das Fremde das regional Typische. In diesem besonders freiheitlichen und toleranten Umfeld bestünden Solidarität und soziale Kontrolle, aber ohne Wertung des Anderen. Als Ort der Unterhaltungskultur sei St. Pauli, welches heute als Touristenmagnet pro Jahr rund 23 Millionen Besucher anziehe, ferner eine prägende Station im Leben von Künstlern wie Udo Lindenberg und den Beatles gewesen. Von der Bewerbung als immaterielles Kulturerbe versprachen sich die Referentinnen neben einer Wertschätzung St. Paulis die Erhaltung der dortigen Diversität, den sie als wichtigen kulturellen Nährboden beschrieben, ebenso wie eine positive Signalwirkung für das übrige Deutschland. Allerdings wurde von Staron und Decker auch thematisiert, dass ihre Initiative in St. Pauli durchaus kritisch diskutiert werde. Bedenken bestünden aufgrund einer möglichen Verteuerung des Wohnraumes und eines weiteren Anstiegs der Touristenzahlen. Man fürchte eine Musealisierung des Stadtteils, der zu einer „blutleeren Kulisse“ werden könnte.

Auf die Vorträge folgte eine von Seng moderierte Podiumsdiskussion, deren Teilnehmer das breite Spektrum an urbanen Kulturphänomenen und des Umgangs mit ihnen widerspiegelten. Mit MUCHTAR AL GHUSAIN aus Essen war der Beigeordnete für die Bereiche Jugend, Bildung und Kultur einer der Ruhrmetropolen vertreten, mit IRIS MANN die Bürgermeisterin für Kultur, Bildung und Soziales der Stadt Ulm, welche neben dem bekannten Münster und der zugehörigen Bauhütte über zahlreiche Bezüge zu Phänomenen des immateriellen Kulturerbes verfügt. Aus der Beratungspraxis auf Landesebene berichten konnte HELMUT GROSCHWITZ (München) von der Beratungsstelle Immaterielles Kulturerbe Bayern. Die nationale und internationale Ebene war durch BENJAMIN HANKE (Bonn) von der Deutschen UNESCO-Kommission e.V. vertreten. Für die Institution des Museums als einem Ort des Sammelns und Ausstellens auch immaterieller Kulturgüter sprach ANNE KUGLER-MÜHLHOFER (Dortmund), Leiterin des LWL-Industriemuseums Zeche Zollern. Für die freien Künste saß HARALD REDMER (Dortmund), der Geschäftsführer des NRW Landesbüros Freie Darstellende Künste e.V., auf dem Podium.

Thema der lebhaften Diskussion waren der Nutzen und die Herausforderungen, die mit der Auszeichnung kultureller Phänomene als Erbe einhergehen. So gilt die Anerkennung als immaterielles Kulturerbe als Zeichen der Wertschätzung und bietet ein gewichtiges Argument zur Sicherung einer angemessenen Finanzierung durch die öffentliche Hand. Doch wird die Auszeichnung auch mit höheren Anforderungen und bisweilen sogar mit einer Erschwerung der praktischen Arbeit assoziiert. Ferner bestehe die Gefahr einer Selbstethnisierung, ebenso der Kanonisierung wandelbarer kultureller Phänomene, wenn der Erbe-Begriff nicht das Moment der Veränderung beinhalte und als Ausgang für neue Kreativität verstanden werde. Nicht nur als Empfänger und Bewahrer, sondern auch als Erblasser müsse man sich in dieser Hinsicht verstehen. Mit Blick auf die Möglichkeit einer politischen Instrumentalisierung wurde daran erinnert, dass die Organisation der Bewerbung in die Verzeichnisse des immateriellen Kulturerbes als Bottom-up-Verfahren einer von oben gelenkten Konstruktion kultureller Identitäten entgegenstehe. Betont wurde schließlich die Rolle urbanen Kulturerbes für die Gemeinschaftsbildung heterogener Stadtbevölkerungen.

Konferenzübersicht:

Eva-Maria Seng (Universität Paderborn): Eröffnung

Hildegard Kaluza (Ministerium für Kultur und Wissenschaft, Düsseldorf): Grußwort

Barbara Rüschoff-Parzinger (Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Münster): Grußwort

Wolfgang Kaschuba (Humboldt-Universität zu Berlin): Keynote

Christian Höppner (Deutscher Musikrat e.V., Berlin): Deutsche Theater- und Orchesterlandschaft

Andreas Lange (European Federation of Game Archives, Museums and Preservation Projects e.V., Berlin) und Tobias Kopka (Digitale Kultur e.V., Köln): Demoscene

Julia Staron und Eva Decker (Initiative Kulturerbe Sankt Pauli, Hamburg): Kulturerbe Sankt Pauli

Podiumsdiskussion
Muchtar Al Ghusain (Stadt Essen), Helmut Groschwitz (Beratungsstelle Immaterielles Kulturerbe Bayern, München), Benjamin Hanke (Deutsche UNESCO-Kommission e.V., Bonn), Dr. Anne Kugler-Mühlhofer (LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund), Iris Mann (Stadt Ulm), Harald Redmer (NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste e.V., Dortmund)


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