Geschlecht.Macht.Staat

Geschlecht.Macht.Staat

Organisatoren
Sabine Mecking / Inken Schmidt-Voges, FB Geschichte und Kulturwissenschaften, Philipps-Universität Marburg
Ort
Marburg (Lahn)
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.11.2019 - 15.11.2019
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Von
Lena Jur, FB06 - Geschichte und Kulturwissenschaften, Philipps-Universität Marburg

„Geschlecht, Macht und Staat“ – diese drei Schlagworte und Konzepte eröffnen zum einen ein interessantes Spannungsgefüge und lassen sich zum anderen auch ganz wortwörtlich lesen, als das Geschlecht, das den Staat macht. Im Rahmen einer interdisziplinären Kooperation der Fächer Geschichte, Politikwissenschaften und Literaturwissenschaften der Philipps-Universität Marburg widmete sich das Forschungsatelier „Geschlecht. Macht. Staat.“ den Zusammenhängen zwischen gesellschaftlichen Geschlechterzuschreibungen, dem Wandel von normativen und sozialen Werten und deren Einfluss auf Machtverhältnisse. Mit Fragen nach der tatsächlichen Praxis und Teilhabe näherte sich die Veranstaltung – wie SABINE MECKING (Marburg) und INKEN SCHMIDT-VOGES (Marburg) in ihrer Einführung herausstellten – der normativen Rahmung und sozialen Praxis von Geschlechterzuschreibungen in der Politik vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Gesellschaftliche und politische Ordnungs- und Machtvorstellungen seien in der Neuzeit eng mit geschlechtsbezogenen Rollen- und Aufgabenzuschreibungen und hierarchisierenden Geschlechterdeutungen verflochten. Die wechselseitige Beeinflussung von normativer Rahmung und sozialer und politischer Praxis habe zum Teil recht widersprüchliche Dynamiken entwickelt, die es zu erforschen gelte.

Schon der Abendvortrag „Familienkonzepte in Deutschland und den USA“ der Historikerin ISABEL HEINEMANN (Münster) und die anschließende Diskussion ließen erkennen, welches Potential der interdisziplinäre Ansatz und weite Untersuchungszeitraum bieten. Mit ihren Ausführungen zur Familie als Zugang zu einer Geschichte der Moderne, legte die Referentin eine wichtige Grundlage für das Forschungsatelier und warf zentrale Fragen auf, auf die in der weiteren Workshop-Diskussion immer wieder Bezug genommen wurde. Das galt gerade für das Plädoyer, die Familie als „Relais“ zwischen Selbstführung und Politik zu betrachten. Der Vortrag unterstrich die enorme Bedeutung der Kategorien Race, Class und Gender insbesondere für die Forschungen zur Familiengeschichte.

Die erste Sektion, die sich dem Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit widmete, eröffnete die Politikwissenschaftlerin und Genderforscherin ANNETTE HENNINGER (Marburg) mit einem Impulsreferat zum Umgang mit Antifeminismus in gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen. Hierbei wurde deutlich, dass antifeministische Diskurse in vielen Bereichen, der Wissenschaft (wie z.B. Sexualpädagogik), aber auch in der politischen Debatte um die „Ehe für Alle“ Anschluss finden konnten und immer auch eine Methode der Machtaushandlung waren. Die Historikerin HEIDI HEIN-KIRCHER (Marburg / Wuppertal) bot mit ihrer Anregung, Familienplanung als einen Spiegel des Wertewandels zu betrachten, eine weitere wichtige Perspektive und machte mit ihrem Beitrag zur Familienplanung im 19. und 20. Jahrhundert vor allem mit Beispielen aus der osteuropäischen Geschichte deutlich, dass Entwicklungen sowohl in der Familienpolitik, aber auch in der öffentlichen Verhandlung zu Schwangerschaftsabbrüchen nicht als linear zu betrachten sind und häufig phasenverschoben bzw. nicht zeitgleich stattfinden.

Das in der Geschichte der Frühen Neuzeit – und somit in einer prägenden Phase für Geschlechterzuschreibungen – angesiedelte Impulsreferat der Historikerin INKEN SCHMIDT-VOGES (Marburg) verwies auf das Haus als zentrale gesellschaftliche Organisationseinheit, welches in der Moderne allerdings vor allem der Familie zugeordnet sei. In der Frühen Neuzeit jedoch, sei das Haus nicht nach biologistischen Kriterien, sondern eher sozial und rechtlich geordnet gewesen, wobei der soziale Stand der Menschen zunächst als wichtigerer Faktor zu bewerten sei als das Geschlecht. Auch wenn formale Herrschaft in der Regel von Männern ausgeübt und geerbt wurde, gab es dennoch zahlreiche Möglichkeiten für Frauen Macht auszuüben, sei es als Teil eines Herrscherpaares oder als Witwe. Dabei müssten auch die Zuschreibungen „privat“ und „öffentlich“ überdacht werden. Dies vor allem auch in Hinblick auf die Tatsache, dass mit der Ausbildung dieser separaten Sphären im 19. Jahrhundert Semantiken aus der Vormoderne übernommen wurden, aber in ein völlig anderes gesellschaftliches Setting eingepasst wurden. Somit könnten mit einer intensiveren Betrachtung der Konzeptualisierungen von Privatem und Öffentlichem neue Perspektiven und Erkenntnisse für die Moderne gewonnen werden.

Verbindendes Element der Beiträge der ersten Sektion war die dem Haushalt und der Familie in unterschiedlichen historischen Konstellationen zugeschriebene gesellschaftliche Stabilisierungsfunktion, deren Entwicklung sich diametral zur Individualisierung und der Herausbildung staatsbürgerlicher Rechte verhält. Auch die kulturelle und soziale Funktion von Reproduktion und Erziehung wurde im Zusammenhang mit einer in der heutigen Zeit wahrgenommenen Entwicklung hin zu einer Rebiologisierung der Familie hervorgehoben. Die Beiträge unterstrichen zudem die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung von normativen Rahmungen und sozialen Praktiken.

Die zweite Sektion hatte verschiedene Formen von Machtrepräsentation zum Thema und wurde mit einem Impulsvortrag der Politikwissenschaftlerin DOROTHEE BECK (Marburg) zur geschlechtsbasierten Gewalt eröffnet. Diese Gewalt skizzierte Beck nicht als Ausnahmeerscheinung, sondern als zutiefst verwurzelt in der liberalen Demokratie. Dies konterkariere das moderne Gleichheitsversprechen. Geschlechtsbasierte Gewalt sei zwar hochgradig tabuisiert, aber zugleich ein extrem effektiver Platzanweiser für Einfluss und Macht in politischen Institutionen. Eine gewisse Schutzfunktion käme dabei sowohl dem öffentlichen bzw. staatlichen Raum, als auch dem familiären Umfeld zu, die in der Regel Möglichkeit der Entfaltung böten. Der Historiker LUTZ VOGEL (Marburg) machte dann in seinem Beitrag auf das große Potential einer lokalen Betrachtung des Verhältnisses von Geschlecht, Macht und Staat aufmerksam und führte dies an dem Beispiel des Frauenwahlrechts in Hessen aus. Mit der Fokussierung auf den ländlichen Raum sei es möglich, „vergessene Frauen“ in den Blick der Forschung zu rücken und somit neue Vergleichsmöglichkeiten zu eröffnen. Die literarische Darstellung von Maria Stuart diente wiederum den Literaturwissenschaftlerinnen HANIA SIEBENPFEIFFER (Marburg) und LEA REIFF (Marburg) als ein Beispiel der misogynen Darstellung von Weiblichkeit und dem Versuch, weibliche Herrschaft zu desavouieren. Dies spielte in der Trauerspieldichtung des 17. Jahrhunderts häufig eine Rolle. Der weibliche Körper als eine Bedrohung für den politischen Körper zeigte sich als ein alle Impulsreferate verbindendes Element. Hierbei wurde auch deutlich, wie ertragreich eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Konzepten um Geschlecht, Macht und Staat als eine Art Scharnier zwischen der Literaturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft sein kann.

Anschließend wurden die sechs Impulsreferate der beiden Sektionen von der Historikerin VERONIKA DUMA (Frankfurt am Main) kommentiert. Sie stellte noch einmal verbindende Frageperspektiven der disziplinär und zeitlich unterschiedlich angelegten Beiträge heraus: Geschlecht und Staat, Geschlechterzuschreibungen in der Politik und Antifeminismus. Der Wandel in einer der beiden Sphären „Geschlecht“ oder „Staat“ sei häufig mit einem Wandel im Privaten oder in der Öffentlichkeit verknüpft, wobei die Interdisziplinarität die Möglichkeit biete, Ungleichheiten oder verschiedene Räume und Sphären aufzuzeigen. Es wurde betonte, wie konstitutiv die dichotome Geschlechterwahrnehmung in der Herausbildung der Moderne gewesen sei. Dazu sei auch die Entwicklung der Familie von einer Wirtschaftseinheit zu einem Ort der Privatheit zu rechnen. Weiterhin seien die Geschlechterzuschreibung in der Politik und deren Repräsentation ein wichtiges Sinnbild für die Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Gerade bei der Auseinandersetzung mit Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, spiele geschlechtsbasierte Gewalt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Auch wenn kulturbasierte Unterschiede nicht außer Acht gelassen werden dürften, sei diese Form der Gewalt häufig als dominanzorientiert einzuordnen und in ihrer Ähnlichkeit – trotz des ständigen Wandels von Normen und Werten – immer noch einem frühneuzeitlichen Verständnis der Ständegesellschaft zuzuordnen. Den Antifeminismus schließlich deutete die Kommentatorin in einem engen Austausch mit der Rolle der Wissenschaft. Wissenschaft sei einerseits verantwortlich für eine Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit und Differenz, werde aber andererseits auch von antifeministischen Kräften angegriffen und diffamiert. Sie regte an, die Frage nach dem Umgang mit der Gleichzeitigkeit eines Anstiegs an profeministischen Bewegungen und der institutionalisierten Männlichkeit als eine der dringlichsten Angelegenheiten künftiger feministischer Forschung zu verstehen.

Den anschließenden Einstieg zur Abschlussdiskussion regten der Historiker MARTIN GÖLLNITZ (Marburg) und die Historikerin ANDREA WIEGESHOFF (Marburg) mit Vorschlägen zum Zusammendenken der Epochen und Disziplinen an. Beide wiesen auf epochenübergreifende Kontinuitäten hinsichtlich der Begriffe Haushalt und Familie – bei gleichzeitigem Form- und Funktionswandel – und der Zusammenhänge zwischen Körper(wahrnehmungen) und Gewalt hin. Die Wichtigkeit einer Auseinandersetzung mit der Rolle von Religion und Konfession wurde als gemeinsames Element der unterschiedlichen Zugänge hervorgehoben. Schließlich wurde auf die in den Beiträgen herausgearbeitete Ungleichzeitigkeit von Normen und damit häufig nicht in Einklang stehenden sozialen Praktiken hingewiesen. Zu untersuchen, unter welchen Bedingungen eine solche Ungleichzeitigkeit Krisenpotential entwickelte und Wandlungsdruck erzeugte, könnte künftige interdisziplinäre Diskussionen voranbringen.

Des Weiteren wurde der Konstruktionscharakter von Geschlecht als wiederkehrendes Motiv hervorgehoben, insbesondere im Verbund mit der Frage nach einem überzeitlichen oder auch außereuropäischen Verständnis der verschiedenen Konzepte. Es wurde außerdem angeregt, sich weiter mit der tatsächlichen Reichweite von Partizipation auseinanderzusetzen und genauer zu untersuchen, welche Faktoren insbesondere im politischen Umfeld eine prägende Rolle spielen. Im Zuge dessen wurde auf die Gewichtigkeit von geschlechtsspezifischen Zuschreibungen in der Politik verwiesen und dafür plädiert, dies auch um den Aspekt zu ergänzen, dass diese Zuschreibungen einen wichtigen Faktor in der Homosexuellenverfolgung spielten und spielen.

In der Abschlussdiskussion wurde auf das Potential einer möglichen neuen Periodisierung unter den Gesichtspunkten von Geschlecht und Macht und durch die Einbeziehung nicht-europäischer Perspektiven für die weitere Entwicklung von Forschungsprojekten, aber auch in der Lehre, verwiesen. Zudem wurde für die Erweiterung der in der Geschichte schon häufig angewendeten Konzepttrias aus Race, Class, Gender durch Age und (Dis)Ability plädiert. Diese Erweiterung könnte gerade in der Auseinandersetzung mit den Themenkomplexen des Forschungsateliers eine fruchtbare zusätzliche Perspektive eröffnen und sind gerade wenn es um Fragen der Familienplanung geht, von nicht zu unterschätzender Bedeutung, sei es in der Reproduktionsmedizin oder bei Adoptionen.

Insgesamt erwiesen sich die Kategorien „Geschlecht“, „Macht“ und „Staat“ als außerordentlich ertragreiche Kategorien für den interdisziplinären Austausch. So selbstverständlich wie die verschiedenen Disziplinen und Fachgebiete bereits mit den Konzepten arbeiten, so ist das Potential einer Zusammenarbeit zwischen den Fächern noch längst nicht ausgeschöpft.

Konferenzübersicht:

Öffentlicher Abendvortrag

Isabel Heinemann (Münster): Reine Privatsache? Die Familie als Zugang zur Geschichte der Moderne

Sabine Mecking (Marburg) / Inken Schmidt-Voges (Marburg): Begrüßung und Einführung

Impulsreferate I: Privatheit und Öffentlichkeit

Annette Henninger (Marburg): Inwiefern bewirkt Antifeminismus Verschiebungen in gesellschaftlichen Diskursen über die Geschlechterverhältnisse?

Heidi Hein-Kircher (Wuppertal / Marburg): „Familienplanung“ vor der „Pille“: „Familienplanung“ im 19. und 20. Jahrhundert

Inken Schmidt-Voges (Marburg): Haus und Gesellschaft in der Vormoderne

Impulsreferate II: Machtrepräsentationen

Dorothee Beck (Marburg): Geschlechtsbasierte Gewalt als Platzanweiser für politische (Ohn-)Macht

Lutz Vogel (Marburg): Die Einführung des Frauenwahlrechts in Hessen

Lea Reiff (Marburg) / Hania Siebenpfeiffer (Marburg): Maria Stuart in der Literatur der Frühen Neuzeit

Veronika Dumas (Frankfurt): Kommentar

Abschlussdiskussion

Martin Göllnitz (Marburg) / Andrea Wiegeshoff (Marburg): Einleitende Überlegungen zur Abschlussdiskussion


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