Ideen, Praktiken, Kontroversen. Politische Bildung und Demokratisierung nach 1945

Ideen, Praktiken, Kontroversen. Politische Bildung und Demokratisierung nach 1945

Organisatoren
Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.01.2020 - 21.01.2020
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Von
Tim Schanetzky, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Zeithistorische Behördenforschung steht meist vor dem Problem, personelle Kontinuität zwischen NS-Staat und junger Bundesrepublik zu rekonstruieren und dabei zugleich Anhaltspunkte dafür finden zu müssen, wie und mit welchen Belastungen Demokratie dennoch gelingen konnte. Diese Beobachtung ist auch der Ausgangspunkt eines Forschungsprojekts in Jena, das politische Bildung historisiert und anhand ihrer Ideen, Institutionen und Praktiken zugleich nach der Selbstverständigung über Demokratie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik fragt. Der Projektworkshop stellte erste Ergebnisse zur Diskussion und näherte sich dem Thema über vier thematisch-chronologische Zugriffe.

Zunächst stand jene Ambivalenz der Demokratisierung im Mittelpunkt, die seit 1945 die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit auch in der politischen Bildung prägte. JOLIN DIEKMANN (Jena) blickte auf die Besatzungszeit im deutschen Südwesten, wo zunächst elitäre Formen der bürgerlichen Selbstvergewisserung dominierten und Honoratioren die liberale „Demokratietradition“ der Region beschworen. Diekmann zeigte an den Beispielen Kurt-Georg Kiesinger (stellvertretender Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt), Paul Binder (Koordinator der „Arisierung“ bei der Dresdner Bank) und Theodor Pfizer (Stuttgarter Reichsbahndirektion und dort unter anderem für die Deportationszüge zuständig) einen Prozess der „spontanen Selbstdemokratisierung“: Belastete Angehörige der NS-Funktionsgeneration arbeiteten bereits seit Sommer 1945 am Aufbau der wichtigsten Strukturen für die politische Bildung im späteren Baden-Württemberg mit. Dass ungebrochene Karrieren in der jungen Bundesrepublik mitunter offen thematisiert wurden und dies sogar einen politischen Nutzen haben konnte, stellte NIKLAS KRAWINKEL (Frankfurt am Main) heraus. Hans Gmelin, der als Adjutant des NS-Bevollmächtigten Hanns Ludin die administrativen Zügel in der Slowakei in der Hand gehalten hatte und seine Ministeriallaufbahn später in Stuttgart fortsetzen konnte, kandidierte 1954 für das Amt des Tübinger Oberbürgermeisters. Im Wahlkampf nahm Gmelin das „Recht auf den politischen Irrtum“ (Eugen Kogon) für sich in Anspruch. Jetzt hätte er in der Demokratie die „gerechteste Ordnung“ erkannt und spräche damit der Bevölkerung aus dem Herzen, die ihn mit absoluter Mehrheit wählte.

Auch in Tübingen war die Beziehung zwischen Stadtöffentlichkeit und Universität, wie DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) einwarf, kompliziert. Aber Gmelin entfaltete im Amt demokratiepolitisches Sendungsbewusstsein, indem er die „Jungbürgerfeiern“ als Initiationsritus gestaltete und immer wieder auf akademische Redner wie Theodor Eschenburg zurückgriff. ALFONS SÖLLNER (Chemnitz) sah im Konzept der „Selbstdemokratisierung“ vor allem diffuse Demokratievorstellungen gespiegelt, die für die damalige Zeit und auch für die junge Politikwissenschaft typisch gewesen seien. Eine inhaltliche Präzisierung des Demokratiebegriffs sei etwa für einen Gründerväter der politischen Bildung wie Arnold Bergstraesser ohne Belang gewesen, weil die Exilerfahrung wie eine lebensgeschichtliche Beglaubigung wirkte. Diese wissenschaftsgeschichtliche Dimension bildete einen zweiten Diskussionsschwerpunkt des Workshops. Dabei ging es weniger um eine Abgrenzung von „Bezugswissenschaften“ der politischen Bildung. Vielmehr wurde gefragt, welche wechselseitigen Leistungen junge akademische Disziplinen wie die Politikwissenschaft oder die Zeitgeschichtsschreibung und die politische Bildung füreinander erbrachten.

So unterstrich GABRIELE METZLER (Berlin), wie wichtig der entstehenden Zeitgeschichtsforschung ihr „volksbildnerischer Impetus“ war. Aber auch hier blieben die Demokratievorstellungen unkonkret, zumal sich die Zeithistoriker/innen ohnehin lieber um die Staatsautorität sorgten, oft verknüpft mit antipluralistischen Ideen und Kritik an Parteien und Verbänden. Entsprechend richtete sich ihre politische Pädagogik anfangs besonders gegen die Reeducation, und es dauerte bis weit in die 1950er-Jahre, ehe das Fach in eine liberalere Diskurskoalition hineinzuwachsen begann. Dass daran gerade Grenzgänger zwischen den jungen Disziplinen wie Kurt Sontheimer und Karl Dietrich Bracher großen Anteil hatten, griff FELIX LUDWIG (Jena) auf, indem er die Funktion der Pluralismustheorie für die West-Berliner Politikwissenschaft untersuchte: Ursprünglich in offener Abgrenzung zu Gemeinwohlkonzeptionen à la Carl Schmitt konzipiert, markierte Pluralismus bald eine intellektuelle Basis, auf der sich so unterschiedliche Temperamente wie Ernst Fraenkel, Ossip Flechtheim oder Otto Heinrich von der Gablentz verständigen konnten. Entsprechend zentral war das Konzept auch für die Außendarstellung der Deutschen Hochschule für Politik, die gegenüber ihren Geldgebern immer wieder darauf hinwies, dass zwischen Politikwissenschaft und politischer Bildung nicht zu trennen sei. Damit ging freilich noch kein Interesse an pädagogischen Ansätzen einher, zumal sich die Hochschule zügig akademisierte und dann bald Teil der Freien Universität wurde. Die entstehende Lücke schloss in West-Berlin die 1958 errichtete Landeszentrale für politische Bildung.

Während Alfons Söllner in diesem Prozess der Akademisierung und disziplinären Ausdifferenzierung ein typisches Autonomiestreben erblickte, das die Anfangsphase der beiden wissenschaftlichen Disziplinen geprägt habe, betonte NORBERT FREI (Jena) einen Unterschied: Die Zeitgeschichte habe als Subdisziplin eines etablierten Faches immer auch von der Protektion durch einflussreiche „Schutzpatrone“ profitiert. GUDRUN HENTGES (Köln) unterstrich, dass die Politikdidaktik erst später entstand, der Pragmatismus der West-Berliner Politologen in allen Fragen der Pädagogik also nicht ungewöhnlich gewesen sei. Zudem verwies CAROLA SACHSE (Wien) darauf, dass die Gründergeneration um Ernst Fraenkel spätestens dann ihre lebenspraktische Mühe mit dem Pluralismus gehabt habe, als der Studentenprotest die Autorität der Ordinarien in Frage stellte und sich eine jüngere Generation alternativen Theorieangeboten zugewandt habe. Im Kleinen waren am Otto-Suhr-Institut jene Konflikte zu beobachten, die nun einerseits dazu führten, dass 1968 noch immer als wichtigstes Symbol für jene innere Demokratisierung dient, ohne die eine Meistererzählung von der geglückten Demokratie kaum funktionieren würde. Andererseits setzte eine Zuspitzung der gesellschaftspolitischen Konflikte ein, die zugleich die Bedingungen der politischen Bildungsarbeit grundlegend veränderte. Entsprechend fragte der Workshop im dritten Teil nach den Struktureffekten der erbittert geführten Kontroversen des „roten Jahrzehnts“.

Dreh- und Angelpunkt war der Kampf gegen den politischen Extremismus. Wie verzerrt die Problemwahrnehmung bald war, zeigte MAX KRISZUN (Jena) am Beispiel der Bundeszentrale für politische Bildung. Ihr vielleicht wichtigstes Experiment als Antwort auf „Achtundsechzig“: Die Zeitschrift PZ sprach mit den Mitteln des Boulevardjournalismus erstmals ein breites Publikum an, was in der Politik auf viel Kritik stieß. Als der Bund Freiheit der Wissenschaft beklagte, Extremisten hätten die Bundeszentrale unterwandert, geriet das Projekt 1974 schließlich ins Trudeln. Die Vorwürfe richteten sich gegen zwei freie Archivhilfskräfte der PZ, und weil die Affäre so hohe Wellen schlug, untersagte Innenminister Hans-Dietrich Genscher am Ende die freihändige Vergabe von Werkverträgen. So sorgte er dafür, dass die Zeitschrift zunächst nicht weiter erscheinen konnte. Hier war dieselbe Angst vor der Unterwanderung am Werk wie bei der Umsetzung des Radikalenbeschlusses. Allein in Hamburg, so arbeitete ALEXANDRA JAEGER (Hamburg) heraus, wurden von 1971 bis 1978 knapp 100.000 Regelanfragen veranlasst, von denen die meisten angehende Lehrerinnen und Lehrer betrafen. Dabei war Hamburg ein doppelter Pionierfall: Dort gab es die Gesinnungsüberprüfung bereits seit 1961, und auch die Re-Liberalisierung begann in Hamburg. So veränderte die Schulbehörde 1977 ihre Einstellungspraxis, weil Engagement und Idealismus eben zum Lehrerberuf gehörten, entsprechende Bewerberinnen und Bewerber durch die Regelanfrage aber systematisch entmutigt worden seien. Die örtliche SPD vollzog diesen Kurswechsel auch unter dem Eindruck der Bürgerschaftswahl von 1978, bei der sie viele junge Wähler an die Bunte Liste verlor. So war die Umsetzung des Radikalenbeschlusses für eine Generation prägend, die jetzt kaum noch Angst um den Staat hatte, wohl aber Gründe fand, Angst vor ihm zu haben – ein Lebensgefühl, das nicht nur „Ökopaxe“ antrieb, sondern auch jene Aktivist/innen, die bald gegen die Volkszählung protestierten. Diese aktivistische Haltung war folgenreich für die politische Bildung, weil sie zu neuen Aktionsformen und zur Ausdifferenzierung des Feldes beitrug – etwa indem sich nun auch private Stiftungen engagierten, wie Detlef Siegfried am Beispiel der Körber-Stiftung und des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten herausstellte.

Freilich bleibt nach den Grenzen der Re-Liberalisierung zu fragen. TIM SCHANETZKY (Jena) führte am Beispiel des „Aktionsprogramms zur geistig-politischen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus und Extremismus“ vor, wie hartnäckig sich die Bundeszentrale für politische Bildung zunächst weigerte, zum „positiven Verfassungsschutz“ beizutragen. Massiver politischer Druck und die zusätzlichen Millionen aus dem Aktionsprogramm sorgten dann im Herbst 1977 für einen Kurswechsel. Bald darauf entwickelte die Bundeszentrale ein weiteres Programm, das sich nun ausdrücklich gegen Rechtsradikalismus und jenes Unwissen über die NS-Zeit richtete, das nach der Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“ offensichtlich geworden war. Doch dieses Programm war politisch unerwünscht. Im Innenministerium fürchtete man einem „Sogeffekt“, weil die offene Thematisierung rechtsextreme Tendenzen nicht bekämpfen, sondern fördern würde. Dass solche Ängste in der pädagogischen Debatte keine Rolle spielten, zeigte TILL KÖSSLER (Halle) anhand der Dauerthematisierung von Rechtsextremismus als Jugend- und Schulproblem seit den 1970er-Jahren. Pädagogen sahen in rechtsradikaler Jugendgewalt vor allem Ausdrucksformen sozialer Desintegration, die sie auf die Anonymität in den Lernfabriken der Bildungsreformära, auf ein verändertes gesellschaftspolitisches Klima oder auf neurechte Propaganda zurückführten. Weil sie den rechtsradikalen Jugendlichen als verängstigte und sozial atomisierte Persönlichkeit imaginierten, setzten die Gegenrezepte ganz bei der Persönlichkeitsentwicklung an. Die Opfer rechter Gewalt gerieten dabei so wenig in den Blick wie die politisch-ideologische Mobilisierungsfähigkeit der Täter.

Fragt man abschließend, wie eine Zeitgeschichte der politischen Bildung zugleich zum besseren Verständnis der Gegenwart beitragen kann, treten drei Prozesse hervor: Erstens differenzierte sich die politische Öffentlichkeit stärker aus. Zwar formulierte der Beutelsbacher Konsens 1976 Minimalanforderungen an eine staatlich finanzierte Demokratieerziehung mit einem Mindestmaß an weltanschaulicher Neutralität. Aber zur gleichen Zeit lenkte eine parteiübergreifende Koalition immer mehr finanzielle Mittel in den Globalzuschuss für die politische Bildungsarbeit der Parteistiftungen, so dass dieser massiv wuchs. Schon 1978 übertraf er den Etat der Bundeszentrale um mehr als das Doppelte. Ausdifferenzierung konnte also auch bedeuten, sich in der Bildungspraxis stärker in weltanschauliche Nischen zurückzuziehen. Dazu passt, dass sich die Vorstellungen über die Adressatinnen und Adressaten der politischen Bildung nur sehr zögerlich wandelten. Nimmt man die Bundeszentrale zum Maßstab, dauerte es noch bis in die späten 1990er-Jahre, ehe diese beispielsweise in der Gegenwart der Migrationsgesellschaft ankam.

Zweitens wurde deutlich, dass sich im Laufe der 1970er-Jahre eine Arbeitsteilung zwischen politischer Bildungspraxis und Politikdidaktik einerseits und akademischen Disziplinen wie der Politikwissenschaft und der Zeitgeschichtsschreibung andererseits etabliert hatte, die zudem mit einem Generationswechsel einherging. Ein wichtiger Aspekt dieser disziplinären Spezialisierung waren operationalisierbare Begriffe, die erst jetzt an die Stelle jener nebulösen und in alle Richtungen hin anschlussfähigen Ideen von Demokratie aus den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten traten. Das galt wohl genauso für den Extremismusbegriff. Er erlebte zunächst einen Aufschwung als politisch-instrumentelles Konzept, der aber zugleich auch den Grundstein für methodologische Reflexion und daran anschließende empirische Forschung legte. Wie stark die politischen Debatten der Gegenwart mit den Konflikten der 1970er-Jahre verknüpft sind, ist auch daran ablesbar, dass „Extremismus“ oder „Hufeisentheorie“ heute erneut zu Kampfbegriffen geworden sind. Die politische Bildungsarbeit betrifft dies ganz besonders, weil sie von Rechtspopulisten immer wieder in die Nähe staatlicher Propaganda gerückt wird. Entsprechend häufig wurde zuletzt wieder auf den Beutelsbacher Konsens verwiesen. Aber selbst die Gesinnungsüberprüfung war wieder eine Option – einige Bundesländer experimentierten mit sogenannten Extremismusklauseln, und selbst das Bundesfamilienministerium erwog zeitweilig deren Einführung.

Drittens schließlich verweist die „Entdeckung“ des rechtsradikalen Jugendlichen an der Wende zu den 1980er-Jahren auf peinliche Leerstellen der zeithistorischen Forschung, die derartige Zeitdiagnosen künftig in ein Klima apokalyptischer Ängste einordnen und zugleich die Muster der strukturellen Verharmlosung und des absichtsvollen Wegschauens rekonstruieren muss. Was jedoch auffällt und die späten 1970er-Jahre ebenfalls zur Vorgeschichte der Gegenwart machte: Politische Bildung setzte damals wie heute beim individuellen Nicht-Wissen an, versuchte also gewissermaßen die politische Mitte über Wissenserwerb zu stärken. Dass sich politische Extremisten bewusst gegen den liberal-pluralistischen Konsens stellten und dass dabei nicht zwingend ein Mangel an Wissen, sondern im Gegenteil eine bewusste politisch-ideologische Entscheidung den Ausschlag gegeben haben könnte, trat schon damals in den Hintergrund. Auch heute liegt darin die eigentliche Ursache für jene fundamentale Verunsicherung, die allenthalben zu spüren ist, wenn ein Viertel der Wahlteilnehmer/innen offen antidemokratisch stimmt.

Konferenzübersicht:

Norbert Frei (Jena): Einführung

Erfindung einer demokratischen Tradition

Jolin Diekmann (Jena): Besinnung nach 1945? Akteure der politischen Bildung im deutschen Südwesten

Niklas Krawinkel (Frankfurt am Main): Das Prinzip Tübingen: NS-Vergangenheit und demokratischer Neuanfang

Zeitgeschichte, Politikwissenschaft und politische Bildung

Felix Ludwig (Jena): Pluralismus lehren. Zur Verbindung zwischen Demokratietheorie(n) und politischer Bildung

Gabriele Metzler (Berlin): Demokratievorstellungen in der zeithistorischen Forschung

Innere Demokratisierung und positiver Verfassungsschutz

Max Kriszun (Jena): „Den Bock nicht zum Gärtner machen.“ Linksradikale in der Bundeszentrale für politische Bildung

Alexandra Jaeger (Hamburg): „Wie links dürfen Lehrer sein?“ Die Umsetzung des Radikalenbeschlusses in Hamburg

Politische Wirksamkeitserwartungen

Tim Schanetzky (Jena): „Geistig-politische Auseinandersetzung“ mit Terrorismus und Extremismus

Till Kössler (Halle): Schule, Rechtsradikalismus und Demokratie nach 1968

Kommentare: Gudrun Hentges (Köln), Detlef Siegfried (Kopenhagen), Alfons Söllner (Chemnitz), Carola Sachse (Wien)


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