(Un)politische Geschichte! Wie politisch muss Geschichtswissenschaft sein?

(Un)politische Geschichte! Wie politisch muss Geschichtswissenschaft sein?

Organisatoren
Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.02.2020 - 28.02.2020
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Von
Catharina Köhnke, Jana Matthies, Universität Hamburg

Im Herbst 2018 meldete sich der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands zur Rolle von Geschichtswissenschaft und Historiker/innen angesichts derzeitiger Entwicklungen in Politik und Gesellschaft zu Wort. Dessen Mitglieder warnen in ihrer Resolution vor „gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie“. In diesem Plädoyer für eine pluralistisch-demokratische Gesellschaft sprechen sie sich für eine reflektierte Sprache, eine respektvolle Streitkultur, humanitäres Engagement und ein vereintes Europa aus. Die quellenbasierte, kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit im Rahmen einer gegenwartsgebundenen Geschichtswissenschaft sei dafür unumgänglich.1 Dieser politischen Positionierung des VHD als Berufsverband von (Geschichts-)Wissenschaftler/innen folgten teils heftige Reaktionen und Auseinandersetzungen: In welchem Verhältnis stehen Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit? Welche politische(n) Rolle(n) können und sollen Historiker/innen übernehmen? Wie engagieren sie sich, ohne die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit zu gefährden? Was heißt das für die universitäre Lehre? Wie kann die Zusammenarbeit mit außeruniversitären Akteur/innen für eine demokratische und pluralistische Gesellschaft gelingen? Kurz: Wie politisch muss Geschichtswissenschaft sein?

Diese Fragen griff die Tagung am 27. und 28. Februar 2020 in Stuttgart auf, indem sie sich als Gesprächsforum und Raum des Nachdenkens über grundsätzliche Fragen des Fachs und des Selbstverständnisses von Wissenschaftler/innen in Gegenwart und Gesellschaft verstand. In thematischer Breite und aus diversen Perspektiven und Erfahrungen diskutierten universitär gebundene Historiker/innen aus verschiedenen Teildisziplinen mit Repräsentant/innen von außeruniversitären Institutionen wie Gedenkstätten, Museen, Stiftungen sowie mit Geschichtspädagog/innen. Anlass und Ausgangspunkt bildeten die Resolution des VHD und die Einschätzung, wonach gewohnte wissenschaftliche Praktiken aktuell nicht weiterhelfen würden.

Dass Vergangenheitsbezüge in rechtsextremistischen Kreisen allgegenwärtig sind, verdeutlichte KRISTIN SKOTTKI (Bayreuth) zum Auftakt des ersten Panels, das sich Perspektiven auf geschichtswissenschaftliche Praxis und deren Rahmenbedingungen widmete. Am Beispiel der Kreuzzüge verdeutlichte sie die Vereinnahmung von historischen Phänomenen sowohl von Rechten als auch von Islamisten seit 9/11. So unterschiedlich ihre Deutungen auch sein mögen, bezögen sich beide Gruppen auf die Vorstellung eines clash of civilizations, die die Dichotomie zwischen „Christentum“ und „Islam“ als Bedrohung der jeweils eigenen Existenz entwirft. Projiziert auf die Gegenwart resultiere daraus für Rechte weltweit ein religiös motivierter, gewaltsamer „Abwehrkampf gegen den Islam“. An einer solchen nicht haltbaren Konstruktion überzeitlicher Kontinuität würden zum Teil auch Historiker/innen mitwirken. Umso wichtiger sei es, dass andere Wissenschaftler/innen Komplexität aufzeigen, Geschichtsbilder und Instrumentalisierungen dekonstruieren und ihre Ergebnisse in die Gesellschaft und universitäre Lehre tragen.

Sich einzumischen, forderte auch KATHARINA MERSCH (Frankfurt/Göttingen) in ihrem auf eigenen Erfahrungen beruhenden Beitrag zu praktischen Problemen in der Lehre. Herausfordernd seien einerseits gänzlich unpolitische Studierende oder auch diejenigen, die unreflektierte oder politisch problematische Geschichtsbilder vertreten. Andererseits müsse darüber nachgedacht werden, welche (politisch geprägten) Geschichtsbilder in Lehrveranstaltungen, z.B. über die Literaturauswahl, vermittelt werden (sollen) und was daraus für die Ausbildung von Fachwissenschaftler/innen und Lehrer/innen folgt. Dahingehend sei zu diskutieren, welche Konsequenzen politische Positionierungen angesichts prekärer Beschäftigungsverhältnisse und hierarchischer Strukturen haben.

Als Mitglied der aus Ungarn verdrängten Central European University sprach MATTHIAS RIEDL (Budapest). Dort schränke die Regierung die Wissenschaftsfreiheit systematisch mittels nationalistischer Geschichtspolitik ein. Die mit dem „linguistic turn“ aufgetretene Unsicherheit über den „richtigen“ Umgang mit „Fakten“ und deren Verhältnis zu Narration in der Geschichtswissenschaft habe sich insbesondere die (Neue) Rechte für ihre Geschichtserzählungen zu Eigen gemacht. „Fakten“ und „Sprache“ seien die zentralen Probleme für eine demokratische Geschichtswissenschaft in der gegenwärtigen Situation. Er berichtete dahingehend von positiven Erfahrungen an der CEU, die einen Schwerpunkt auf Methodik, Theorien und präzise Quellenarbeit im Studium setze.

Daran anschließend forderte BEATA MOZEJKO (Gdansk) mit der Maxime „Democracy is not given“ ihre Kolleg/innen auf, sich als Demokrat/innen zu engagieren und Antworten auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen anzubieten. Die Wissenschaftler/innen und die Universität als Gemeinschaft müssten versuchen, weniger als „Insel“ in der Gesellschaft zu treiben. Vielmehr ginge es darum, sich der eigenen sozialen Bindungen bewusst zu sein und in dieser Verantwortung zukunftsorientiert zu handeln. Es bedürfe allerdings der Reflexion der eigenen Sozialisation, Perspektive(n) und verwendeten Sprache.

Einen solchen Blick der Reflexion auf das eigene Fach wählte CHRISTOPH DARTMANN (Hamburg). Während Mittelalterhistoriker/innen sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts konkret in politische Debatten eingebracht hätten, wie z.B. die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker zeige, habe ihr Fokus im Kaiserreich auf vorgeblich unpolitischen und dadurch langfristig anschlussfähigen Arbeiten gelegen. Es folgte das fatale Unbehagen des Fachs gegen die Weimarer Republik und ein undistanziertes Verhältnis zur NS-Diktatur, dessen Protagonisten größtenteils ihre Karrieren unter dem Etikett „unpolitisch“ in der Bundesrepublik fortgesetzt hätten. Dieses Selbstverständnis als apolitische Mediävistik wirke bis heute fort. Angesichts dessen und dass sämtliche Stufen des geschichtswissenschaftlichen Arbeitsprozesses und die Historiker/innen selbst politisch sind, müsse eine solche Haltung – insbesondere derzeit – überdacht werden.

Abschließend kam ROLAND STEINACHER (Innsbruck) noch einmal auf den Ge- und Missbrauch nur schwer aufzubrechender historischer Meistererzählungen zurück. Diesen würden sich insbesondere die Neue Rechte, aber auch Konservative bedienen. Dies zeige das Beispiel „Völkerwanderung“. Verankert in der Vorstellung einer in „Völkern“ geordneten, hierarchischen Welt diene dieses seit dem 15. Jahrhundert präsente Narrativ dazu, Migration als Bedrohungsszenario zu entwerfen. Theoretische Anknüpfungspunkte würden sie bei rechten Denkern der Zwischenkriegszeit wie Oswald Spengler finden. Werden diese Erzählungen in der Presse aufgegriffen, müssten Historiker/innen darauf, so der Tenor des Plenums, mit richtigstellenden Gegenartikeln reagieren.

Welche Wirkungsmöglichkeiten und Grenzen außerhalb der Universität vorhanden sind, stand im Zentrum der folgenden interaktiven Einheit. Dafür gestalteten Vertreter/innen von Museen, Gedenkstätten und Geschichtspädagogik insgesamt vier Stände. An diesen diskutierten Kleingruppen, deren Zusammensetzung nach etwa zwanzig Minuten wechselte. Je nach Vorgaben und Interessen der Teilnehmenden unterschieden sich die Gespräche in ihren Schwerpunkten: Ökonomische Aspekte wie Mittel der Besucheranwerbung im Museum oder Widrigkeiten der Selbstständigkeit und schwer nachvollziehbare Auftragsvergaben wurden ebenso besprochen wie Fragen nach dem politischen Selbstverständnis von Institutionen, der Gestaltung von Ausstellungen, nach der Rolle von Gedenkstätten für die Demokratieerziehung und denkbaren pädagogischen Konzepten. Einhellig wurde dieses Format äußerst positiv wahrgenommen; weitergehend wurden Potenziale betont, es inhaltlich und personell auszuweiten.

Den Impuls für die Abschlussdiskussion gab VOLKER WEIß (Hamburg). Er attestierte den Historiker/innen, sich der Geschichtspolitik der Neuen Rechten nicht genügend entgegenzustellen. Unter Rückgriff auf rechte Theoretiker der Zwischenkriegszeit wie Oswald Spengler, auf Mythen und marktzentriert-sozialdarwinistische Positionen ergebe sich das Bild eines angestrebten Ständestaates. Übergeordnetes Ziel sei es, die Nation zu rehabilitieren. Historiker/innen müssten solche Darstellungen, die sich Begriffen wie „Abendland“, „konservative Revolution“ oder „Kulturmarxismus“ bedienen würden, dekonstruieren und benennen. Eine solch aktive Haltung sei stets politisch.

Die Veranstaltung wurde mit einer kurz und offen gehaltenen Podiumsdiskussion geschlossen. Thorsten Logge moderierte das Gespräch zwischen Beata Mozejko, Kristin Skottki und Volker Weiß. Die Teilnehmenden äußerten sich einstimmig besorgt über die derzeitige Lage. Rechtsradikale würden zunehmend versuchen, in verschiedensten Bereichen ihr Denken einsickern zu lassen und Unsicherheiten zu schüren. Das geschlossene universitäre System, finanzielle und hierarchische Strukturen würden wissenschaftlich-demokratische Reaktionen auf die Geschichtspolitik der Neuen Rechten erschweren. Dazu kämen praktische Herausforderungen, etwa die Übersetzung von Forschungsergebnissen in eine allgemein verständliche Sprache oder die Anwendung von populären Medien, wie z.B. Podcasts. Um sich für Pluralismus und Demokratie zu engagieren, erachten es die Teilnehmenden als notwendig, sich innerhalb des Faches und transdisziplinär besser zu vernetzen und Medienkompetenzen zu erweitern.

Die Konferenz hat gezeigt, dass die Herausforderungen für die Demokratien in Europa auch die Geschichtswissenschaft(en) betreffen. Geschichte und Geschichtsschreibung ist nie neutral und immer politisch. Das machen sich derzeit vor allem Antidemokrat/innen zu Eigen, indem sie Rückgriffe auf historische Phänomene (oder das, was sie dafür halten) für ihre politischen Ziele nutzen. Dass Historiker/innen darauf demokratische Antworten anbieten sollten, erschien den Teilnehmenden daher unumgänglich. Geschichtswissenschaft(ler/innen) befinde(n) sich dabei stets in Wechselwirkung zur Gesellschaft und zum eigenen Fach, wie nicht nur die Hinweise auf derzeit wenig förderliche Arbeitsbedingungen, hierarchische Strukturen und fehlende Ressourcen gezeigt haben. Doppelt notwendig ist es deshalb, wissenschaftlich fundierte Geschichtsprodukte in adressatenorientierter Form und Sprache in die Öffentlichkeit und die universitäre Lehre zu bringen.

Ebenso wünschenswert wie notwendig ist es, die während der Tagungsdiskussionen offen gebliebenen und neu gestellten Fragen über Verknüpfungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart weiterzudenken. Einen Raum dafür könnte ein solches Gesprächsformat bieten, dessen Verstetigung angedacht ist. Der Teilnehmerkreis sollte auf mehr Praktiker/innen und Vertreter/innen außereuropäischer Perspektiven erweitert werden. Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Wir müssen uns als demokratische Wissenschaftler/innen in der Gesellschaft politisch engagieren – aber wie? Nehmen wir die Herausforderung an!

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung
Christoph Dartmann (Hamburg), Thorsten Logge (Hamburg), Petra Steymans-Kurz (Stuttgart)

Perspektiven auf geschichtswissenschaftliche Praxis

Kristin Skottki (Bayreuth): Zur (Dis-)Kontinuität der Kreuzzüge in der gegenwärtigen Geschichtskultur

Katharina Mersch (Frankfurt/Göttingen): Praktische Probleme in der universitären Lehre

Matthias Riedl (Budapest): Geschichtswissenschaft im autoritären Staat. Der Fall Ungarn und seine Bedeutung

Beata Mozejko (Gdansk): Our version of history? Medieval and modern experiences

Christoph Dartmann (Hamburg): Das Mittelalter. Gegenstand einer unpolitischen Geschichte?

Roland Steinacher (Innsbruck): Migration und politischer Diskurs. Ge- und Missbrauch historischer Meistererzählungen

Perspektiven außeruniversitärer Handlungsfelder – World Café

Miriam Weiss (Theley): MWPädagogik

Markus Hirte / Anja Bergermann (Rothenburg o.d.T.): Mittelalterliches Kriminalmuseum

Melanie Engler (Prettin): Gedenkstätte KZ Lichtenburg

Ekkehard Klausa (Berlin): Stiftung 20. Juli 1944, Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Wie politisch muss Geschichtswissenschaft sein?
Moderation: Thorsten Logge (Hamburg)

Impuls: Volker Weiß (Hamburg)

Beata Mozejko (Gdansk) / Kristin Skottki (Bayreuth) / Volker Weiß (Hamburg)

Anmerkung:
1 Resolution des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands zur gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie, 27. September 2018, online unter: https://www.historikerverband.de/verband/stellungnahmen/resolution-zu-gegenwaertigen-gefaehrdungen-der-demokratie.html (02.03.2020), Zitat ebd.


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Deutsch
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