Schrift ohne Herrschaft. Herrschaftsverhinderung, Herrschaftsbestreitung und Herrschaftsumgehung im Medium der Literalität

Schrift ohne Herrschaft. Herrschaftsverhinderung, Herrschaftsbestreitung und Herrschaftsumgehung im Medium der Literalität

Organisatoren
Klaus Freitag, Lehrstuhl Alte Geschichte, Historisches Institut, RWTH Aachen; Rüdiger Haude, Historisch orientierte Kulturwissenschaften, Historisches Institut, RWTH Aachen
Ort
Aachen
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.02.2020 - 08.02.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Christoph London, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) Aachen

Schrift und Schriftlichkeit in ihrer facettenreichen und multifunktionalen Verwendung – so lässt sich das Thema einer Tagung zusammenfassen, die am Historischen Institut der RWTH Aachen stattfand. Die Tagung folgte einem sowohl interdisziplinär als auch epochenübergreifend angelegten Ansatz. Dementsprechend weit spannte sich der diachrone Bogen, der vom klassischen Griechenland und der Spätantike über das Früh- und Hochmittelalter und die beginnende Neuzeit bis in die Zeitgeschichte hinein reichte und um Perspektiven und methodische Ansätze aus Literaturwissenschaft, Ethnologie und Soziologie bereichert werden konnte.

Die Veranstalter hoben in ihrer Einführung die Einbettung des Tagungsvorhabens in den bereits seit längerem bestehenden Aachener Schwerpunkt der „Wissenskulturen“ und der damit verbundenen Frage nach der wissensgestützten Aneignung der Welt in verschiedenen Zeiten und Gesellschaften hervor, der sich sowohl in zahlreichen Forschungsprojekten als auch in der Lehre mit einem eigenen Masterstudiengang niederschlägt. Der Begriff der Wissenskultur ist dabei untrennbar mit der Kulturpraxis des Schreibens verbunden, mit der Wissen kodifiziert und transferiert werden kann. Daraus ergeben sich epochenübergreifende Fragestellungen, beispielsweise nach dem Stellenwert von Schriftlichkeit in verschiedenen historischen Gemeinwesen und dem Zugang zu dieser Kulturtechnik. Zudem lässt sich am Beispiel schriftlicher Überlieferungen immer trefflich über die Frage diskutieren, wer mit welcher Aussageabsicht schreibt und von wem dies wiederum gelesen wird. In Anlehnung an das schon biblische Diktum „Der Buchstabe tötet“ (2. Kor. 3,6) verwiesen sie aber auch darauf, dass Schrift und Schriftlichkeit oftmals im Dienste der Herrschenden gestanden haben. Daher formulierten Haude und Freitag auch das Ziel, der Rolle der Schrift in herrschaftsfreien Gesellschaften und im Sinne eines „Diskurses von unten“ auch einer Funktionalisierung des Mediums der Literalität für die Herrschaftskritik oder Herrschaftsvermeidung nachzuspüren.

Der erste Tag der Veranstaltung stand im Zeichen der vormodernen Gesellschaften und begann, den chronologischen Entwicklungen folgend, mit den Überlegungen von KLAUS FREITAG (Aachen) zum Ostrakismosverfahren. Mit dem Prozess des Ostrakismos im klassischen Athen des 5. Jahrhunderts griff er ein viel diskutiertes Phänomen auf, dessen Quellengrundlage sich nun durch eine neue Publikation erschließen lässt1. Die mit Namen beschriebenen Scherben dienten als Stimmtäfelchen und zeugten laut Freitag somit von einer „politischen Schriftlichkeit“. Unter der Prämisse des Phänomens der Schriftlichkeit ließe sich die These der älteren Forschung nicht mehr aufrechterhalten, wonach ein Großteil der athenischen Bevölkerung Analphabeten gewesen und die Kenntnis der Schrift in der athenischen Gesellschaft nur wenig verbreitet gewesen sei. Dem hielt Freitag die These einer breiten und starken Mittelschicht in Athen entgegen, die planend und vorausschauend handelte und den interindividuellen Wert des Einsatzes von Schriftlichkeit durchaus zu schätzen gewusst habe.

CHRISTOPH LONDON (Aachen) lenkte den Blick auf ein Problem der spätantiken Historiographie, die im Vergleich zu ihren kaiserzeitlichen Vorläufern auffallend oft die individuellen Schriftkenntnisse und den Grad sprachlicher Bildung der einzelnen Kaiser kommentierte und einen entsprechenden Mangel auch scharf kritisierte. Somit hat man es mit Aussagen über „Schrift im Medium der Schrift“ zu tun, die auch vor dem Hintergrund des von der Forschung oft angenommenen Wandels zum spätantiken Palastkaisertum erklärungsbedürftig seien. So konnten sich die Kaiser immer stärker auf ihren Verwaltungsapparat verlassen und benötigten nicht zwangsläufig eigene Schriftkompetenzen für ihre Herrschaft. London verwies in diesem Kontext auf die sozialen Wandlungsprozesse, die das Kaisertum im 3. und 4. Jahrhundert erfassten. Schließlich entstammten die Kaiser immer seltener der Senatsaristokratie und immer häufiger aus soldatischen Kreisen, weshalb eine Kenntnis der Schrift und ein darauf basierendes sprachliches Bildungsideal nicht mehr als selbstverständlich gegolten habe. Dieses führten die spätantiken Geschichtsschreiber jedoch schon bald als Kategorie ein, um über kaiserzeitliche Herrschaft zu urteilen, und unternahmen somit den Versuch, tradierte Bildungsideale in eine neue Ordnung zu überführen.

Diese Übergangszeit zwischen Spätantike und Frühmittelalter spielte auch für die Überlegungen eine wichtige Rolle, die HENDRIK HESS (Bonn) vorstellte. Hess betrachtete die Schriften der auch literarisch tätigen gallischen Kirchenmänner Sidonius Apollinaris, Ruricius von Limoges und Avitus von Vienne aus dem ausgehenden 5. und frühen 6. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund der Desintegration der römischen Herrschaft und deren Ablösung durch die sich etablierenden autonomen Herrschaften der Visigoten, Burgunder und Franken auf ehemals römischen Boden setzten sich die gallischen Bischöfe auf unterschiedliche Weise mit diesen einschneidenden Wandlungsprozessen auseinander. Die Bischöfe lernten als „Übergangsrömer“, so Hess, sich vergleichsweise schnell mit den neuen Herrschern zu arrangieren und das früher selbstverständliche Streben nach römischen Ämtern zwangsläufig aufzugeben. Daher rekurrierten sie in ihren Texten fortan nicht mehr auf die zunehmend bedeutungslose imperiale Herrschaft, sondern vielmehr auf ihre Bildung als Standesmerkmal, was Hess mit der These der „Herrschaftstransgression“ und des „herrschaftsfreien Diskurses“ erklärte.

GIUSEPPE CUSA (Aachen) entführte die Anwesenden räumlich und zeitlich in einen gänzlich anderen Kontext, indem er die Verhältnisse Ostoberitaliens im 13. und 14. Jahrhundert in den Blick nahm. Diese in vielerlei Hinsicht äußerst dynamische Zeitspanne, in der unterschiedliche Gruppierungen in den Kommunen oftmals blutig um Macht und Einfluss rangen, städtische Gemeinwesen ihre Autonomie verloren oder unter die Alleinherrschaft eines Signore gerieten, fand in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung Widerhall. Cusa hob hervor, dass zu dieser Zeit vor allem Laien in die vormals geistliche Domäne der Historiographie vordringen konnten. Deren Aussagewert sei daher kaum zu unterschätzen, waren die Geschichtsschreiber doch in der Regel direkte Zeugen der Geschehnisse und standen gleichzeitig als Schreiber oder Beamte oftmals im Dienst der beteiligten Kommunen und Herrscher. Als parteiische Beobachter par excellence stellten ihre Schriften eine gewinnbringende Quelle für eine Herrschaftskritik auf regionaler Ebene dar.

Am zweiten Tag der Veranstaltung ging es vor allem um moderne Gesellschaften. Dass solche theoretische Einteilungen immer auch eine gewisse Schwierigkeit in sich bergen, konnte KARINA KELLERMANN (Bonn) zeigen, die in vielerlei Weise an Cusas Ausführungen anknüpfen konnte. Kellermann widmete sich dem Braunschweiger Publizisten Hermann Bote, der sich am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert mit den tagespolitischen Ereignissen in seiner Heimatstadt auseinandersetzte und sich daher unter der Perspektive des „oppositionellen Schrifttums“ thematisieren lässt. Die Referentin setzte sich kritisch mit Habermas' viel zitiertem Diktum auseinander, wonach es vor der Moderne keine Öffentlichkeit gegeben habe. Dem stellte Kellermann exemplarisch das Wirken Botes gegenüber, der ihren Ausführungen zufolge zeitgleich mit anderen Autoren nicht nur ein neues literarisches Feld, sondern auch ein neues „soziales Feld“ betreten habe. In Botes „Schichtbuch“ ließe sich beobachten, wie der Autor zwischen verschiedenen Rollen wechsle und seine Autorschaft aus Angst vor Repressalien zu verschleiern versuchte. Letztlich standen diese unterschiedlichen Rollen immer in der Zielsetzung, Herrschaftskontrolle durch öffentliche Meinung durchzusetzen.

Anschließend bewegte sich RÜDIGER HAUDE (Aachen) im Grenzgebiet zwischen Geschichtswissenschaft und Ethnologie, beschäftigte er sich doch mit der Schriftkultur der Hanunoo-Mangyan, einer auf der philippinischen Insel Mindoro beheimateten Ethnie. Dabei folgte Haude dem Urteil Jack Goodys als Handlungsmaxime, wonach man der politischen Logik der Schrift erst an den „Rändern der Literalität“ richtig auf dem Grund gehen könne. Die Hanunoo-Mangyan, die sich im Zeitalter der Kolonisation in abgeschiedene Gebirgsregionen zurückgezogen hatten und dort mit der Schrift surat mangyan ihre spezifische, seit Jahrhunderten tradierte Schriftkultur bewahren konnten, sind ein besonders gut dokumentiertes Beispiel herrschaftsfreier politischer Strukturen. Haude verwies in diesem Kontext auf die Aufzeichnung von Poesie und die Briefkorrespondenz als exklusive Genres der Schriftverwendung. Vor allem anhand der traditionellen Poesie der Ethnie ließe sich die sozialintegrative Funktion der Schrift ablesen, vermittele sie doch den auf Gewaltfreiheit und Herrschaftsfreiheit basierenden Wertekanon der Gesellschaft.

INES SOLDWISCH (Aachen) stellte am Beispiel der Samisdat-Presse in den letzten Jahren der DDR die Frage nach der oppositionellen Schriftverwendung durch Personen und Gruppen, die vom Herrschaftsapparat ausgeschlossen waren. Gerade in diktatorischen Systemen konnten solche Diskurse schließlich nur als „Gegenöffentlichkeit“ im Geheimen und unter großen Risiken geführt werden. Anhand der Publikationen Grenzfall und Umweltblätter als frühe Beispiele der politischen Samisdatbewegung in der DDR diskutierte Soldwisch die unterschiedlichen Akteursgruppen, Inhalte und Distributionswege. Fernab aller späteren Idealisierungen ließe sich vor allem das Bemühen um eine „Wiedererlangung der Sprache“ in einem System allgegenwärtiger Kontrolle und die Probe der „Demokratiefähigkeit der Schrift“ hervorheben. Die Samisdat-Publikationen wurden somit zu einem wichtigen Wegbereiter der Demokratiebewegung in der DDR, durch deren Erfolg in der Umbruchszeit 1989/90 und der damit einhergehenden Öffnung der politischen und gesellschaftlichen Debatten sie letztlich obsolet wurden.

Nachdem die vergleichende chronologische Betrachtung von der Antike bis in die Zeitgeschichte abgeschlossen war, erweiterte JOCHEN SCHWENK (Darmstadt) die bisherigen Beobachtungen aus einer soziologischen Perspektive heraus. „Der hochpolitische Schreibstil“ Walter Benjamins diente ihm als Anlass, Strategien und Begründungen der Herrschaftskritik und Herrschaftsvermeidung im Medium der Literalität näher zu beleuchten. Ausgehend von Benjamins Weigerung, sich an der von Martin Buber und Salman Schocken herausgegebenen Zeitschrift Der Jude und des damit verbundenen „politisch wirksamen Schrifttums“ zu beteiligen, spürte Schwenk den verschiedenen Einstellungen nach, die Benjamin gegenüber der Sprache äußerte. Diesen „anarchistischen Impuls“ Benjamins, Sprache vor allem als nicht-instrumentelles und nicht der Herrschaft verpflichtetes Medium zu begreifen, rechnete der Referent dem „metaphysischen Anarchismus“ der Jugendjahre zu. Dieser sei später zunehmend von einem „theokratischen Anarchismus“ abgelöst worden, der wiederum die Grundlage für Benjamins Sprachtheorie und den Stil des „sachlichen und zugleich hochpolitischen Schreibens“ gebildet habe.

Abschließend ordnete ARMIN HEINEN (Aachen) das zuvor Gehörte ein. Er betonte, dass sich die Medien und Strategien, mit denen Herrschaft schriftlich kritisiert und vermieden wurde, in den verschiedenen Epochen und Gesellschaften überraschenderweise zum Teil sehr ähnlich seien. Unterschiedlich sei vor allem die Einstellung der Schreibenden zu den Herrschenden. Während die Kritik sich in der Spätantike und im Mittelalter vor allem gegen einzelne Herrscher gerichtet habe, sei in der Moderne auch das durch Sprache tradierte und kodifizierte Herrschaftssystem im Allgemeinen in Frage gestellt worden. Gleichzeitig habe man bisweilen Modi entwickelt, die Sprache ihrer herrschaftsunterstützenden und herrschaftslegitimierenden Funktionalität zu entziehen.

Alles in allem konnte die vergleichende Zusammenführung der Perspektiven aus den verschiedenen Zeithorizonten dazu beitragen, die politische Funktion des Mediums der Literalität kritisch zu reflektieren und seine Nutzbarmachung vor dem Hintergrund verschiedener Kontexte aufzuzeigen.

Konferenzübersicht:

Klaus Freitag / Rüdiger Haude (Aachen): Begrüßung und Einführung

Klaus Freitag (Aachen): Überlegungen zum Ostrakismos in Athen

Christoph London (Aachen): Herrschaft ohne Schrift? Die Schriftkenntnisse der spätantiken römischen Kaiser im Spiegel der literarischen Quellen

Hendrik Hess (Bonn): Herrschaftstransgression zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Die Schriften gallischer Bischöfe und ihre Poetologie

Giuseppe Cusa (Aachen): Fuit ferus et crudelis et amator pecunie. Herrschaftskritik ostoberitalienischer Geschichtsschreiber des 13. und 14. Jahrhunderts

Karina Kellermann (Bonn): Oppositionelles Schrifttum im niederdeutschen Raum. Der Braunschweiger Publizist Hermann Bote

Rüdiger Haude (Aachen): Weise Wilde. Schrift und Politik bei den Hanunoo-Mangyan auf Mindoro

Ines Soldwisch (Aachen): Herrschaft und Schriftlichkeit am Ende der DDR

Jochen Schwenk (Darmstadt): Der hochpolitische Schreibstil. Herrschaftskritik und Herrschaftsvermeidung durch Schrift und Sprache bei Walter Benjamin

Armin Heinen (Aachen): Abschließende Bemerkungen

Anmerkung:
1 S. Brenne, Die Ostraka vom Kerameikos, Wiesbaden 2018 (Kerameikos Bd. 20).