Freiheit, Nation und Populismus. Öffentliche Debatten im östlichen Europa

Freiheit, Nation und Populismus. Öffentliche Debatten im östlichen Europa

Organisatoren
Gießener Zentrum östliches Europa (GiZO)
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.01.2020 - 24.01.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Renée Silja Pika, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt- Universität zu Berlin

Der Workshop fand im Rahmen der „Kleinen-Fächer-Wochen“ an der Justus-Liebig-Universität statt. Die Projektwoche sollte genutzt werden, um die Gießener Studienfächer der Osteuropäischen Geschichte und der Slawistik auf aktuelle Ereignisse und gesellschaftliche Phänomene in Osteuropa anzuwenden und dazu auch explizit Teilnehmende zu gewinnen, die diese Fächer (noch) nicht studieren.

Themen und Ziele des Workshops, vorgetragen von HANS-JÜRGEN BÖMELBURG (Gießen), sollten Beobachtungen über und Erklärungsansätze für die Entwicklung der Nationalstaaten Osteuropas nach 1989 in Anbetracht des Erstarkens des (Rechts-)Populismus und Nationalismus sein. Außerdem sollte auf die Repression der Intellektuellen und der freien akademischen Wissensproduktion sowie auf die eingeschränkte Medienfreiheit und das erhöhte Gewaltpotential rechter Kräfte eingegangen werden. Um auch fachfremde Studierende einzubinden, wollte man eine niedrigschwellige und offene Atmosphäre schaffen und trotzdem intensiv diskutieren.

Auch deshalb bestand die Auftaktveranstaltung aus studentischen Erfahrungsberichten, die aus einer persönlichen Perspektive an die Themen des Workshops heranführen sollten. Vier StudentInnen der Justus-Liebig-Universität sprachen über ihre Erfahrungen aus Auslandsaufenthalten und -semestern in Ostmittel- und Osteuropa. Dabei ging es insbesondere um Erinnerungen an den Austausch mit Gleichaltrigen in den entsprechenden Ländern, aber auch um Stereotypen und in Deutschland herrschende Bilder, die sich nicht bestätigt hatten. Obwohl die Berichte aus verschiedenen Staaten stammten, konnten die Vortragenden ähnliche Erfahrungen eines aus deutscher Sicht bemerkenswerten Nationalbewusstseins und eines Erstarkens von rechten und populistischen Bewegungen ausmachen.

NORINA JAKOBI (Gießen) berichtete über Gespräche mit jungen, feministisch aktiven Frauen in Kasan, die in ihrem Einsatz gegen das in Russland sehr präsente und doch totgeschwiegene Problem der häuslichen Gewalt und der Femizide erlebt haben, dass der Staat ihrem Versuch der politischen Partizipation gleichgültig bis feindlich begegnet, während sie in Kauf nehmen müssen, nach einer Teilnahme an der Kampagne #ЯнеХотелаУмирать („Ich wollte nicht sterben“) auf der Straße von Männern wiedererkannt und für ihr Engagement als „geisteskrank“ bezeichnet zu werden. In Jakobis Bericht schwang viel von der Frustration mit, die ihre Bekannten ihr geschildert hatten, von denen sie abschließend berichtete, diese beschäftigten sich mit ihren Möglichkeiten der Emigration gen Westen.

Über sein FSJ in Odessa berichtete LUKAS SCHWARZ (Gießen) von einem erhöhten Gewaltpotential der Zivilbevölkerung und einer Kritik an der subjektiv unausgewogenen Verteilung der Exekutive in Bezug auf öffentliche Veranstaltungen in der Ukraine. Zur Veranschaulichung seiner Thesen berichtete er von einer Filmvorführung in Kiew über homosexuelle Protestierende auf dem Maidan, bei der die Polizei vergleichsweise weniger präsent war als bei Mainstream-Veranstaltungen. Auch habe ihm zufolge allein die Tatsache, dass es einen Film über die Mitwirkung Homosexueller bei den Maidan-Protesten gab, bei einigen Individuen so großen Ärger erzeugt, dass diese tätliche Angriffe auf die ZuschauerInnen zu unternehmen versucht hätten.

Die polnische Perspektive wurde von LUKAS POHL (Gießen) und NORINA JAKOBI dargelegt. Einen Schwerpunkt des Berichts bildeten die homophoben/rechten Angriffe auf die Pride Parade in Białystok im Sommer 2019 und die damit zusammenhängenden populistischen Medienberichte. Im Laufe dieses Panels meldeten sich mehrere Zuhörende zu Wort, die den Eindruck bestätigen konnten und zudem eine fehlende Opposition zur regressiven Berichterstattung in den öffentlichen Medien Polens beklagten. Im Zuge dessen wurde die akademische Wissensproduktion an Polens Universitäten, insbesondere der Universität Łódź, thematisiert. Es wurde von unterschiedlichen politischen Ausrichtungen an den Fakultäten berichtet und gleichzeitig kritisiert, dass mit wissenschaftlich wenig fundierten Begriffen von Rechts und Links gearbeitet werde. Negativ hervorgehoben wurde auch die breite Toleranz, die rechten Positionen an den Universitäten eingeräumt werde.

In ihrem Bericht aus Tschechien fokussierte FLAVIA DITTRICH (Gießen) auf den Wahlkampf der Parlaments- und Präsidentenwahl 2017 und die damit zusammenhängende Agitation um die Flüchtlingspolitik. Hervorgehoben wurde die Ähnlichkeit rechter Argumentationen zu deutschen populistischen Parteien, mit dem einzigen Unterschied, dass es in Tschechien eine stärkere antiziganistische Tendenz gebe.

In der Diskussion wie in den Beiträgen vom Podium standen die subjektiven, wahrnehmungsdominierten Perspektiven im Vordergrund, wobei ein reger Austausch unter den Gästen und Studierenden stattfand.

Den zweiten Block gestaltete ein Journalist der polnischen Zeitschrift krytyka polityczna, MICHAŁ SUTOWSKI (Warschau). Der Politikwissenschaftler referierte über die Feind- und Bedrohungsbilder der politischen Landschaft Polens. Anfangs hob er den Unterschied von politischen Gegnern im Wahlkampf zu konstruierten Feinbildern hervor und betonte, dass Feindbilder größtenteils durch die Bemühungen staatlicher Medien entstünden. Dies solle die Wählerschaft mobilisieren und gleichzeitige von Problemen der Regierung ablenken. Als Beispiel nannte Sutowski die Flüchtlingspolitik, ein Paradebeispiel konstruierter Bedrohung. Dann ging er auf mehrere gängige propagandistische Bedrohungsimaginationen wie beispielsweise die Früh-Sexualisierung von Kindern oder die Bedrohung der traditionellen Familie durch die LGBT-Community ein. Als Grund für populistische Feindbilder machte Sutowski den Unmut der polnischen Bevölkerung gegenüber einer scheinbar außerkulturellen Bevormundung aus, während gleichzeitig rechte Parteien diesen Unmut nutzten, um Probleme des polnischen Gesundheitssystems und der wachsenden Vakanzen an polnischen Schulen zu überdecken. Der Referent beklagte, wie schwierig es sei, unter diesen Umständen in der Opposition zu arbeiten, weil man nur versuchen könne, den Diskurs umzulenken, ohne aber die Ursachen der Sündenbockzuweisungen bekämpfen zu können.

In der Diskussion ging es um die Vielfalt der konstruierten Feinbilder, wobei hervorgehoben wurde, dass zwar auf gängige rassistische, sexistische und homophobe Ressentiments eingegangen, aber beinahe komplett auf die Erwähnung antisemitischer Feindbilder verzichtet wurde, obwohl alle Klischees sich in der Definition des Neuen Antisemitismus wiederfänden.

PAVEL HIML (Prag), der ehemalige Parlamentsabgeordnete der Grünen (Strana zelených), gab Einblicke in die tschechische Parteienlandschaft. Mithilfe eines kurzen historischen Überblicks über die Entstehungsgeschichte der Grünen begründete er den unerwarteten Wahlerfolg der Partei bei den Regierungswahlen 2006 weniger mit einem verstärkten Umweltbewusstsein, als vielmehr mit der Sehnsucht nach einer neuen politischen Kraft. Er schilderte insbesondere die Diskrepanz zwischen einer weit verbreiteten Heimat- und Naturromantisierung und einem gleichzeitig fehlenden Interesse für Umweltschutz, nach dem Motto: „Heimat schützen, aber nur vor Flüchtlingen“. Himl erläuterte auch die aktuellen Schwierigkeiten und Kämpfe der Grünen in Tschechien. Neben dem Thema der EU-Kritik betrifft das vor allem die kontrovers diskutierte potenzielle Errichtung einer US-amerikanischen Militärbasis in der Nähe Prags. Außergewöhnlich sei der Zuspruch für Fridays For Future im Land, zumindest, wie auch in westlichen europäischen Ländern, von der jungen Bevölkerung.

Die Diskussion drehte sich um Wählerströme, Fridays For Future und frühere ökologische Bewegungen. Zudem wurde über den Vorwurf diskutiert, den auch Vertreter der Grünen in Deutschland und Österreich kennen, eine „Partei der Besserverdiener“ zu sein. Himl sah vor allem in diesem, ihm zufolge nicht unbegründeten Bedenken der WählerInnen ein Hindernis für einen Erfolg – oder, in Tschechiens Fall: überhaupt einer Relevanz – der Grünen.

Im letzten Panel leitete MARKUS KRZOSKA (Gießen), ausgehend von den jüngsten Publikationen zum Thema Osteuropa post-1989 von Philipp Ther bis Ivan Krastev und einigen eigenen Überlegungen, zu den Abschlussgedanken und dem Fazit des Workshops über. Dabei sprach er sich vor allem dafür aus, trotz aller Kritik keine „Rückständigkeitsparadigmata in Bezug auf Osteuropa zu perpetuieren“.

Anschließend sprachen MONIKA KUCNER und KRYSTYNA RADZISZEWSKA (beide Łódź) über die Auswanderung der jungen Bevölkerung nach 1989, die Hochschulpolitik und damit zusammenhängende Zensuren. Die Professorinnen berichteten dabei insbesondere von Selbstzensuren aufgrund erwarteter Sanktionen unter polnischen AkademikerInnen. Weitere persönliche Beiträge der anwesenden Gäste beinhalteten die bereits am Vortag angesprochene staatliche Feindrhetorik, die sich auch in der Zivilbevölkerung niederschlage und sich im Feindbild der „Deutschen“ vereine. Hans-Jürgen Bömelburg merkte dazu an, dass man zwar die Deutschen kritisiere, aber Europa meine. Außerdem wurde darüber debattiert, ob die Ereignisse von 1989 ihren Zäsurcharakter immer mehr verlören, je weiter man sich zeitlich von ihnen entferne, beziehungsweise ob andere Entwicklungen und Einschnitte retrospektiv im Vergleich an Bedeutung gewännen. Einig wurden sich Lehrende und Studierende letzten Endes darin, dass es im östlichen Europa an einer neuen, zukunftsfähigen Vision fehle.

Die Tagung zeigte, dass vor allem im politischen Diskurs Unsicherheiten der Bevölkerung für populistische Interessen genutzt werden können und ein Erstarken der rechtsextremen Kräfte zu verzeichnen sei. Eine fachfremde Studentin im Bachelor resümierte, die Tagung hätte einen niederschwelligen, aber dennoch vielseitigen Einblick in aktuelle und bereits vergangene Problemfelder gewährt, die sich nach 1989 und der damit zusammenhängenden Entwicklung der Nationalstaaten ergaben. Somit ist es gelungen, auch fachfremden Studierenden einen gewinnbringenden Überblick über das Studium der osteuropäischen Geschichte in Gießen zu vermitteln.

Konferenzübersicht:

Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen): Eröffnung und Ziele des Workshops

Flavia Dittrich, Norina Jakobi, Lukas Pohl, Lukas Schwarz (Gießen): Wahrnehmungen aus studentischer Perspektive

Michal Sutowski (Warschau): Feind- und Bedrohungsbilder statt Politik? Was steht hinter den polnischen Regierungsnarrativen?

Moderation: Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen)

Pavel Himl (Prag): Umwelt ohne Lobby? Das Scheitern der grünen Bewegung am Beispiel Tschechiens

Moderation: Franz Schindler (Gießen)

Markus Krzoska (Gießen), Monika Kucner (Łódź), Krystyna Radziszewska (Łódź): Was bleibt von 1989? Europa im Hass vereint?

Moderation: Lukas Pohl (Gießen)