Judgment und die Dynamiken des Informellen in der Frühe Neuzeit – Diplomatie und Reichsinstitutionen

Judgment und die Dynamiken des Informellen in der Frühe Neuzeit – Diplomatie und Reichsinstitutionen

Organisatoren
Forschungsplattform zur Frühen Neuzeit JUDGMENT, Universität Klagenfurt
Ort
Klagenfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.11.2019 - 22.11.2019
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Von
Elisabeth Lobenwein, Abteilung für Österreichische und Neuere Geschichte, Institut für Geschichte, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt; Eva Ortlieb, Fachbereich Geschichte der Frühen Neuzeit, Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz

Ziel des unter dem Dach der Forschungsplattform „Judgment“1 veranstalteten Workshops war es, so ELISABETH LOBENWEIN (Klagenfurt) und EVA ORTLIEB (Graz) in ihren einleitenden Gedanken, den derzeit in der Frühneuzeitforschung intensiv diskutierten Begriff des Informellen bzw. der Informalität in konkreten diplomatie- und verwaltungsgeschichtlichen Forschungsvorhaben anzuwenden und dabei Leistung und Grenzen der Kategorie auszuloten. Zwar werde Phänomenen, die vor dem Hintergrund des lange die Forschung prägenden Rationalisierungsparadigmas allenfalls als dysfunktional abgewertet werden konnten, inzwischen vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt – von Patronage- und Klientelbeziehungen über Korruption bis zum Aushandeln von Herrschaft. Auch die Erkenntnis der Organisationssoziologie, wonach formale Organisationen ohne eine informelle Seite nicht denkbar sind, sei in der Geschichtswissenschaft inzwischen breit rezipiert worden. Trotzdem könne „Informalität“ noch keineswegs als allgemein anerkannte, theoretisch, methodisch und definitorisch bewältigte Analysekategorie für die Frühe Neuzeit gelten.

Der erste den Reichsinstitutionen Reichshofrat und Reichstag gewidmete Teil des Workshops wurde von Eva Ortlieb eröffnet, die mit dem Itinerarium des Grafen Wolrad von Waldeck über seinen Aufenthalt auf dem Reichstag in Augsburg 1548 ein Selbstzeugnis für die Frage nach der Interaktion zwischen dem Hofrat Kaiser Karls V. und den vor ihm auftretenden Parteien fruchtbar machte. Die „dichte Beschreibung“ der Aktivitäten des sich um seine Aussöhnung mit dem Kaiser bemühenden Waldecker Grafen und seiner Begleiter decke eine Vielzahl von persönlichen Kontakten zwischen der Partei und Mitgliedern des Hofrats, aber auch Dritten auf, die in den Akten des Reichshofrats keinerlei Niederschlag gefunden hätten. Diese Kontakte seien von den Beteiligten weitgehend als soziale Konvention mit großer Selbstverständlichkeit auch an öffentlichen und semi-öffentlichen Orten gepflegt und keineswegs in den Kontext einer Verfahrensbeeinflussung gestellt worden, die auch nicht zwangsläufig stattgefunden habe. Die Kategorie des Informellen schärfe die Aufmerksamkeit für solche verfahrensbegleitenden Vorgänge, deren Funktion im Rahmen zeitgenössischer Verhaltenserwartungen zu analysieren sei, statt sie vorschnell als Beleg für Korruption und mangelnde Verfahrensautonomie zu bewerten.

TOBIAS SCHENK (Göttingen/Wien) wies zunächst darauf hin, dass die Geschichtswissenschaft Gerichte zumeist aus der Perspektive der Parteien betrachte und sich hierzu innovativer rechtssoziologischer Forschungskonzepte bediene („Justiznutzung“, „Infrajustiz“). Institutionengeschichtliche Studien, die das Eigenleben des Gerichts als Behörde und die Handlungslogik einzelner Richter in den Blick nehmen, lägen indes kaum vor, sodass noch weithin unbekannt sei, auf welche Weise Formalität und Informalität als aufeinander bezogene Handlungsebenen den kontingenten Prozess richterlicher Entscheidungsfindung bestimmten. Der Vortrag widmete sich dieser Thematik am Beispiel der Amtsführung der Reichshofratspräsidenten im Zeitraum zwischen 1648 und 1806. Fokussiert wurde dabei auf die Frage, in welchem Maße der Kaiserhof über die formalen Befugnisse des Präsidenten in den Bereichen Geschäftsverteilung, Dienstaufsicht und Sitzungsleitung und die informelle, vor den Parteien geheim gehaltene Einsetzung von Deputationen auf einzelne Prozesse Einfluss nahm. Die Akten der Reichskanzlei erlaubten den Schluss, dass diese Instrumente bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts recht häufig genutzt worden seien, um missliebige Prozesse zu verschleppen und Justiz de facto zu verweigern. Die Interaktion zwischen Kaiser und Reichshofrat habe demnach nicht in spektakulären „Machtsprüchen“ bestanden, sondern sich weitaus diffizilerer Methoden bedient, deren tatsächliche Anwendung in den reichshofrätlichen Prozessakten nicht ohne weiteres ablesbar sei.

FELIX HARTMANN (Nürnberg) ging in seinen Überlegungen von dem Befund aus, dass die Reichstage zu Beginn des 16. Jahrhunderts als formal vom Kaiser abgeschirmte Beratungen der Stände noch eine sehr neue Institution im Heiligen Römischen Reich gewesen seien. Während der äußere Rahmen der Reichstage die Tradition der königlichen Hoftage aus dem Mittelalter fortgesetzt habe, habe sich für die eigentlichen Verhandlungen zwischen den Ständen erst im Laufe der Zeit ein immer stärker verfeinertes Regelsystem entwickelt. Dessen Entstehung sei stark vom sich durch den Konfessionskonflikt verstärkenden Misstrauen der Stände untereinander geprägt worden. Viele Verfahrensregeln hätten daher den Zweck erfüllt, die Distanz zwischen den Beratungsgremien zu wahren. Diese sich noch bildenden Verfahrensregeln hätten immer wieder zu Situationen geführt, in denen informell kommuniziert werden musste. Insgesamt lasse sich aber keine scharfe Grenze zwischen formeller Kommunikation im Rahmen des vorgegebenen Verfahrens und informeller Kommunikation außerhalb des Reichstagsverfahrens ziehen. Dies liege einerseits daran, dass durch die Verfahrensbildung die Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten erst noch eingeschränkt und somit potenziell informelle Kommunikation formalisiert wurde, und sich andererseits auch Versammlungen, die sich bewusst vom üblichen Reichstagsverfahren abgrenzten, in der Form an dessen Gepflogenheiten orientierten.

In dem die beiden Teile des Workshops verklammernden öffentlichen Abendvortrag stellte BIRGIT EMICH (Frankfurt am Main) zunächst theoretische Überlegungen zum Begriff der Informalität an. Obwohl Informalität als Kehrseite von Formalität definiert werde, handle es sich keineswegs um einen formlosen, ungeregelten Bereich. Zudem habe die moderne Organisationssoziologie gezeigt, dass jede formale Organisation auch eine informelle Dimension habe. Das an Niklas Luhmann anknüpfende Konzept der Formalisierung sei in der Lage, die diesen Erkenntnissen nicht gerecht werdende Deutung der Verwaltungsgeschichte als Bürokratisierung und damit Verdrängung des Informellen im Gefolge von Max Weber zugunsten eines Entwicklungsmodells zu überwinden, das sich auf Formalität und Informalität gleichermaßen beziehe. Wie die Formalisierung des Informellen als „Betriebsgeheimnis“ frühneuzeitlicher Verwaltung konkret aussehen konnte, machte Emich am Beispiel der römischen Kurie deutlich. Dort lasse sich nicht nur eine fachliche Ausdifferenzierung in verschiedene Gremien beobachten (formale Ebene), sondern auch die Institutionalisierung informeller Beziehungen (Amt eines „Patronagemanagers“, Patronagebürokratie, Integration klientelärer Logik in das Verwaltungshandeln). Diese doppelte Formalisierung von formalen und informellen Strukturen, so Emich in ihren abschließenden Thesen, sei das Charakteristische der Frühen Neuzeit. Verwaltung sei ohne Berücksichtigung nicht nur des Informellen, sondern auch von Prozessen der Formalisierung und der (dadurch generierten) Informalisierung nicht zu verstehen.

Der zweite, dem Bereich der internationalen Diplomatie gewidmete Abschnitt des Workshops wurde von JULIA GEBKE (Wien) mit ihrem Vortrag zu Strategieplanung und Entscheidungsfindung am Kaiserhof Ende des 16. Jahrhunderts eröffnet. Sie stellte zunächst einen konkreten und ungewöhnlich ausführlich dokumentierten Fall vor, der sich innerhalb weniger Tage im September 1589 am Kaiserhof Rudolfs II. (1552–1612) ereignete. Dieser bat nämlich seinen Geheimen Rat, aber auch seine Mutter, die Kaiserinwitwe Maria von Spanien (1528–1603), um ausführliche Stellungnahmen zu seiner geplanten Heirat. Es ging um nicht weniger als die Zukunft des habsburgischen Kaisertums selbst. Diesen Fall zum Ausgangspunkt nehmend, untersuchte Gebke, wie die Entscheidungsfindung auf formeller und informeller Ebene zusammenliefen und ineinandergriffen: also die interne Beratung des Geheimen Rates auf der einen und die Hinzuziehung der Mutter als externe Expertin auf der anderen Seite. Dabei zeigte sich, dass das vom Rat favorisierte Modell der Gutachtenerstellung mit seinen formellen Vorgaben auch auf die eingeforderte Stellungnahme der Kaiserinwitwe übertragen wurde.

LENA OETZEL (Salzburg) stellte methodische und konzeptionelle Überlegungen zu informellem Handeln als Instrument der Interessendurchsetzung an, und zog dabei als konkretes Beispiel den Westfälischen Friedenskongresses heran. Sie wies darauf hin, dass die bisherige Forschung zum Westfälischen Friedenskongress stark auf die offiziellen Verhandlungsformen fokussiert und die Rolle und Funktion informeller Kommunikation erst in den letzten Jahren vermehrte Berücksichtigung gefunden habe. Aufbauend auf den jüngsten Forschungen zu Korruptionsdiskursen, Diplomatengattinnen, Krankheit und Vergemeinschaftung am Westfälischen Friedenskongress nahm Oetzel das Feld informeller Kommunikation und ihre Bedeutung für die Verhandlungen in den Blick. Dabei schlug sie vier Untersuchungsperspektiven vor, die helfen sollen, informelle Kommunikation aufzuspüren und untermauerte diese mit entsprechenden Beispielen: 1.) informelle Akteur/innen, 2.) Aspekte des Lebenszyklus (Krankheit, Tod, Geburt), 3.) gesellschaftliche Aktivitäten, 4.) Räume des Informellen (Kirchen, Gärten, etc.).

ELISABETH LOBENWEIN (Klagenfurt) schloss den Reigen der Vorträge und untersuchte in ihren Ausführungen die Informationsakquise-Strategien habsburgischer Gesandter an der Hohen Pforte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Am konkreten Beispiel der von Giovanni Battista Casanova in den Jahren 1665 bis 1672 verfassten Gesandtschaftsberichte ging sie der Frage nach, inwieweit hier das Konzept der Formalität / Informalität in Bezug auf die Informationsbeschaffung gewinnbringend angewandt werden kann. Die erfolgreiche Gewinnung von Informationen war/ist eines der bedeutendsten Elemente diplomatischen und politischen Handelns, allerdings habe sich die Forschung bislang mehr für die Inhalte und daraus resultierende politische Konsequenzen und weniger für die Praxis der Informationsakquise interessiert. Die Möglichkeiten der formalen, amtsförmigen Nachrichtenbeschaffung am Außenposten in Konstantinopel waren sehr begrenzt, umso facettenreicher gestalteten sich die Strategien der Informationsgewinnung über informelle sowie kurzfristige Netzwerke, wobei vor allem Dragomanen eine wichtige Rolle zukam. Lobenwein kam zu dem Schluss, dass in dem von ihr untersuchten Beispiel generell eine komplexe Gemengelage formaler und informeller Regeln und Strukturen festzumachen ist, die informellen Formen der Informationsakquise in diesem Gefüge allerdings eine wichtige Komplementärfunktion erfüllten.

In den regen Diskussionen zu den einzelnen Beiträgen und der Abschlussdiskussion kristallisierten sich drei Hauptergebnisse der Veranstaltung heraus. Erstens wurde deutlich, dass sich die Kategorien „Formalität“ und „Informalität“ als durchaus fruchtbar erweisen können, um sehr verschiedene Institutionen und institutionalisierte Kommunikationsprozesse neu zu vermessen. Möglich ist dies zweitens allerdings nur, sofern geeignete Quellen ausfindig gemacht werden können, denen folglich die besondere Aufmerksamkeit der Forschung gelten sollte. Als problematisch erweist sich drittens die definitorische Unbestimmtheit des Begriffs der Informalität. So wurde insbesondere von Birgit Emich die Frage gestellt, ob wirklich alle Kommunikationsprozesse am Rand formaler Verhandlungen und Verwaltungsvollzüge als diese komplementär begleitende Informalität verstanden werden können.

Konferenzübersicht:

„Judgment“ und die Dynamiken des Informellen (in der Frühen Neuzeit) – Diplomatie und Reichsinstitutionen

Donnerstag, 21. November 2019

Elisabeth Lobenwein / Eva Ortlieb (Klagenfurt / Graz): Warum Informalität? – Kurze einleitende Gedanken

Eva Ortlieb (Graz): Informalität im Umgang zwischen Parteien und Gericht. Beobachtungen zum Hofrat Kaiser Karls V.

Tobias Schenk (Wien): Der Reichshofratspräsident als „nachgesetztes Haupt“ des Kaisers. Zur politischen Steuerung kollegialer Entscheidungsfindung in der Frühen Neuzeit

Thomas Felix Hartmann (Nürnberg): Formelle und informelle Kommunikation auf den Reichstagen des 16. Jahrhunderts

Birgit Emich (Frankfurt am Main): Informalität im Wandel. Zur Epochenspezifik eines zeitlosen Phänomens

Freitag, 22. November 2019

Julia Gebke (Wien): Pro- & Contra-Listen als Ausdruck frühneuzeitlicher „bedenken“. Strategieplanung und Entscheidungsfindung am Kaiserhof Ende des 16. Jahrhunderts

Lena Oetzel (Salzburg): Informelles Handeln als Instrument der Interessendurchsetzung. Methodische und konzeptionelle Überlegungen am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses

Elisabeth Lobenwein (Klagenfurt): Formalität und Informalität bei der Informationsakquise habsburgischer Gesandter in Konstantinopel (zweite Hälfte 17. Jahrhundert)

Anmerkung:
1https://www.aau.at/judgment/ (11.02.2020).


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