Un/sichtbares Lager. Dritter Workshop zur Geschichte, Überlieferung und Nachwirkung des Stalag 326 (VI K) Senne

Un/sichtbares Lager. Dritter Workshop zur Geschichte, Überlieferung und Nachwirkung des Stalag 326 (VI K) Senne

Organisatoren
Oliver Nickel / Jens Hecker, Gedenkstätte Stalag 326 (VI K) Senne; Malte Thießen, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte; Burkhard Beyer, Historische Kommission für Westfalen (LWL); Peter Fäßler, Historisches Institut der Universität Paderborn; Andreas Neuwöhner, Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abt. Paderborn; Falk Pingel, „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ e.V.
Ort
Stukenbrock-Senne
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.03.2020 - 04.03.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Florian Steinfals, Historische Kommission für Westfalen, Landschaftsverband Westfalen-Lippe

Nachdem sich die vorangegangenen Workshops zur Geschichte, Überlieferung und Nachwirkung des Stalags 326 (VI K Senne) mit der archivalischen Überlieferung der sowjetischen Kriegsgefangenen und ihrer Repatriierung beschäftigt hatten, nahm die Veranstaltungsreihe nun die sichtbaren und unsichtbaren Überreste des Stalags in den Fokus.

OLIVER NICKEL (Schloß Holte-Stukenbrock) stellte seinen Vortrag unter die Frage „Was steht eigentlich noch?“ und ging unter Verweis auf die unterschiedlichen Nutzungsperioden auf die baulichen Überreste des einstigen Kriegsgefangenenlagers ein. Das ursprüngliche Stalag habe aus fünf abgegrenzten Bereichen bestanden: dem Deutschen Lager für die Wachmannschaften, dem Vorlager für die Wäscherei, das Kriegsgefangenenlazarett und die Aufnahme, dem Hauptlager bestehend aus 51 sogenannten RAD-Baracken, acht Nürnberger Baracken und offenen Abortgruben, dem provisorischen Zeltlager sowie dem Lager für Westalliierte Kriegsgefangene. Die unterschiedliche Wahrnehmung der sowjetischen und westlichen Kriegsgefangenen offenbarte sich dementsprechend in der Unterbringung: Das Lager der Westalliierten war im Vergleich komfortabler und mit Baracken zum Waschen und für die geistige Führung ausgestattet.1 Als das Stalag 1941 nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion in Betrieb genommen wurde, sei der Ausbau allerdings noch nicht vollendet gewesen. Vor allem die späteren Holzbaracken für Kriegsgefangene waren noch nicht errichtet, sodass die ersten sowjetischen Soldaten in selbstgegrabenen Erdhöhlen und provisorischen Laubhütten hätten campieren müssen. Ähnlich wie die Unterbringung habe auch die Ernährung der Gefangenen in der Frühphase des Lagers jeglicher Beschreibung gespottet: Die Kriegsgefangenen mussten sich, laut Nickel, u.a. von Baumrinden ernähren, da die Organisation der Lebensmittel noch nicht angelaufen war. Zunächst hätten Behelfseinrichtungen zur Zubereitung der „Mahlzeiten“ gedient, bis im September 1941 eine Küche gebaut wurde. Zum Jahreswechsel 1941/42 seien schließlich die mobilen Entlausungsstellen aufgegeben und die neu errichtete Entlausungsbaracke in Betrieb genommen worden. Erst 1944 sei das Lager unter Heranziehung der Kriegsgefangenen zum Arbeitseinsatz weitestgehend fertiggestellt worden. Schätzungsweise hätten 300.000 Kriegsgefangene, darunter vor allem sowjetische Soldaten, das von der Wehrmacht geführte Lager durchlaufen, ehe es nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ als Internierungslager für ehemalige Funktionäre der NSDAP und anderer NS-Organisationen genutzt worden sei. Unter dem Namen Eselheide seien etwa 8.500 Personen in Nissenhütten interniert worden. Ab 1948 sei das Gelände vom Sozialwerk genutzt worden. Nickel zufolge offenbarte die vorhandene Infrastruktur aufgrund der vorherigen Nutzung erhebliche Mängel, sodass vor der Unterbringung von Heimatvertriebenen erst tiefgreifende Renovierungsarbeiten stattfinden mussten. Für die Mitte der 1950er-Jahre neu errichteten Gebäude seien allerdings keine Baracken abgerissen, sondern brachliegende Flächen genutzt worden. Dementsprechend habe das Gelände des ehemaligen Stalags eine äußerst heterogene Bebauung aufgewiesen: hölzerne Baracken neben steinernen Funktionsgebäuden und Nissenhütten aus Wellblech neben neuen eingeschossigen Flachbauten aus Faserbeton. Nickel führte weiter aus, dass die Polizei Nordrhein-Westfalens das Gelände 1970 übernahm, alte Gebäude, insbesondere des Stalags und des Sozialwerks, abriss und neue Gebäude errichtete. Die letzten drei Baracken seien schließlich 2010 abgerissen worden. Vom ursprünglichen Kriegsgefangenenlager seien nur noch die Entlausungs- und die Arrestbaracke und die evangelische Kirche im ehemaligen Lager für Westalliierte erhalten. Entsprechend weise das heutige Gelände kaum noch Gemeinsamkeiten mit dem Lager der ersten Nutzungsperiode auf; selbst die einstige Lagerstraße, ehemals eine einfache Sandpiste, sei mittlerweile asphaltiert.

Anschließend führte BARBARA SCHULZ (Berlin) in die Methoden und Erkenntnispotenziale zeithistorischer Bauforschung ein – ein Thema, das insbesondere aufgrund der baulichen Überlieferung und des jetzigen Zustandes des Stalag-Geländes von hoher Bedeutung für die zukünftige Neuausrichtung der Gedenkstätte ist. Die Bauforschung beschäftigt sich mit der Analyse von Gebäuden, um diese als Quelle zu nutzen und unter ihrer Zuhilfenahme Geschichte zu rekonstruieren. Das Konzept ist interdisziplinär: Neben der Geschichtswissenschaft werden auch die Archäologie, die Architektur sowie die Denkmalpflege in die Bauforschung einbezogen. Zu den zu untersuchenden Überlieferungskomplexen zählen aufgehende Bauwerke und Ruinen, Bodendenkmale und Geländemerkmale wie Bodenreliefe, Bewuchsmuster, Anpflanzungen von Alleen sowie Stätten des Opfergedenkens. Überreste wie Luftschutzplatten, Lagerzäune, Deckungsgräben oder Einzelfundamente von Wachtürmen könnten beispielsweise in Kombination mit Zeichnungen von Kriegsgefangenen, Karten oder Bauplänen eine Periodisierung ermöglichen oder Hinweise auf bauliche Veränderungen geben, die in ursprünglichen Bebauungsplänen nicht verzeichnet sind. Grundrissgestalt, Materialität, Ausstattung, farbliche Ausgestaltung, Nutzungsspuren, Inschriften bzw. Beschriftungen oder diverse Fundstücke seien mögliche bauliche Befunde, die Hinweise auf die Gebäudefunktion, den Barackenhersteller, den Standard der Unterbringung und Ähnliches liefern können. Anhand von Inschriften könne zum Beispiel auf die Belegung geschlossen werden. Schulz zeigte auf, dass kleine Waschrinnen angesichts der Größe des Stalags auf einen strikten Plan zum Waschen schließen lassen, da sie nicht gleichzeitig von allen Häftlingen genutzt werden konnten. Beschriftungen von Baumaterial wiederum erlaubten eine Vorstellung vom Baubeginn, und spezifisches Baumaterial ließe sich mithilfe eines zeitgenössischen Katalogs einem bestimmten Hersteller zuordnen. Das Potenzial der Bauforschung wurde schließlich offenbar, als Schulz auf diverse unauffällige Merkmale der verbliebenen Stalag-Gebäude aufmerksam machte und so bisher unbekannte Details nachwies – u.a. die Nutzung einer Zentralheizung in der Arrestbaracke.

SVEN SPIONG (Münster) stellte die ersten Ergebnisse der Ausgrabung aus dem Sommer 2019 vor und referierte über die Eigenschaft des Stalags 326 als Bodendenkmal. Er legte dar, dass erste Ausgrabungen bereits vermuten lassen, das noch zahlreiche Objekte im Boden des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers verborgen liegen, die es zu heben, konservieren und restaurieren gilt, um sie für die Forschung und Erinnerung nutzbar zu machen. Beweise dafür liefere der Fund zahlreicher Schuhe vor wenigen Jahren, die an die Archäologieabteilung des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe übergeben worden seien und sich derzeit in der Konservierung befänden. Das Stalag 326 und seine Funktion während des Zweiten Weltkriegs sei zu keiner Zeit in Vergessenheit geraten, doch anders als bei deutschen Vernichtungslagern, die im besetzten Polen errichtet worden waren, oder großen Konzentrationslagern auf dem ehemaligen Reichsgebiet wie Bergen Belsen, Buchenwald oder Sachsenhausen seien die im Lager begangenen Verbrechen und ihre rechtlichen Konsequenzen nicht bekannt gewesen oder schlichtweg verdrängt worden. Diesem Umstand sei es geschuldet, dass bei der nachträglichen Bebauung der einstigen Anlage mögliche Funde außer Acht gelassen bzw. nachlässig behandelt wurden. Erst 2016 sei ein Antrag gestellt worden, das Gelände zu einem Bodendenkmal erklären zu lassen und so das noch vorhandene Material vor Zerstörung zu schützen. Die Ernennung zum Bodendenkmal 2017 sei ein Meilenstein für die Aufarbeitung der Geschichte des Stalags gewesen. Seitdem seien zwölf Bauprojekte auf dem Gelände archäologisch begleitet worden, wodurch verschiedene Funde haben getätigt werden können. Insbesondere im Hinblick auf den sukzessiven Rückgang der Zeitzeugen und die mangelnde Aussicht, auf neue schriftliche Quellen zu stoßen, wächst die Bedeutung dieser zeitgenössischen Artefakte zusehends, betonte Spiong. Durch Bodenproben haben sich Überlagerungen von Erdschichten nachweisen lassen, die wiederum auf das Alter der darin enthaltenen Funde schließen lassen würden. Zudem werde ersichtlich, in welcher Anzahl und Größe die oben genannten selbstgegrabenen Erdhöhlen im Lager vorkamen. Anhand dieser Parameter könne die Selbstorganisation der Kriegsgefangenen im Stalag analysiert werden: Die jeweilige Größe der Höhlen beispielsweise gebe Hinweise darauf, ob sie von Einzelpersonen oder von kleineren Gruppen gebaut wurden. Im Vergleich mit anderen Ausgrabungsstätten falle auf, dass bisher vor allem Alltagsgegenstände wie Essgeschirr, Töpfe, Eimer und Besteck gefunden wurden. Seltener hingegen seien persönliche Gegenstände, was Spiong damit erklärte, dass den Soldaten Gegenstände dieser Art abgenommen worden waren oder sie diese erst gar nicht mit sich geführt hatten. Umso bedeutender seien Alltagsgegenstände, die mit persönlichen Inschriften wie Namen oder Adressen versehen sind. Manche Gegenstände seien gepunzt (überschrieben) worden, was auf eine mögliche Doppelverwendung hinweise. Gegenstände wie diese würden nicht nur den Alltag im Kriegsgefangenenlager dokumentieren, sondern auch den Menschen und seine Geschichte hervortreten lassen. Solche Objekte sind wertvolle Artefakte für die Erinnerungsarbeit und die Klärung von Einzelschicksalen, die nach wie vor ein großes Bedürfnis der Nachkommen darstellt, wie die zahlreichen Anfragen in der Gedenkstätte belegen.

Einen Ausblick, wie die mediale Ausgestaltung der Neuorganisation der Gedenkstätte aussehen könnte, gab STEPHANIE BILLIP. Sie berichtete über die Erfahrungen der Gedenkstätte Bergen-Belsen, die eine Tablet-App für ihre Besucher bereitstellt, um die historische Topographie des Konzentrationslagers medial erfahrbar zu machen. Die Voraussetzungen der beiden Lager ähneln sich, wodurch die möglichen Potenziale einer solchen App für das Stalag 326 deutlich werden: Beide Gelände weisen hauptsächlich bauliche Überreste der früheren Anlage auf, wobei in Bergen-Belsen offenes Gelände vorherrscht, während im ehemaligen Stalag 326 auch einige neue Gebäude das Bild bestimmen. Billip führte aus, dass beiden Gedenkstätten die Herausforderung gemein ist, das Lager als bauliche Anlage hinsichtlich seiner Größe und Struktur erfahrbar zu machen, obwohl nur wenige Überreste vorhanden sind. Die von BILLIP vorgestellte App verfügt neben einer aktuellen Karte des Geländes über zwei Karten, die das Lager zu verschiedenen Zeitpunkten visualisieren. Darüber hinaus bietet sie 3D-Rekonstruktionen von nicht mehr bestehenden Gebäuden sowie Betrachtungsweisen in Augmented und Virtual Reality. Historische Dokumente wie Texte und Bilder wurden digitalisiert und seien mittels Georeferenzierung an spezifischen Punkten des Geländes auf den Tablets einsehbar. Zudem erlaube die App, Fundstücke digital an ihren Fundort zurückzubringen. Aufnahmen von Zeitzeugeninterviews bieten auch akustische Erfahrungen an. Großes Potenzial biete in diesem Bereich der musealen Aufbereitung die Zusammenarbeit mit anderen ehemaligen Konzentrationslagern. So könnten beispielsweise Einzelbiographien von Häftlingen, die verschiedene Lager durchlebten, nachgezeichnet und Gedenkstätten übergreifend dargestellt werden. Die Erfahrungen mit der App in Bergen-Belsen zeigten deutlich, dass das Interesse der BesucherInnen durch die Nutzung digitaler Medien länger aufrechterhalten werden kann und vertiefende Erkenntnisse gewonnen werden können. Ethische Überlegungen, ob ein solcher Umgang angemessen ist, seien schwierig zu beantworten, so Billip. Die Kontroversen über die Nutzung neuer Medien zur Geschichtsvermittlung mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus und Holocaust haben dies in den letzten Jahren deutlich gezeigt 2 – ein Umstand, der auch bei der Neukonzeption der Gedenkstätte in Schloß Holte-Stukenbrock zu berücksichtigen ist.

Ein Abschlussgespräch zwischen Barbara Schulz und CHRISTIAN SCHWARZ (Schloß Holte-Stukenbrock), moderiert von Malte Thießen (Münster), zeigte noch einmal die Potenziale einer Neukonzeption der Gedenkstätte auf. Schulz sprach sich dafür aus, die baulichen Überreste in ihrer derzeitigen Form zu erhalten, da Rückbau auch immer Rekonstruktion und einen Verlust der Authentizität bedeute. Die Bedeutung der ehemaligen Entlausung wurde von allen herausgestellt; sie soll zukünftig das Kernstück der Gedenkstätte bilden. Thießen gab abschließend einen Ausblick auf die kommenden Workshops der Veranstaltungsreihe. Diese werden sich mit den audio-visuellen Medien als Quellen, der Erinnerungskultur und ‑politik, der Beziehung zwischen Kriegsgefangenen und der deutschen Bevölkerung sowie mit dem System der Stalags und Konzentrationslager beschäftigen.

Der Workshop zu den sichtbaren und unsichtbaren Überresten des Stalags verdeutlichte, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit insbesondere aufgrund des kaum noch sichtbaren baulichen Erbes des Stalags 326 obligatorisch ist, wenn Forschungsdesiderate hinsichtlich des Lagers erfüllt werden sollen und die Arbeit der Gedenkstätte auf eine neue breitere Grundlage gestellt werden soll. Die bestehenden Kooperationen und vorgestellten Zwischenergebnisse sind dahingehend bereits äußerst vielversprechend.

Konferenzübersicht:

Malte Thießen (Münster), Oliver Nickel (Schloß Holte-Stukenbrock): Begrüßung

Sektion 1
Moderation: Andreas Neuwöhner (Paderborn)

Oliver Nickel (Schloß Holte-Stukenbrock): „Was steht eigentlich noch?“ Die baulichen Überreste des Stalag 326 (VI K) Senne

Barbara Schulz (Berlin): Baracken in NS-Zwangslagern. Methoden und Erkenntnispotentiale zeithistorischer Bauforschung

Sektion 2
Moderation: Peter Fäßler (Paderborn)

Sven Spiong (Münster): Stalag 326 als Bodendenkmal: Erste Ergebnisse der Ausgrabung im Sommer 2019

Stephanie Billip (Lohheide): Orientierungshilfe oder Störfaktor? Erfahrungen mit der Tablet-App der Gedenkstätte Bergen-Belsen

Abschlussgespräch
Barbara Schulz (Berlin) und Christian Schwarz (Schloß Holte-Stukenbrock)
Moderation: Malte Thießen (Münster)

Anmerkungen:
1 Siehe zur unterschiedlichen Wahrnehmung der Gegner z.B.: Andreas Jasper, Zweierlei Weltkriege? Kriegserfahrung deutscher Soldaten in Ost und West 1939 bis 1945 (Krieg in der Geschichte, Bd. 66), Paderborn 2011.
2 2019 startete das Projekt „Evas Stories“ auf Instagram. Es wurde von dem israelischen Unternehmer Mati Kochavi initiiert, um die jüngere Generation für das Thema Holocaust und dessen Aufarbeitung zu interessieren. Gegner des Projektes sehen in diesem jedoch eine Trivialisierung des Holocausts. Das Projekt: https://www.instagram.com/eva.stories/ (31.03.2020).