Mediävistik intersektional. Forschungsansätze und -konzepte in interdisziplinärer Annäherung

Mediävistik intersektional. Forschungsansätze und -konzepte in interdisziplinärer Annäherung

Organisatoren
Germanistisches und Historisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.01.2020 - 24.01.2020
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Von
Karolin Künzel, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Die gemeinsame Nachwuchstagung des Germanistischen und Historischen Seminars der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel fand am 23. und 24. Januar 2020 im Internationalen Begegnungszentrum (IBZ) in Kiel statt. Dazu versammelten sich Wissenschaftler/innen, die ihre aktuellen Arbeiten und Projekte präsentierten und zur Diskussion stellten. Die Tagung knüpfte so an die in der Mediävistik jüngst rezipierten Ansätze der Intersektionalitätsforschung an. Ziel war es, Forschungstendenzen der mediävistisch arbeitenden Fachrichtungen interdisziplinär für die Vormoderne weiter zu erschließen: Lassen sich Strukturen und Methoden bereits bestehender Forschungen auf die Mediävistik übertragen oder bedarf es eines ganz eigenen, innovativen Zugangs, mittelalterliche Quellen und Literatur intersektional zu lesen?

Nach dem Grußwort des Forschungsdekans der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ANDREAS BIHRER (Kiel) führte RIKE SZILL (Kiel) in ihrer Einleitung aus, inwieweit intersektionale Ansätze und Kategorisierungen Anwendung in der Mediävistik finden und inwiefern über eine interdisziplinäre Zusammenarbeit Zugänge innerhalb der einzelnen mediävistischen Fachrichtungen gefunden werden können. Die historisch arbeitenden Fächer können so Impulse erhalten, den Intersektionalitätsansatz weiter für sich zu nutzen, verfügen sie doch auch über eigene Instrumentarien wie z.B. aus der Dis/Ability History und der Historischen Ungleichheitsforschung sowie Studien zur Alterität, an welchen sich wiederum die Intersektionalitätsforschung bedienen könne. Im Fokus dieser Zusammenkunft stand also besonders die Frage nach einer funktionalen, erklärenden Ebene durch eine intersektionale Analyse des Materials und nicht nur die bloße Deskription verschiedener Kategorien und durch sie erzeugter Differenzen.

Den Auftakt zur Tagung lieferte JOANA HANSEN (Kiel), die Briefe angelsächsischer Nonnen an Bonifatius untersuchte. Im Rahmen ihrer Bachelorarbeit dekonstruierte sie die Kategorie „Geschlecht“ und zeigte anschaulich, dass andere soziale Kategorien wie „Stand“ und/oder „Bildung“ in diesem Kontext von größerer Relevanz waren. Auch unterstrich sie, dass Kategorisierungen wie z.B. „race“ nicht einfach so auf das Mittelalter übertragbar seien. Sie stellte die These auf, dass in den Briefen als öffentliches Medium durch literarische Topoi Neutralisierungsstrategien in Bezug auf die Kategorie „Geschlecht“ eröffnet würden, die somit, obwohl auf den ersten Blick ausschlaggebend, hinter anderen zurückträten.

Diese „Überlagerung“ der Kategorie „Geschlecht“ im Mittelalter zeigte daraufhin auch JENNIFER HAGEDORN (Braunschweig) anhand der Identitätskonstruktionen in der spätmittelalterlichen Rezeption von Homers Odyssee nach Simon Schaidenreisser. Sie eröffnete diachrone (Antike bis Spätmittelalter) sowie synchrone (lateinisch zu volkssprachlich) Deutungsmuster. Die im Spätmittelalter dominierenden Kategorisierungen seien die der Moral, welcher andere soziale Aspekte der Gesellschaft untergeordnet waren, sowie die des Verstandes, durch welche u.a. Standeswechsel ermöglicht wurden.

STEPHAN BRUHN (London) setzte in seinem Vortrag ebenfalls an der Kategorie „Stand“ an, erweiterte diese um die Kategorie „Religion“ und zeigte auf, dass jene im Mittelalter die modernen Kategorisierungen „class“ und „race“ ersetzten. Er verdeutlichte dies durch Beobachtungen zu jüdischen und christlichen Sklaven sowie Herren in merowingischen Synodalbeschlüssen und formulierte Grenzen und Wechselwirkungen der genannten Kategorien anhand dieser Personenkonstellationen.

CORDELIA HESS (Greifswald) diskutierte daraufhin in ihrem Kommentar unter Bezugnahme auf die vorausgegangenen Vorträge zwei Thesen: 1. Die mediävistische Forschung sei schon immer intersektional gewesen und 2. die mediävistische Forschung könne nie intersektional sein. Einerseits arbeite die Mediävistik mit der allgemeinen Quellenkritik, durch welche schon immer aus verschiedensten Perspektiven Fragen an die jeweilige Quelle gestellt wurden. Anderseits sei das Konzept der Intersektionalität als neuzeitliches, sozio-politisches Phänomen entstanden. Dieser Hintergrund des kollektiven Wissens stünde dem Mittelalter auf Grund des zeitlichen Abstandes sowie der Überlieferungslage der Quellen nicht zur Verfügung: Es fehle der Mediävistik an Radikalität, die die Intersektionalitätsdebatte benötige.

MALINE KOTETZKI (Kiel) griff ebenfalls die Kategorie „Religion“ auf und erläuterte anhand mittelalterlicher Mischwesen wie z.B. den Kranichmenschen oder Meerwesen, wie Exklusionsmechanismen in mediävistischer Literatur funktionierten. Das Verständnis von bspw. Ungleichheit müsse vor einem heilsgeschichtlichen Hintergrund gesehen und historisiert werden. Kotetzki folgte in ihrer Präsentation dem bereits mehrfach formulierten Aufruf zur Erweiterung und Historisierung von Kategorisierungen, hier im Falle der Mischwesen um die Kategorie „Spezies“. Zudem müssten die Kategorien selbst dynamisiert werden, indem sie als Spektrum mit den Polen Diskriminierung und Privilegierung aufgefasst würden.

Wie die modernen Kategorisierungen „race“ und „gender“ in der mittelalterlichen Literatur verschränkt sind und wie unterschiedlich sie gedeutet wurden, präsentierte JONAS HERMANN (Harvard) anhand verschiedener Quellenbeispiele, in welchen „schwarze Mohren“ und „schwarze Königinnen“ auftreten.

In seinem Abendvortrag zeigte ANDREAS KRASS (Berlin) auf, welche Identitätskonstruktionen anhand von Kleidung (Vestimärer Code) im Herzog Ernst gebildet werden und wie diese anhand von Ungleichheitskategorien, z.B. „Dis/Ability“ und „Spezies“, in verschiedenen sozialen Räumen zu werten seien. Auch zeigte er Bezüge hinsichtlich homosozialen Begehrens auf.

Den Freitag eröffnete PATRICK NEHR (Kiel) und erweiterte mit der Einführung der vergleichsweise wenig erwähnten Kategorie „Heiligkeit“ das gesamte Portfolio der auf dieser Tagung diskutierten Kategorien. Nehr erläuterte anhand von ars moriendi-Texten, wie sich soziale Kategorisierungen in (spät)mittelalterlichen Jenseitsvorstellungen auflösen und verschieben. Auf diachroner Ebene habe sich der Diskurs vom geistlichen Milieu ins gesamtgesellschaftliche verlagert. Auf synchroner Ebene habe sich ein Dualismus der Kategorisierungen eröffnet, welche der „Religion“ als Masterkategorie in ihrer Bewertung unterworfen seien.

Dass die Kategorien zwingend historisiert werden müssten, stellte auch FLORIAN KÜHNEL (Göttingen) in seinem Kommentar heraus. Die intersektionale Perspektive biete viel Potential, dennoch müsse der Konstruktionscharakter der Kategorien in Frage gestellt, abgewandelt und anhand des entsprechenden Materials stets dynamisiert werden, um mittelalterliche Quellen intersektional analysieren zu können. Dabei zielte er insbesondere auf die Kategorie „race“ ab, welche im Mittelalter besser durch „Spezies“ ersetzt werden sollte.

MARIE-LUISE MUSIOL (Paderborn) verknüpfte in einer intersektionalen Betrachtung des Minneromans Flore und Blanscheflur Körperinszenierung mit Identitätskonzepten. Dabei zeigte sie schlüssig auf, wie die Funktionalisierung und Bedeutung von Personen, Gegenständen und Räumen der ständigen (De)Konstruktion im Rahmen von sich bedingenden Kategorisierungen unterworfen seien.

„Embodiment“ als Kategorie von „Körper“ war Teil des Beitrags von ELENA BRANDENBURG (Köln): Dieser beschäftigte sich mit Männlichkeitsentwürfen in der altnorwegischen Flóres saga ok Blankiflúr. Der Körper diene als Projektionsfläche und könne überschrieben und neu besetzt werden. Die Eigenschaften von Männlichkeit seien nicht genderspezifisch, sondern unterlägen der jeweiligen vom Kontext abhängigen Verschränkung anderer sozialer Kategorisierungen und Handlungen, wie z.B. „Stand“ und dem Akt der Heirat.

In ihrem Kommentar betonte auch JULIA WEITBRECHT (Kiel), dass die Kategorien stark von ihrem jeweiligen historischen Kontext abhängen würden und ständig überprüft werden müsse, welche Kategorien wie belastbar seien. Dazu unterstrich sie die Relevanz einer interdisziplinären Zusammenarbeit, die sich unabhängig von einer konservativen oder progressiven Herangehensweise gestalte.

In ihrer Zusammenfassung hob KRISTIN SKOTTKI (Bayreuth) zentrale Aspekte des Tagungsgeschehen hervor: Welche Mittelalterbilder will die künftige Forschung produzieren? Dabei müssten bestimmte Kategorisierungen wie die klassische Trias „race“, „class“ und „gender“ für das Mittelalter nicht nur historisiert, sondern ausdifferenziert werden. Als besonders lohnenswert erscheine hier eine Erweiterung um die Kategorie „Religion“. Diese solle streng genommen nicht als Religion per se betrachtet werden, sondern sich vielmehr im Verhältnis der Gesellschaft zu Gott widerspiegeln. "Doing intersectionalities" - die Frage des "Wie" eröffnet neue Lesarten auf bereits Bekanntes und Einblicke in die Vorstellungswelten mittelalterlicher Gesellschaften.

Die interdisziplinäre Kieler Nachwuchstagung hat also gezeigt, dass es neuer methodischer Ansätze wie der mediävistischen Intersektionalitätsanalyse bedarf, um festzustellen, inwieweit altbekannte Mittelalterbilder sowie stereotype Mittelalterrezeptionen durch eine intersektionale Analyse weiter dekonstruiert und neue Perspektiven geschaffen werden können.

Konferenzübersicht:

Donnerstag, 23. Januar 2020

Andreas Bihrer (Kiel): Grußwort

Rike Szill (Kiel): Einführung

Sebastian Schlund (Kiel): Moderation

Joana Hansen (Kiel): Bildung, Herkunft und Funktion: ein intersektionaler Zugang zu den Briefen angelsächsischer Nonnen?

Jennifer Hagedorn (Braunschweig): „als wer in so langer zeit kain aenderung nie geschehen?“ Intersektionale Identitäten in Schaidenreissers Odyssee-Übersetzung

Stephan Bruhn (London): Verschränkte Hierarchien. Überlegungen zu einer intersektionalen Kategorienbildung für die Frühmittelalterforschung anhand merowingischer Synodalbeschlüsse (ca. 511-680)

Cordelia Heß (Greifswald): Kommentar

Maline Kotetzki (Kiel): Werkstattbericht: Untersuchung hybrider Wesen und Figuren mit animalischen Zügen der Literatur des Mittelalters im Lichte der Intersektionalität

Jonas Hermann (Harvard): „hellemôr und edle moerinne.“ Zum Fortleben biblischer und patristischer Intersektionen von Race und Gender in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters

Gabriele Lingelbach (Kiel): Moderation

Andreas Kraß (Berlin): Durchkreuzte Länder. ‚Herzog Ernst‘ in intersektionaler Perspektive

Freitag, 24. Januar 2020

Margit Dahm-Kruse (Kiel): Moderation

Patrick Nehr (Kiel): "Die Kunst, gut zu sterben - für alle? Intersektionalität und Eschatologie am Beispiel des Speculum bene artis moriendi".

Florian Kühnel (Göttingen): Kommentar

Marie-Luise Musiol (Paderborn): Queering Intersections. Begehren und Dynamisierung im Minne- und Âventiureroman

Elena Brandenburg (Köln): Narrative Männlichkeitsentwürfe in der altnordischen Literatur im Lichte der Intersektionalität

Julia Weitbrecht (Kiel): Kommentar

Kristin Skottki (Bayreuth): Zusammenfassung


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