Evakuation – Rückzug – Liquidierung. Praktiken der Verschiebung und Auflösung von Staaten im 20. Jahrhundert

Evakuation – Rückzug – Liquidierung. Praktiken der Verschiebung und Auflösung von Staaten im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Felix Ackermann, Deutsches Historisches Institut Warschau; Janine Fubel, Humboldt-Universität zu Berlin; Claudia Weber, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder
Ort
Frankfurt (Oder) / Słubice
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.01.2020 - 31.01.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Christoph Gollasch, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Zum 75. Mal jährt sich in diesen Monaten die alliierte Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft und Vernichtung. Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten wird folglich an ihren unterschiedlichen Standorten die jeweiligen lokalen „Bruchstücke“ in den Blick nehmen, um diese später in einer gemeinsamen Ausstellung zu bündeln.1 Denn insbesondere die nationalsozialistische Endphase ist noch längst nicht ausgeforscht. Angesichts der heranrückenden Alliierten verschoben sich geographische wie soziale Räume, Zeit gerann zu einer immer knapperen Ressource, Gewaltdynamiken wurden in Gang gesetzt und die nationalsozialistische Ideologie verflüchtigte sich einen- und verhärtete sich anderenorts. Diese inkohärente Endphase des Nationalsozialismus bildete den Fluchtpunkt des Workshops, der das Ziel verfolgte, „Praktiken der Auflösung von Staatlichkeit in Kriegs- und Gewaltsituationen vergleichend zu diskutieren“.2 Ort des Workshops war Frankfurt an der Oder/Słubice, welchen die Veranstalter/innen mit großer Umsicht wählten.

Nicht allein auf die Auflösung des Nationalsozialismus abzielend, öffnete der Workshop eine diachron-vergleichende Perspektive. Schließlich sollte das Verhältnis von Raum, Zeit und Wissen in unterschiedlichen Prozessen der Auflösung von Staaten in den Blick genommen werden. Gefragt wurde danach, welche Rolle das Wissen über Dynamiken von Kriegsschauplätzen, über genaue Frontverläufe oder über die sich verändernden territorialen Herrschaftsräume für Entscheidungen – etwa über den Verbleib von Unterlagen, Gütern und Personen – spielte und welchen Einfluss die jeweilige Ideologie des bedrohten Staates auf institutionelles Handeln hatte.

Ein Blick zurück in die Endphase des Ersten Weltkriegs bzw. in die Zwischenkriegsphase sollte dem historischen Vergleich eine Grundierung geben. THOMAS RETTIG (Dresden) widmete sich zunächst der Auflösung von Staatlichkeiten in den baltischen Provinzen während und nach dem Ersten Weltkrieg. Als Muster des Verfalls staatlicher Ordnung stellte Rettig insbesondere das präventive Gewalthandeln der unterschiedlichen Akteure heraus. Diese hätten wegen der Inexistenz eines staatlichen Gewaltmonopols in dem Glauben gehandelt, dass ihre Sicherheit nur durch präventive Gewalt habe abgesichert werden können. Als Beispiel für einen „Gewaltraum sondergleichen“ nannte Rettig das Kurland südwestlich des Flusses Düna. Aus diesem zog sich die Rote Armee im Frühjahr 1915 zurück, sodass zunächst deutsche Truppen das Territorium besetzten, ehe diesen im Winter 1918/1919 die Rote Armee folgte und ihrerseits die Macht übernahm. Ihrem Terror, unter anderem gegen die deutschbaltischen Großgrundbesitzer, folgte jener der Baltischen Landeswehr samt reichsdeutscher Formationen. Diese wiederum waren konfrontiert mit lokalen Banden und bolschewistischen Rebell/innen, sodass sie das Gebiet mit „weißem Terror“ überzogen, welcher den vorangegangenen roten noch übertraf. So habe jeder Zivilist, vor allem jeder lettische, als potentieller Bolschewik gegolten, was zu standrechtlichen Erschießungen von tausenden Zivilist/innen geführt habe.

Auch im Vortrag von ELISABETH HAID (Wien) nahmen die Zivilist/innen zwischen den Fronten eine besondere Rolle ein. Ungefähr 20.000 wurden im Lager Thalerhof bei Graz interniert, als sich im Zuge des Ersten Weltkriegs die Grenzen verschoben. Bereits zur Jahrhundertwende hatte das galizische Kronland den Habsburger Behörden als Unruheherd gegolten. Vor dem Hintergrund religiöser und ethnischer Vielfalt äußerten sich soziale Konflikte immer stärker als nationale Auseinandersetzungen. Nach Gebietsgewinnen der Roten Armee internierten staatliche Akteure der Habsburger-Monarchie massenhaft Bewohner/innen – getrieben von der Vorstellung, diese seien russophile Spione. Tausende starben an Hunger und Krankheiten, einige auch an den Übergriffen der Wachmänner. Jedoch begriff Haid das Lager als Ausdruck der „Militärdiktatur“ der ersten Kriegsjahre und somit, im Kontrast zu Rettig, nicht als Folge zerfallender Staatlichkeit.

FELIX ACKERMANN (Warschau) wagte sich an ein – zumindest im polnischen Kontext – heikles Thema. Im Zuge des deutschen Angriffs auf Polen ließ der Direktor der Schweren Strafanstalt Św. Krzyż am 4. September 87 Spione, vorwiegend polnische Staatsangehörige, erschießen. Anders als bei Rettig und Haid erscheint die Tötung jedoch beinahe rational, handelte es sich bei den Gefangenen doch um Mitarbeiter der Gestapo, die schon vor dem 1. September 1939 auf polnischem Gebiet konspirativ tätig waren. Auch fehlten die personellen Ressourcen, alle Gefangenen kontrolliert zu evakuieren. Vor dem Hintergrund der konkreten Bedingungen für die Evakuation betonte Ackermann den individuellen Lebensweg und den Handlungsspielraum des Gefängnisdirektors. Die Historisierung von dessen Entschluss führe gerade dazu, den Staat nicht als „Powercontainer“, sondern als menschliche Praxis zu begreifen.

Da die Erschießung der deutschen Gefangenen im Zuge des deutschen Überfalls auf Polen erfolgte, hätte man Ackermanns Fallbeispiel auch in den Kontext zerfallender Staatlichkeit stellen können. Andererseits fokussierten sich JOHANNES SPOHR (Hamburg) und MARTIN ZÜCKERT (München) auf Beispiele zerfallender nationalsozialistischer Staatlichkeit, genauer: des Besatzungsregimes in der Ukraine und in der Slowakei. Wobei man vielleicht von Regimen im Plural sprechen müsste, wie aus einem Vergleich der beiden Vorträge hervorgeht. Beide Referenten entsprachen Tatjana Tönsmeyers Forderung nach einer dichten Beschreibung, die sich von der Kategorie des „bystanders“ löst und die Handlungsspielräume multiperspektivisch ergründet.3 So betonte Spohr, dass bereits kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht Ordnungsdienste aufgestellt wurden, die sich aus der lokalen Bevölkerung speisten. Andere Teile der Bevölkerung schlossen sich wiederum den Partisan/innen an und manche changierten sogar zwischen Kollaboration und Widerstand, was zu einer „Polarisierung bei größtmöglicher (räumlicher) Nähe“ geführt habe.

Für den Generalbezirk Shitomir beschrieb Spohr eine opportune Praxis der lokalen Bewohner/innen, aber auch der Ordnungsdienste. Zückert hingegen unterstrich die Bedeutung der nationalsozialistischen Ideologie. Als sich die Rote Armee im Herbst 1944 der Slowakei näherte, organisierte die Volksdeutsche Mittelstelle die „Rückführung“ von einer halben Million sogenannter Volksdeutscher, darunter 100.000 aus der Slowakei. Im nationalsozialistischen Jargon habe dies geheißen: „Blut geht vor Boden.“ Die Volksdeutsche Mittelstelle scheute keinen Aufwand, die „Deutschstämmigen“ abermals zu überprüfen, um sie von den Slowak/innen akribisch zu scheiden. Dabei überlagerte sich diese „Rückführung“ mit dem Rückzugsverhalten der Wehrmacht und den Evakuationsplänen des slowakischen Staates. Dies führte auch zu einer zweiten Phase der antisemitischen Verfolgung, nachdem die jüdische Bevölkerung bereits 1942 von slowakischen Stellen in die deutschen Vernichtungslager deportiert worden war. Wie Zückert eindrucksvoll darlegte, waren für die genannten Maßnahmen nicht Handlungszwänge, sondern die ideologischen Motive der deutschen Behörden ausschlaggebend.

Das Fallbeispiel Slowakei – insbesondere die Konkurrenz zwischen dem Volksgruppenleiter in der Slowakei und der Volksmittelstelle in Berlin – verwies bereits auf die Bedeutung von einzelnen Akteuren. Mit der Wehrmacht und der Gestapo nahmen CHRISTIAN STEIN (Freiburg) und MARKUS GÜNNEWIG (Dortmund) zwei Organisationen in den Blick, deren Überschneidungen in der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung erst einmal gegen alle gesellschaftlichen und politischen Widerstände thematisiert werden mussten. Nun, so der Eindruck, könne zwischen beiden wieder stärker differenziert werden.

Während Günnewig klarstellte, dass Gewalt der Gestapo als zentrales Mittel für Sicherheit und Ordnung diente, verwies Stein auf die strategische Dimension militärischer Kriegsführung. Zu deren Repertoire gehörten auch strategische Rückzüge und bewusste Verzichte auf absolute Gewalt. Ab dem Sommer 1943 hätten sich die Vertreter einer strategischen Kriegsführung innerhalb der deutschen Generalität jedoch immer weniger durchzusetzen vermocht. Hitlers kategorisches Verbot freiwilliger Rückzüge spielte hierfür eine wichtige Rolle. Militärische Pläne, die einen Rückzug auf kürzere Frontabschnitte vorsahen, kamen nicht mehr zur Anwendung. Stattdessen habe die Wehrmacht zunehmend die operative Kontrolle bei Rückzügen verloren, womit sich die Zwangsevakuierungen hinter der Front mit der deutschen Hungerpolitik, dem Partisanenkampf und der massenhaften Verschleppung von Zwangsarbeiter/innen zu einer tödlichen Mischung – insbesondere für „unnütze Esser“ – verbanden.

Anhand der Gestapo verwies Günnewig stärker als Stein auf die historischen Kontinuitäten. Bereits die Reichstagsbrandverordnung habe eine entgrenzte Polizeipraxis ermöglicht. Mit Kriegsbeginn sei zwischen politischer Aktivität und klassischer Kriminalität nicht mehr unterschieden worden. Und in der Kriegsendphase seien schließlich „Sonderbehandlungen“ – also Exekutionen unter Ausschluss der Justiz – als staatspolizeiliches Instrument zur Sicherung der „Heimatfront“ erfolgt. Insbesondere mit der Verstetigung des Ausnahmezustands, als deutsche Städte bombardiert wurden und der alliierte Vormarsch sich beschleunigte, erhielten die Höheren SS- und Polizeiführer mehr Kompetenzen. Sie sollten nun selbstständig über „Sonderbehandlungen“ entscheiden, wurden aber gleichzeitig dazu angehalten, „todeswürdige Verbrechen“ – insbesondere unter „Ostarbeitern“ – weit auszulegen.

Teil der ausgeweiteten Macht der SS war es, auch über „Evakuierungsmaßnahmen“ für Zuchthäuser zu entscheiden. In Sonnenburg führte dies zu einem der schlimmsten „Endphasenverbrechen“. In der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1945 erschoss ein SS-Kommando aus Frankfurt (Oder) 819 Häftlinge. Mit Verweis auf Sven Keller bewertete DANIEL QUEISER (Berlin) das Verbrechen als Schlusspunkt einer Praxis und Ideologie, die die nationalsozialistische Polizei zuvor in West- und Osteuropa „erprobt“ hatte. Das Massaker von Sonnenburg könne daher nicht als Ausdruck eines chaotischen Zusammenbruchs, sondern müsse als geplante, straff organisierte und akribisch durchgeführte Vernichtungsaktion begriffen werden. Der Generalstaatsanwalt Hanssen orchestrierte das Verbrechen, das das SS-Kommando, Oberstummbannführer Richter, Kriminalkommissar Nickel, der Direktor des Zuchthauses und dessen Personal arbeitsteilig begingen.

Die herausragende Bedeutung Sonnenburgs rührt auch daher, dass keine offiziellen Richtlinien zu Evakuierungen von Zuchthäusern bekannt sind, welche vor dem Massaker datieren. „Sonnenburg“ entwickelte sich so zur Chiffre, wie JANINE FUBEL (Berlin) für das KZ Sachsenhausen herausstellte. Denn am 2. Februar habe der dortige Kommandant, Anton Kaindl, mit ebenjenem Codewort den Räumungsbefehl gegeben. Den Verlauf bis zur Räumung teilte Fubel in drei zeitliche Phasen ein, welche mit dem konkreten Raumabstand zur Frontlinie in Verbindung gestanden hätten. Ab Januar 1945 arbeitete der Kommandanturstab auf Weisung des RSHA und WVHA Räumungsszenarien aus. Einen Monat später erfolgten bereits Selektionen und Massentötungen von „arbeitsunfähigen“ und „politisch gefährlichen“ Gefangenen. Und ab Mitte April folgten schließlich die Gewaltmärsche, in denen sich nun die veränderten Wachmannschaften, Angehörige des sogenannten Volkssturms, der Polizei oder auch Parteifunktionäre mit Tötungen hervortaten.

Im letzten Vortrag bezeichnete MARTIN WINTER (Leipzig) die Todesmärsche entsprechend als „Gesellschaftsverbrechen“. Zur Untermauerung der Bezeichnung verwies Winter auf das Dorf Herzsprung, zwischen Wittstock und Neuruppin gelegen. Anhand von DDR-Prozessakten aus den 1950er-Jahren rekonstruierte er, wie eine Einwohnerin des Dorfes vier geflohene KZ-Häftlinge in ihrem Schuppen entdeckte und daraufhin den NSDAP-Ortgruppenleiter informierte. Dieser erschoss die Häftlinge, wobei ihm zwei Wachmänner halfen, welche sich zuvor ebenfalls vom Todesmarsch abgesetzt hatten – denn mit lebenden Gefangenen habe man „nur Scherereien“. Nicht nur die Tätergruppe sei dabei heterogen gewesen. Das Dorf habe als „Öffentlichkeit“ gedient, seine Funktionsträger hätten sich schon vor der Ankunft des Marsches um die Logistik gekümmert, am Ende schließlich um die Beseitigung der Leichen. Dabei hätten auch einzelne Anwohner/innen den Häftlingen geholfen. Doch selbst die nahende Front brachte das nationalsozialistische Menschenbild nicht ins Wanken: Geholfen wurde insbesondere deutsche Gefangenen. Insofern, so Winter, sei Herzsprung Einzelfall und typisches Beispiel zugleich.

Nach einem Tag des wissenschaftlichen Inputs wateten die Organisator/innen am zweiten Tag mit einer besonderen Planung auf. Die Teilnehmer/innen tauschten den Seminarraum gegen das „Feld“. Auf der polnischen Seite der Oder, in Świecko, liegt das ehemalige „Arbeitserziehungslager Oderblick“. Wenngleich die historischen Fundamente der Baracken noch vorhanden sind, sei das ehemalige Lagergelände und seine Geschichte nur wenig erschlossen, referierte MATTHIAS DIEFENBACH (Frankfurt/Oder) vor Ort.4 Dabei bestand das Lager von Oktober 1940 bis Januar 1945 und war ein Ort der inhumanen Zwangsarbeit – insbesondere zum Bau der Autobahn – für 10.000 Häftlinge, von denen etwa 1.000 getötet wurden. Die Überformung und Unfertigkeit des Geländes spiegeln heute die Erinnerungszeichen. Neben einem staatlich-antifaschistischen Monument aus dem Jahr 1977 finden sich eine christlich konnotierte Tafel, die das offizielle polnische Gedenken der Gegenwart markiert, aber auch Mahnmale, die von Aktivist/innen platziert wurden, so zum Beispiel ein Stein der VVN-BdA, welcher sich gegen die neonazistischen Aufmärsche in Frankfurt (Oder) richtet.

Dass nicht nur die Erinnerungs-, sondern auch die kriminologische Arbeit noch nicht an ihr Ende gelangt ist, bewies ADAM KACZMAREK (Poznań) vom polnischen Institut für nationales Gedenken (IPN). Er führte die Teilnehmer/innen auf eine Freifläche im nahegelegenen Dorf, wo das IPN erst im Dezember vergangenen Jahres die Überreste von 21 Menschen freigelegt hatte. Basierend auf Zeitzeugenberichten, die polnische Staatsanwälte in den 1970er-Jahren gesammelt hatten, suchen Kaczmarek und sein Team heute nach den verscharrten Toten des Lagers.

Im Anschluss reisten die Teilnehmer/innen nach Słońsk, dem besagten Ort des Massakers im Zuchthaus Sonnenburg. HANS COPPI (Berlin), Präsident der Berliner VVN-BdA, sollte zunächst einen Einblick in die Entstehung der neuen Dauerausstellung geben, ehe die offiziellen Gedenkfeierlichkeiten zum Jahrestag des Massakers beginnen würden. Denn zusammen mit anderen Aktivist/innen und Zeitzeug/innen hatte Coppi vor fünf Jahren den Großteil der Wandtafeln konzipiert. In der Gedenkstätte Słońsk angekommen, offenbarte sich den Workshop-Teilnehmer/innen eine tragische Absurdität, die in gewisser Weise exemplarisch die europäische Geschichtspolitik abbildete. Auf Nachfrage nahm sich eine Delegation deutscher Diplomaten, welche anlässlich der Einweihung der Sonderausstellung „Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im NS-Staat“5 vor Ort waren, erheblich Raum für einen Monolog. Im Anschluss sah das inoffizielle Protokoll vor, dass die Gedenkstättenleiterin Dominika Piotrowska-Kuipers einige Worte sprechen sollte. Zwei polnischen Soldaten – dem Militär kommt bei den jährlichen Gedenkfeierlichkeiten die Hauptrolle zu – fertigten währenddessen heimlich Fotos und Videos von ihr an, welche sie anschließend inklusive Smileys über ihre Smartphones in Chats teilten. Für den Zeitzeugen und Aktivisten Coppi blieb da kaum noch Zeit. Schließlich stand als nächstes die offizielle Gedenkzeremonie an, die mit militärischem Drill und ohrenbetäubenden Salven ihren Abschluss fand, nachdem offizielle Würdenträger eineinhalb Stunden lang Worthülsen abgefeuert hatten. Als endlich die beiden lateinamerikanischen Austauschschüler/innen des Bernhardinums Fürstenwalde zusammen mit ihrem Klassenverband Gedenkzeichen ablegten, waren die meisten Anwesenden bereits gegangen. Nur Hans Coppi befand sich noch in Verhandlung mit der Gedenkstättenleiterin. Denn diese hatte es in fünf Jahren nicht geschafft, jener Ausstellungs-Vitrine, in der die Literatur zu Sonnenburg präsentiert wird, die deutsch- und polnischsprachige Publikation des VVN-BdA hinzuzufügen.6

So ernüchternd für viele Teilnehmer/innen die offiziös-militaristische Erinnerung in Słońsk erschien, warf sie doch wertvolle Themen auf. Neben der Diskrepanz zwischen zivilgesellschaftlicher und staatlicher Erinnerung wurden auch Fragen zu Chancen und Grenzen interkultureller politisch-historischer Bildungsarbeit aufgeworfen. Am ersten Tag des Workshops hatten wir Akademiker/innen uns noch auf historische Fakten, Begriffsdiskussionen und geschichtswissenschaftliche Konzepte kaprizieren können. Dank des zweiten Tags musste sich die akademische Diskussion mit der Gegenwart ins Verhältnis setzen. Bereits Tag eins war dabei ein intellektuell anregender Austausch, wenngleich die Einführung so manch „neuer“ Kategorie, zum Beispiel Raum, nicht gänzlich überzeugen konnte. Tag zwei – und somit auch der Mut und das Engagement der Organisator/innen – machte den Workshop letztlich zu einer herausragenden Erfahrung.

Konferenzübersicht:

Konrad Tschäpe (Frankfurt/Oder): Gedenk- und Dokumentationsstätte „Opfer politischer Gewaltherrschaft“. Ein Gefängnis als Infrastruktur staatlicher Gewaltausübung? Eine Einführung in die Geschichte des Tagungsortes

Panel 1: Modi des staatlichen Umgangs mit Gefangenen
Moderation: Claudia Weber (Frankfurt/Oder)
Kommentar: Werner Benecke (Frankfurt/Oder)

Thomas Rettig (Dresden): Auflösungen von Staatlichkeiten in den baltischen Provinzen während und nach dem Ersten Weltkrieg

Elisabeth Haid (Wien / Budapest): Rückzug, Staatlichkeit und der Umgang mit Internierten in Ostgalizien während des Ersten Weltkriegs

Felix Ackermann (Warschau): Kontext Kielce. die Erschießung von 87 zu Landesverrat verurteilten Insassen des Gefängnisses Święty Krzyż im September 1939

Panel 2: Besatzungsregime und der Zerfall von Staatlichkeit
Kommentar: Markus Nesselrodt (Frankfurt/Oder)
Moderation: Felix Ackermann (Warschau)

Johannes Spohr (Hamburg): Die Ukraine 1943/44. Staatlichkeit im Rückzug?

Martin Zückert (München): Doppelte Evakuierung. Gebietsräumung, Kriegsführung und Verfolgung in der Slowakei 1944/45

Panel 3: Akteure der Rückzugsverbrechen
Kommentar: Claudia Weber (Frankfurt/Oder)
Moderation: Janine Fubel (Berlin)

Christian Stein (Freiburg): Die Rückzüge der Wehrmacht 1941–1945

Markus Günnewig (Dortmund): „Die Betreffenden sind zu vernichten“ – Gestapo-Verbrechen in der Endphase des Zweiten Weltkriegs

Panel 4: Die Verschiebung staatlicher Praktiken und das Kriegsende im NS-Gau Mark Brandenburg
Kommentar: Konrad Tschäpe (Frankfurt/Oder)
Moderation: Claudia Weber (Frankfurt/Oder)

Daniel Queiser (Berlin): Das Massaker. Die gewaltsame Räumung des Zuchthauses Sonnenburg in der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945

Janine Fubel (Berlin): Chronik einer Räumung. Die Endphase des Konzentrationslagerkomplexes Sachsenhausen 1945

Martin Winter (Leipzig): Todesmärsche als Gesellschaftsverbrechen. Ein Beispiel aus Brandenburg

Exkursion nach Świecko und Słońsk

Matthias Diefenbach (Frankfurt/Oder): Das Arbeitserziehungslagers „Oderblick“ in Schwetig/Świecko

Adam Kaczmarek (Poznań): Die Ausgrabungsarbeiten des Instituts für nationales Gedenken auf dem eingeebneten Friedhof von Schwetig

Hans Coppi (Berlin): Einführung in das Museum des Märtyrertums, Słońsk/Muzeum Martyrologii w słońsku

Anmerkungen:
1http://www.stiftung-bg.de/1945/ (15.04.2020).
2https://www.hsozkult.de/event/id/termine-41424 (11.02.2020).
3 Vgl. Tatjana Tönsmeyer, Besatzungsgesellschaften. Begriffliche und konzeptionelle Überlegungen zur Erfahrungsgeschichte des Alltags unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 18.12.2015, http://docupedia.de/zg/Besatzungsgesellschaften?oldid=125790 (11.02.2020).
4 Vgl. Matthias Diefenbach / Michał Maćkowiak (Hrsg.), Zwangsarbeit und Autobahn zwischen Frankfurt (Oder) und Poznań 1940–1945, Frankfurt (Oder) 2017.
5 Vgl. https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/ordnung-und-vernichtung/ (03.05.2020).
6 Vgl. Hans Coppi / Kamil Majchrzak (Hrsg.), Das Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg, Berlin 2015; dies., Obóz koncentracyjny i ciężkie więzienie karne Sonnenburg, Berlin 2015.