Digital History Meetup

Digital History Meetup

Organisatoren
Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte Johannes Rau, Minsk; Geschichtswerkstatt Leonid Levin, Minsk; Brest Fortress Foundation; Stiftung Holocaust, Moskau; Ukrainian Oral History Association, Kharkiv
Ort
Minsk
Land
Belarus
Vom - Bis
13.03.2020 - 14.03.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Svetlana Burmistr, Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin

TeilnehmerInnen aus Belarus, der Ukraine und Russland kamen in Minsk zusammen, um sich über Perspektiven und Projekte an der Schnittstelle zwischen Digital History und Public History auszutauschen.

Im Eröffnungsvortrag bot ALEKSEY BRATOCHKIN (Minsk) einen Überblick über die Entwicklung der digitalen Geschichte in Belarus und skizzierte verschiedene staatliche und zivilgesellschaftliche Projekte. Dank digitaler Praktiken entstehen Möglichkeiten, neben nationalen Narrativen auch alternative Narrative zu vermitteln. Es fehle jedoch noch am Verständnis für das Potenzial von Digital Humanities und an der Vermittlung der Methoden des interdisziplinären Arbeitens im klassischen Bildungssystem.

BOHDAN SHUMYLOVYCH (Lwiw) wies auf die oft fehlenden visuellen Kompetenzen vieler HistorikerInnen hin. Das Archiv sammelt und digitalisiert Videoaufnahmen und rettet sie vor dem physischen Zerfall des Trägers. Zugleich will das Archiv HistorikerInnen oder auch KünstlerInnen dazu motivieren, mit dem Archiv zu arbeiten und Inhalte, Bedeutungen und Kontexte der verschiedenen Videos – ob private Aufnahmen oder sowjetisches Staatsfernsehen – als einen Teil der Kulturgeschichte zu begreifen.

YASIA KOROLEVICH-KARTEL (Minsk), Redakteurin des Minsker Stadt-Magazins City Dog1 und Gründerin eines historischen Projekts über die 1990er Jahre in Belarus2, berichtete aus der Praxis des Magazins mit multimedialem Storytelling, das über verschiedene Formate das Interesse der LeserInnen für lokale und nationale Geschichte wecken will. In der anschließenden Diskussion deutete sich eine Konfliktlinie zwischen den klassischen akademischen HistorikerInnen und öffentlichkeitswirksamen Storytelling-Projekten an.

Die Öffnung der HistorikerInnen für die Öffentlichkeit und über das Fachpublikum hinaus wurde bei der abendlichen Podiumsdiskussion mit HistorikerInnen, VertreterInnen von Bildungseinrichtungen und zivilgesellschaftlichen Initiativen sowie IT-ExpertInnen behandelt. Neben kommunikativen Herausforderungen und finanziellen Aspekten der Zusammenarbeit zwischen den Fächern wurde auch die Frage nach Perspektiven der medialen historischen Arbeit angesprochen. Insbesondere für junge Menschen bietet die Nutzung verschiedener frei zugänglicher Programme eine effektive Möglichkeit, historisches Wissen selbständig zu erarbeiten und sich aktiv anzueignen. Gleichzeitig ist das Zusammentragen und Visualisieren von Informationen ohne didaktische und methodische Zugänge wenig sinnvoll und nützlich. ALIAKSANDR DALHOUSKI (Minsk) von der Geschichtswerkstatt Leonid Lewin sprach von Perspektiven einer Demokratisierung der Erinnerungskultur. Die junge Generation sei offen für Dialog und stelle – auch vor dem Hintergrund der traumatischen Erfahrungen der eigenen Familie – neue Fragen an die Geschichte.

Das vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland geförderte Treffen diente vor allem der Vorstellung verschiedener Projekte aus Belarus, der Ukraine und Russland. Vier Projekte wurden vom IBB Minsk im Rahmen des #hack4history-Programms auch finanziell unterstützt. Hier können nur einige Projekte skizziert werden, die insbesondere mit Blick auf die Erinnerungskultur interessant erscheinen.

SVITLANA TELUHA (Charkiw), Dozentin an der Nationalen Technischen Universität, entwickelte mit ihren KollegInnen die Bildungsplattform Don’t forget Kharkiv3 zur Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg. Die Seite sammelt Informationen zu sowjetischen und postsowjetischen Gedenkorten der Stadt und veranschaulicht Transformationen in der Gedenkkultur bis zum heutigen Tag. Auch verschwundene Gedenkorte will das Projekt festhalten, wie die 1958 errichtete Allee der Komsomolzen – Helden des Krieges, die 2013 abgetragen wurde. Neben Informationen zum ehemaligen Gedenkort finden sich zudem kurze Interviews, die ambivalente Meinungen zur Zerstörung der Allee wiedergeben. Die Erinnerung an den Holocaust wird an zentralen Gedenkorten der Stadt, wie Drobizkij Jar, dem Ort der Ermordung von etwa 15.000 Juden, dargestellt. Die nicht memorialisierten Orte des Holocaust werden im Interview eines Historikers erläutert.

Dem Antisemitismus und der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung von Brest, die mit 24.000 Juden 45 Prozent der Vorkriegsbevölkerung ausmachte, widmet sich die App Brest Stories Guide4. Diese App wurde vom lokalen Kryly Khalopa Theater in Zusammenarbeit mit HistorikerInnen und jüdischen Organisationen erarbeitet. Das geschichtliche und künstlerische Projekt bildet ein Gegennarrativ zur sowjetischen Glorifizierung der Heldenstadt. Die Schauspielerin OKSANA HAIKO (Brest) stellte die App vor. Sie vermittelt Informationen über die authentischen Orte der jüdischen Geschichte und des Holocaust, zeigt die Topografie des ehemaligen Ghettos und beleuchtet den Umgang mit einem 2019 durch Bauarbeiten bedrohten Massengrab. Neben Fakten sind – von SchauspielerInnen der Stadt eingesprochene – Stimmen von jüdischen Überlebenden, ZeitzeugInnen, deutschen TäterInnen sowie heutigen EinwohnerInnen zu hören. Die Karte und die Tonaufnahmen sind auch über die Internetseite des Projektes erreichbar.

Das ambitionierte Projekt Heritage Keeper5 hat sich zum Ziel gesetzt, Informationen zum jüdischen historischen, kulturellen und religiösen Erbe sowie zu Orten der Vernichtung und zu Massengräbern des Holocaust in Belarus und perspektivisch in weiteren europäischen Ländern zu sammeln und auf einer Internetseite sowie als Reise-App zur Verfügung zu stellen.

Der belarussischen Alltags- und Familiengeschichte widmet sich das Projekt VEHA Museum6 von LESYA PCHELKA (Minsk). Der jungen Künstlerin und Wissenschaftlerin ist es gelungen, ein wachsendes Online-Archiv mit Familienfotos zu etablieren. Die Fotos werden so vor dem physischen Zerfall gerettet und bilden eine Quelle für ethnografische und kulturwissenschaftliche Studien der Alltagsgeschichte der belarussischen Gesellschaft, die bisher wenig dokumentiert und beachtet wird. Durch diese Arbeit werden NutzerInnen für ihre eigene Familiengeschichte und ihre Bewahrung sensibilisiert und an visuelle Interpretationen herangeführt.

EKATERINA MELNIKOVA (Moskau) und EVELINA RUDENKO (Moskau) von der internationalen Gesellschaft Memorial in Moskau stellten eine Reihe multimedialer Projekte vor, die auf umfangreichen Archivbeständen und dem Engagement der Organisation basieren und oft unter Beteiligung von Freiwilligen, in Programmen mit SchülerInnen und Studierenden entwickelt und produziert werden. Aus dem Ostarbeiter-Archiv von Memorial, das Tausende Stunden Oral-History-Interviews bewahrt, wurde eine umfangreiche Informationsseite ta storona (jene Seite)7 mit authentischen Quellen von OstarbeiterInnen und sowjetischen Kriegsgefangenen entwickelt. Sie wird durch eine weitere Seite8 mit Podcasts und einem dokumentarischen Zeichentrickfilm ergänzt. Weitere informative mediale Projekte zur sowjetischen und internationalen Geschichte sind: Это прямо здесь (Das ist genau hier)9 zu Orten von Terror und Unfreiheit in Moskau, das Sonderprojekt Свобода приходит ногами (Die Freiheit kommt zu Fuß) 10 mit einer Chronik der Ereignisse im August 1991 in Moskau oder auch die Seite 1968 – Jahr der Menschenrechte11 mit einer Chronik der weltweiten Ereignisse jenes Jahres.

Zu erwähnen ist auch die engagierte Arbeit des Geschichtslehrers KONSTANTIN KRISCHTAL (Pinsk), der mit seinen GymnasialschülerInnen kleine digitale Projekte sowohl zur lokalen Stadtgeschichte12 als auch zur globalen Geschichte durchführt und die interdisziplinäre Arbeit der SchülerInnen fördert.

Das internationale Treffen zeigte Perspektiven fächerübergreifender Zusammenarbeit und das Potenzial medialer Formate sowie zum Teil frei zugänglicher Anwendungen, die gerade für die Beteiligung von SchülerInnen und Studierenden an der Erarbeitung und Aneignung von Geschichte vielversprechend erscheinen. Auch für klassische HistorikerInnen öffnen sich Perspektiven der Geschichtsvermittlung, die jedoch eine Stärkung ihrer Medienkompetenz erfordern. Die Entwicklung von innovativen, methodisch wertvollen Formaten benötigt technische und finanzielle Ressourcen, die gerade in den beteiligten Ländern immer noch sehr knapp sind. Umso mehr war es für die zahlreichen engagierten, meist nichtkommerziellen Projekte eine wichtige Gelegenheit, die Ergebnisse eigener Arbeit publik zu machen.

Konferenzübersicht:

Alina Dzeravianka (Brest) und Dmitry Dobrovolski (Minsk): Begrüßung und Eröffnung

Aleksey Bratochkin (European College of Liberal Arts, Minsk): Digital history. Wie findet der Transfer des historischen Wissens in Belarus statt?

Bohdan Shumylovych (Urban Media Archive am Center for Urban History of East Central Europe, Lwiw): Archivierung und Entarchivierung. Arbeit mit visuellen Archiven im Zeitalter der digitalen Technologien

Yasia Korolevich-Kartel (Minsk): Wozu brauchen Historiker multimedialen Storytelling? Erfahrungen von citydog.by

Präsentation von Projekten, Gewinnern des Hackathons #hack4history

Лето [Sommer] – Tagebücher der russischen Intelligenz 1939—1941 (Moskau): http://summer39.tilda.ws/ [noch nicht online]

Our memory – Telegram-Chatbot zum emotionalen Eintauchen in die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges (Grodno): @OUR_MEMORY_bot

Don't forget Kharkiv – Bildungsplattform zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Charkiw (Charkiw): https://dontforgetkharkiv.com.ua/

Heritage keepers – Mobile App zum jüdischen Erbe von Belarus (Minsk): https://heritage-keeper.com/

Abenddiskussion: IBB Talks and Networking

ShowCaseDay
Präsentation weiterer digitaler Projekte

Partisanen- und Untergrundpresse in Belarus: https://heritage.nlb.by/s/victory/page/home

Stanislaw Moniuszko: ein musikalischer Romantiker aus dem Minsker Land: https://www.nlb.by/by/infarmatsyynyya-resursy/

Projekt zum hundertjährigen Jubiläum der belarussischen literarischen Gesellschaft Jugend: https://www.nlb.by/by/infarmatsyynyya-resursy/elektronnyya-infarmatsyynyya-resursy/

Белым по черному (Schwarz auf weiß), ein Projekt über das Leben der Herzogin Elizaveta Romanova (1864-1918): http://st-ella.art/ (englisch), http://white-on-black.com/ (russisch)

reBrest – Virtuelle Rekonstruktion des verlorenen architektonischen Erbes von Brest: http://rebrest.tilda.ws/

3D-Modelle der zerstörten Burgen des Großfürstentums Litauen: https://zamkivkl.wixsite.com/zamki/kopiya-1-grodno

VEHA Museum: http://veha.by

#UNOVIS100 – VR Projekt über die Stadt der Zukunft des Architekten Lasar Chidekel: http://feelingdigital.by/projects

Janka Kupala VR: http://feelingdigital.by/projects#kupalavr

VR Bibliothek der Zukunft des Goethe Instituts in Minsk: http://feelingdigital.by/pro

Brest Stories Guide: https://www.breststories.com/

Та сторона (jene Seite) – Quellen von Ostarbeitern und sowjetischen Kriegsgefangenen: http://tastorona.su/

Podcast zu Ostarbeitern: https://ost.glagolev.fm/

Это прямо здесь (Das ist genau hier) – Orte von Terror und Unfreiheit in Moskau: https://topos.memo.ru

Свобода приходит ногами (Die Freiheit kommt zu Fuß) – Chronik der Ereignisse im August 1991 in Moskau: https://svobodanogami.ru/

1968 – Jahr der Menschenrechte: https://1968.memo.ru/

Digitales Schulprojekt zur lokalen Geschichte der Stadt Pinsk: https://pintour.wixsite.com/pintour/online-

Anmerkungen:
1https://citydog.by/ (06.04.2020)
2http://90s.by/ (06.04.2020)
3https://dontforgetkharkiv.com.ua/ (06.04.2020)
4https://www.breststories.com/ (06.04.2020)
5https://dev.heritage-keeper.com/ru/ (06.04.2020)
6http://veha.by (06.04.2020)
7http://tastorona.su/ (06.04.2020)
8https://ost.glagolev.fm/ (06.04.2020)
9https://topos.memo.ru (06.04.2020)
10https://svobodanogami.ru/ (06.04.2020)
11https://1968.memo.ru/ (06.04.2020)
12https://pintour.wixsite.com/pintour/online- (06.04.2020)