„… mit Belgien ist das so eine Sache“. 5. Workshop des Arbeitskreises Historische Belgienforschung

„… mit Belgien ist das so eine Sache“. 5. Workshop des Arbeitskreises Historische Belgienforschung

Organisatoren
Arbeitskreis Historische Belgienforschung im deutschsprachigen Raum; Deutschsprachige Gemeinschaft Ostbelgiens; Zentrum für Ostbelgische Geschichte (ZOG); Centre for Contemporary and Digital History der Université du Luxembourg (C2DH)
Ort
Eupen
Land
Belgium
Vom - Bis
01.11.2019 - 02.11.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Julie Crombois, Institut des Civilisations, Arts et Lettres, F.R.S-FNRS/UCLouvain

Beim fünften Workshop des Arbeitskreises Historische Belgienforschung wurden vierzehn Vorträge in fünf thematischen Sektionen gehalten, die die Komplexität der belgischen Geschichte und ihren Zusammenhang mit der deutschen Geschichte spiegelten.

Nach einem Grußwort der Organisatoren, in dem die reiche Kultur und Geschichte des kleinen ostbelgischen Gebiets betont wurde, hielt WINFRIED DOLDERER (Berlin) einen Vortrag über die Historiographie des Grenzgebietes „jenseits der Maas“. Die markanten Dialektlinien wie die Benrather Linie, die die hochdeutsche Sprache vom Niederdeutschen trennte, ist heute noch maßgebend. Dolderer ging zurück zu den Sprachgrenzen und deren Verknüpfungen mit der nationalen Identifizierung, um die verschiedenen Ansprüche auf das Gebiet zu erklären, dies besonders während der beiden Weltkriege und in der turbulenten Zwischenkriegszeit.

In seinem Beitrag zu einem Aufenthalt von Karl Marx in Lüttich im Februar 1845 diskutierte ULRICH DIBELIUS (Berlin) auf der Grundlage intensiver Archivrecherchen mehrere Hypothesen zu dieser wenig bekannten Episode aus dessen Leben. Tatsächlich hatte Marx Preußen verlassen, um nach Brüssel zu ziehen; in der Fachliteratur wurde seit mehr als 100 Jahren angenommen, dass er von Paris über Lüttich nach Brüssel gereist war. Es gibt viele Erklärungen für diese Reise: finanzielle Gründe, Besuche bei Freunden und Verwandten, Treffen mit kommunistischen Organisationen (was Dibelius unwahrscheinlich erscheint) oder die Gründung einer Zeitung. Dibelius favorisiert auf Grund seiner Untersuchungen jedoch eine andere Hypothese: ein Treffen mit einem Professor für öffentliches Recht an der Universität Lüttich. Eine solche Begegnung hätte Marx helfen können, seinen Status als Exilant zu klären.

THOMAS GERTZEN (Berlin/Potsdam) und GERT HUSKENS (Brüssel) verorteten ihre Forschungen zur Geschichte der belgischen Ägyptologie, insbesondere zum Konzept des „informal empire“ (Gallagher und Robinson), im Kontext des Wettlaufs zwischen Belgien, Frankreich und Deutschland um archäologische Funde in Ägypten. Als eine der angesehensten Disziplinen im akademischen Kontext des 19. Jahrhunderts stellte die Ägpytologie in der Tat ein hervorragendes Mittel dar, die eigene Nation auf einem Gebiet zu präsentieren, das zu dieser Zeit besonders von Franzosen und Briten umkämpft war. So regte Leopold II. die Arbeit der geographischen Gesellschaften zur Erweiterung des belgischen Kolonialsystems an. Auf diese Weise hoffte er, seine starke Stellung an entscheidenden geographischen Punkten wie etwa Ägypten zu sichern und sie in eine breitere belgische Kolonialpräsenz einzubeziehen. Bismarck hingegen versuchte, Ägypten als Ort der Verachtung („place of contemption“) zwischen Franzosen und Briten zu nutzen.

MORITZ SORG (Freiburg im Breisgau) eröffnete die zweite Sektion, die dem Ersten Weltkrieg gewidmet war, mit einem Vortrag über die Krise der transnationalen Monarchie zwischen 1914 und 1927. Es hatte Tradition, dass die europäischen Fürsten eine ausländische Gattin wählten. Trotz der Bildung der Nationalstaaten wurde diese Tradition der transnationalen Ehen über viele Jahre aufrechterhalten, erst mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde sie zu einem Problem: Königin Elisabeth, die deutschstämmige Frau des belgischen Königs Albert I., geriet schnell in den Verdacht, ihrem neuen Heimatland nicht loyal zu dienen. Sie wurde misstrauisch beobachtet, was schnell zur Infragestellung der Legitimität der belgischen Monarchie führte. Dank einer besonders wirksamen Kommunikationsstrategie konnte das positive Bild der Königin jedoch nach und nach wiederhergestellt werden: Ihr Engagement für ihre neue Heimat wurde immer wieder betont (ohne jedoch ihre bayerische Herkunft zu verschweigen) und so ein Pendant zu Alberts ritterlichem Heldentum aufgebaut. Dazu dienten etwa die weit verbreiteten Bilder der Königin in ihrer Uniform als Krankenschwester. Auf diese Weise trug der Erste Weltkrieg zur „Schaffung einer neuen Art von Monarchie bei, die sich stärker auf die menschlichen Aspekte und die Bürgernähe der Souveräne konzentrierte, die für das Volk beispielhaft war“.

CHRISTOPH ROOLF (Düsseldorf) beschrieb den Alltag von Generaloberst Moritz Freiherr von Bissing im Landgut Trois Fontaines in Brüssel während der ersten Besatzungszeit. Nach einer biographischen Übersicht demonstrierte Roolf anhand von Fotos und Archivfunden, wie dieser um sich herum ein persönliches Regiment errichtete und die ihm unterstellten Zivil- und Militärbehörden entsprechend aufbaute. Eine wichtige Rolle dabei spielte die Geselligkeit der Besatzer, die in Trois Fontaines ihren Mittelpunkt fanden.

JAKOB MÜLLER (Berlin) kehrte zum Beginn des Krieges und dem angeblichen Franktireur-Krieg in Belgien im Sommer 1914 zurück und spannte den Bogen von den zeitgenössischen zu den jüngsten Debatten in deutschen Historikerkreisen. Sowohl die Bücher von Ulrich Keller1 und Gunther Spraul2 als auch die Konferenz German Atrocities – Revisited, die im Oktober 2017 in Potsdam stattfand, zeigen, dass bezüglich der Frage, ob es in Belgien nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im August 1914 organisierten Widerstand gab oder nicht, Dissens herrscht. Müller machte jedoch deutlich, dass die die neuen Diskussionen auslösenden Bücher von Keller und Spraul eklatante historiographische Mängel aufweisen und, entgegen der eigenen Wahrnehmung, keineswegs mit wirklich neuen Erkenntnissen aufwarten konnten – ungeachtet des zeitweilig großen medialen Echos und der Unterstützung einiger namhafter HistorikerInnen.

Der Abend war der ostbelgischen Region gewidmet. CARLO LEJEUNE (Eupen) stellte das Projekt „Grenzerfahrungen. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens“ vor. Seit der Gründung des Zentrums für ostbelgische Geschichte 2014 wurde eine beeindruckende Arbeit der Quellensammlung und Geschichtsschreibung geleistet. In diesem Rahmen erschienen zwischen 2013 und 2018 bereits fünf Bände der Reihe Grenzerfahrungen, in der neue Perspektiven der ostbelgischen Geschichte entwickelt werden, in denen Ostbelgien als ein Zwischenraum in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Ebene erscheint. Der sechste Band befindet sich in Vorbereitung.

CHRISTOPH BRÜLL (Luxembourg) widmete sich der Geschichte Ostbelgiens seit dem Versailler Vertrag (1919) und den wechselvollen Beziehungen der Randregion zu Deutschland, aber auch zu Belgien. Brüll ging auf die Schwierigkeiten bei der Integration dieser Bereiche in den belgischen Staat ab 1920 sowie auf die Annexionsabsichten des „Dritten Reiches“ ab 1933 ein, die im Mai 1940 realisiert wurden. Diese gewaltsame Eingliederung in das Deutsche Reich blieb nicht folgenlos, da die Zugehörigkeit der Bevölkerungsgruppen im Land nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Frage gestellt wurde. Erst 1956 verzichtete die Bundesrepublik Deutschland endgültig auf diese Region, die nach mehreren Grenzregelungen, oft mit katastrophalen Folgen, endgültig belgisch wurde. Brüll erörterte auch die Veränderungen des ostbelgischen Status seit den 1960er Jahren, insbesondere die Kulturautonomie dieser Gebiete wie auch die Entwicklung der belgisch-deutschen Beziehungen.

Der zweite Tagungstag begann mit einer Sektion über Belgien als Exilland in der nationalsozialistischen Zeit. ANDREA HURTON (Wien) behandelte die Geschichte der österreichischen Juden und Jüdinnen als „U-Boote“ in Belgien während des Zweiten Weltkriegs. Obwohl ungefähr 25.000 Juden, darunter 4.270 österreichische Exilanten, Schutz in Belgien suchten, ist dieses Thema bislang kaum untersucht worden. Belgien war ein bevorzugtes Exilland, da die belgische Regierung als verhältnismäßig „großzügig angesehen wurde und ihre Emigrationspolitik als eine der liberalsten in der Welt galt“. Hurton widmete sich vor allem den in Klöstern und belgischen Familien versteckten Kindern, die den Holocaust überlebten. Da viele Schicksale noch undokumentiert sind, erweist sich diese Untersuchung als besonders schwierig.

ÄNNEKE WINCKEL und ADRIAN STELLMACHER (Köln) stellten ihr Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Gerettet – auf Zeit. Kindertransporte nach Belgien 1938/1939“ zum Lern- und Gedenkort Jawne in Köln vor3. Nach den ersten Pogromen und vor allem ab 1938 wurden Kindertransporte aus Köln nach Belgien und Großbritannien organisiert. So wurden ungefähr 1.000 jüdische Kinder vor der NS-Verfolgung gerettet. Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, die Lebensgeschichten dieser Kinder zu würdigen, auch in pädagogischer Perspektive, so unter anderem durch Interviews mit Überlebenden. Thematisiert wurde auch die Hilfsbereitschaft der belgischen Bevölkerung.

Die vierte Sektion konzentrierte sich auf die Infrastruktur und die Archive, die den HistorikerInnen für ihre Forschung zur Verfügung stehen. PETER QUADFLIEG (Eupen) befasste sich zunächst mit den praktischen Unterschieden der Archivarbeit in Belgien und Deutschland. Während WissenschaftlerInnen ihre Forschungsmethoden und -strategien in der Vergangenheit an das Land anpassen mussten, in dem die Forschung durchgeführt wurde, konstatierte Quadflieg, dass im Archivwesen inzwischen eine internationale Normierung eingesetzt habe, sodass der Zugang zu Dokumenten in Belgien und Deutschland sich zunehmend ähnelt.

ILONA RIEK und BERNHARD LIEMANN (Münster) stellten die Arbeit des Fachinformationsdienstes (FID) Benelux/Low Countries Studies mit Sitz in der Universitäts- und Landesbibliothek in Münster vor. Die 39 FIDs entstanden im Rahmen der Entwicklung eines Systems der kooperativen wissenschaftlichen Literatur- und Informationsversorgung in Deutschland und sind entweder fachgebunden oder regional organisiert. Der FID Benelux ist seit einigen Jahren zuständig für ein Konglomerat von Fächern (Geschichte, Politikwissenschaften, Literaturwissenschaften) sowie für die Beratung und Unterstützung im Bereich Digital Humanities. Er bietet Inhalte in gedruckter Form (darunter viele Unikate) und dazu freien Zugriff auf E-Content an, was ForscherInnen einen besseren Zugang zu Dokumenten mit Bezug zur Benelux-Geschichte ermöglicht. Der FID Benelux ist auch zuständig für die Herausgabe der Reihe Benelux-German Borderland Histories, in der im Januar 2019 der Sammelband Migrationsgeschichte in Nordwestdeutschland und den nördlichen Niederlanden erschien.

In der letzten Sektion widmete sich KLAAS DE BOER (Priština) der Entwicklung der flämischen Bewegung, mit Fokus auf ihre politische Dimension. Er zeigte, dass die Bewegung aus einer heterogenen, vielschichtigen Akkumulation von AkteurInnen und Organisationen mit verschiedenen Forderungen entstand. Deren Ansprüche betrafen seinen Ausführungen zufolge vier Formen der Gleichberechtigung, nämlich sprachliche, wirtschaftliche, kulturelle und territoriale Emanzipation. De Boers Vortrag sowie die darauffolgende Debatte thematisierten auch die Rolle Deutschlands bei der Entwicklung der flämischen Bewegung, besonders den Einfluss der deutschen Besatzungsverwaltung im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Das flämische Nation-Building-Projekt sei direkt von deutschen Initiativen geprägt gewesen und habe zur Institutionalisierung der Flämischen Bewegung geführt.

Abschließend präsentierte ILONA ANDREA DEBES (Bernas/Brüssel) Orte in Brüssel, die für HistorikerInnen und KunsthistorikerInnen interessant sein können. Sie sprach u.a. über die Bahnhöfe der Stadt als „soziale Brennpunkte“ und über die Buslinien 38 (Héros/Helden), die sechs Punkte verbindet, die für die belgische Geschichte von besonderer Bedeutung sind.

Die breit gefächerten und anregenden Vorträge boten neue Perspektiven für die zukünftige Arbeit an und wurden intensiv diskutier. Eine Veröffentlichung der Tagungsbeiträge ist geplant. Die folgende Tagung im September 2020 soll sich hauptsächlich den Digital Humanities widmen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Christoph Jahr, Tatjana Mrowka und Jens Thiel (Arbeitskreis Historische Belgienforschung); Anna Quadflieg (Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens); Carlo Lejeune (Zentrum Ostbelgische Geschichte); Christoph Brüll (C2DH Université du Luxembourg)

Sektion 1
Winfried Dolderer (Berlin): Overmaas – „Jenseits der Maas“. Eine historische Annäherung

Ulrich Dibelius (Berlin): Mutmaßungen über einen Aufenthalt von Karl Marx in Lüttich (Februar 1845)

Thomas Gertzen (Berlin/Potsdam) / Gert Huskens (Brüssel): Struggling for “a place in the sun” of Egyptology. Perspectives on Belgian and German Egyptology during the “long nineteenth century”

Sektion 2
Moritz Sorg (Freiburg im Breisgau): Fremdheit und monarchische Herrschaft. Der Erste Weltkrieg als Krise der transnationalen Monarchie, 1914–1927

Christoph Roolf (Düsseldorf): „Persönliches Regiment“ und ein Hofstaat en miniature im Ersten Weltkrieg: Moritz Freiherr von Bissing in Trois Fontaines bei Brüssel

Jakob Müller (Berlin): Die Debatte über den angeblichen belgischen Franktireurkrieg 1914 und ihr mediales Echo 2017–2019

Abendvorträge
Carlo Lejeune (Eupen): Das Projekt „Grenzerfahrungen. Eine Geschichte der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens“

Christoph Brüll (Luxembourg): Von Eupen-Malmedy nach Ostbelgien. Eine deutsch-belgische Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert

Sektion 3
Peter Quadflieg (Eupen), „Man muss sich darüber im Klaren sein, dass ‚Archiv‘ nicht in allen Sprachen und Ländern dasselbe bedeutet“. Unterschiede und Gemeinsamkeiten des belgischen und des deutschen Zugangs zu staatlichen Archiven

Ilona Riek / Bernhard Liemann (beide Münster): Dialog und Vernetzung mit der Belgienforschung. Der Fachinformationsdienst Benelux / Low Countries Studies

Sektion 4

Andrea Hurton (Wien): Exil, Widerstand und Verfolgung. Wiener Jüdinnen und Juden als „U-Boote“ in Belgien 1940–1945

Änneke Winckel / Adrian Stellmacher (beide Köln): Kindertransporte nach Belgien 1938/39. Werkstattbericht über das Forschungs- und Ausstellungsprojekt des Lern- und Gedenkorts Jawne in Köln

Sektion 5

Klaas de Boer (Priština): Gleichberechtigung, Konföderation oder Unabhängigkeit – wofür steht die Flämische Bewegung?

Ilona Andrea Debes (Bernas/Brüssel), Wege durch Brüssel

Anmerkungen:
1 Ulrich Keller, Schuldfragen: Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914, Paderborn u.a. 2017.
2 Gunther Spraul, Der Franktireurkrieg 1914. Untersuchungen zum Verfall einer Wissenschaft und zum Umgang mit nationalen Mythen, Berlin 2016.
3 Die Ausstellung war vom 28. November 2019 bis zum 2. Februar 2020 im LVR-Landeshaus zu Köln zu sehen.