Übersetzernachlässe in globalen Archiven / Fonds de traducteurs dans les archives globales I

Übersetzernachlässe in globalen Archiven / Fonds de traducteurs dans les archives globales I

Organisatoren
Deutsches Literaturarchiv (DLA) Marbach, Forschungsreferat; Förderung durch die Robert Bosch Stiftung aus Mitteln der DVA-Stiftung; Projekt „penser en langues – In Sprachen denken“ der Fondation Maison des Sciences de l'Homme (FMSH), Paris, und dem Institut Mémoires de l'Éditions Contemporaine (IMEC), Caen
Ort
Marbach
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.11.2019 - 27.11.2019
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Von
Merisa Taranis, Insitut für Literaturwissenschaft, Abteilung für Neuere Deutsche Literatur I, Universität Stuttgart

Was heißt Übersetzen? Ist Literatur vielleicht sogar unübersetzbar? Wie wandelte sich die Rolle von ÜbersetzerInnen im Laufe der Jahrhunderte? Wie sollen die Forschung und die Verlage mit Übersetzernachlässen umgehen und welchen Mehrwert bieten sie? Mit diesen Fragen eröffneten SANDRA RICHTER und ANNA KINDER (Marbach) die Tagung, die als Doppeltagung konzipiert war: Im DLA Marbach standen vor allem literarische Übersetzungen im Mittelpunkt, in der korrespondierenden Tagung am IMEC in Caen (28.–30. November 2019) Übersetzungen theoretischer und philosophischer Werke1. Beide Institutionen verfügen über umfangreiche Materialien zu ÜbersetzerInnen und möchten diese Bestände auch als Quellen für die Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit, Identität und Alterität, Rezeptionsgeschichte, Übersetzbarkeit und Originalität verstanden wissen.

Die erste Sektion widmete sich der Bedeutung von Übersetzernachlässen als Wissenstransferquelle. ALBRECHT BUSCHMANN (Rostock) thematisierte die Unsichtbarkeit der ÜbersetzerInnen in Archiven und verwies einerseits auf die Verborgenheit des Übersetzernamens in den meisten Bibliothekskatalogen, andererseits auf die metaphorische Unsichtbarkeit der ÜbersetzerInnen in ihrer Funktion als VermittlerInnen. Letztere sei vor allem in Redewendungen und Sprichwörtern erkennbar („In der Übersetzung geht immer etwas verloren“) und rufe Misstrauen und Skepsis bei den RezipientInnen hervor. Diese Blindheit gegenüber den ÜbersetzerInnen müsse man analog zum reformierten Regelwerk zur Bibliothekskatalogisierung Ressource Description and Access (RDA) von 2001 auch sprachlich neu denken.

Unsichtbar blieben vielfach auch die Prozesse des Übersetzens. MARIE LUISE KNOTT (Berlin) zeigte anhand des Nachlasses von Peter Urban, wie die ÜbersetzerInnen als SprachschöpferInnen und KulturvermittlerInnen fungieren, da sie sich im Übersetzungsprozess – bedingt durch die zu treffenden Entscheidungen – mit potentiellen Irrtümern und Fragen beschäftigen und diese Auseinandersetzung für das eigene Schreiben fruchtbar machen. Es gelte daher, die Sammlungspolitik der Archive derart zu gestalten, dass den Übersetzernachlässen äquivalent zu den Autorennachlässen ein fester Platz in den Beständen eingeräumt wird.

B. VENKAT MANI (Madison) richtete den Blick auf die soziopolitische Bedeutung von Übersetzungen, indem er anhand der „bibliomigrancy“ die Beziehung zwischen der demokratischen Republik Indien und ihrem Lesepublikum nachzeichnete. Am Beispiel zweier Übersetzungsinitiativen – dem Katalog zur Übersetzung empfohlener Literatur der UNESCO (1967/68) und dem jüngsten „Pact with Books“ um die Entlassung Sheldon Pollocks, Mentor der Murty Classical Library – demonstrierte Mani, dass Übersetzungen nicht allein einen kulturhistorischen, sondern vor allem einen politischen Wert haben und gesellschaftliche Spannungen, etwa zwischen Identität und Alterität, Armut und Reichtum, widerspiegeln, aber auch hervorrufen oder eben überwinden können.

Mit Blick auf die aktuelle politische Situation in Brasilien stellte MÁRCIO SELIGMANN-SILVA (Campinas) die These auf, dass selbst nach der Dekolonisation im 20. Jahrhundert und der Aufarbeitung der kolonialen Denkweise durch Frantz Fanon und andere diese heute dennoch nicht gänzlich überwunden sei. Aus kulturtheoretischer Perspektive könne sich das Selbst nur durch die Differenz von und die Identifizierung mit einem Anderen konstituieren – eine Prämisse, die für die Übersetzung seit den deutschen Romantikern gelte, so Seligmann-Silva. Daher müsse die Übersetzung dekonstruktivistisch als „Methode des disordering“, d.h. der Fremdmachung verstanden und zum Politikum gemacht werden.

ANAT FEINBERG (Heidelberg) beleuchtete die Übersetzung von Schillers Wilhelm Tell ins Hebräische durch den israelischen Nationaldichter Chaim Nachman Bialik aus rezeptionsästhetischer Sicht. Sie beobachtete, dass die hochpoetische Übertragung Bialiks auf ambivalente Kritik beim jüdischen Publikum gestoßen ist und sich weniger zur Aufführung als zur Rezitation eigne. Eine ähnlich erstaunliche Diskrepanz zwischen Original und Übersetzung lasse sich auch in Bertolt Brechts Übertragungen chinesischer Lyrik aus zweiter Hand konstatieren. SHUANGZHI LI (Shanghai) analysierte die Übernahmen, Umgestaltungen und Bereicherungen, die im dialogischen Translationsakt bei Brecht festzustellen sind und bewertete diese als künstlerische Freiheiten in Gehalt und Gestalt, wie sie für Brecht typisch seien.

Disziplinär erweitert wurde die Diskussion um die Übersetzungs- und Übersetzerforschung durch Beiträge aus den Digital Humanities. Einen praktischen Einblick in die literarische Übersetzung mithilfe computergestützter Übersetzungsprogramme gab HOLGER FOCK (Heidelberg) am Beispiel von Marcel Prousts À la recherche du temps perdu und Mathias Énards Boussole. Besonders bei Programmen, die maschinelle Intelligenz und neuronale Netzwerke einsetzen, stellte Fock eine erstaunliche Qualität der Übersetzungen fest. MÁRIO GOMES (Concepción) stellte eine „kleine Poetik der maschinellen Übersetzung“ vor, indem er zwölf produktionsästhetische Gedanken formulierte. Zentral sei es, Texte als audiovisuelle Gebilde zu verstehen, die die ÜbersetzerInnen in ihrer Komplexität – damit sei vor allem auf die semantische Ebene verwiesen – ohne Verluste, Störungen und Rauschen zu übertragen haben. Die maschinelle Übersetzung nähere sich dank höherer Rechenleistung heute der menschlichen Translationsarbeit an, sodass das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine neu gedacht werde müsse.

Ausgehend von der Frage nach der Autorschaft im Falle übersetzter Texte, stellte ANDREAS F. KELLETAT (Mainz/Germersheim) mit dem „Germersheimer Übersetzerlexikon“ eine digitale Sammlungsbibliografie vor, die Übersetzungen nicht als Teil der Ausgangs-, sondern der Zielkultur versteht. Damit würden ÜbersetzerInnen ins Zentrum des Interesses gerückt, in die nationale Literaturgeschichtsschreibung einbezogen und könnten Eingang in die Archive finden.

In der vierten Sektion wurden Übersetzungspraktiken anhand von Archiv-Fallbeispielen diskutiert. OLAF MÜLLER (Marburg) zeigte anhand des Nachlasses von Peter O. Chotjewitz, dass dieser in seiner Translationsarbeit theoretisch immer über die rein linguistische Übersetzung hinausgehen wollte. Eine Anpassung an das deutsche Publikum und seine politischen Verhältnisse anvisierend, verfolgte er die Idee einer szenischen Übertragung, die er jedoch aus Gründen der verlagsvertraglichen Gebundenheit an das Original nur selten praktisch umsetzen konnte.

LYDIA SCHMUCK (Marbach) thematisierte am Beispiel von Anneliese Botond einerseits die Figur des/der lektorierenden Übersetzers/Übersetzerin und widmete sich andererseits der literaturwissenschaftlichen Relevanz von Verlagsarchiven. Diese böten nämlich ein Potential für die biografische Erfassung von ÜbersetzerInnen, die Erforschung ihrer interpretatorischen und lektorierenden Auseinandersetzung mit dem Originaltext und die Sichtbarmachung der komplexen Netzwerke, in welchen sich AutorInnen, ÜbersetzerInnen und Verlage befinden.

Die Darstellung einer Poetik des Übersetzens verfolgend, widmete sich DOUGLAS POMPEU (Marbach) einer dokumentarischen Präsentation von Übersetzernachlässen zwischen Exil und Ost- und Westdeutschland am Beispiel der Nachlässe von Erich Arendt (Archiv der Akademie der Künste, Berlin) und Curt Meyer-Clason (Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin). Anhand der sich in den Nachlässen befindenden Korrespondenzen, Manuskripte und Bücherausgaben verdeutlichte Pompeu die Rolle Arendts und Meyer-Clasons als Literaturvermittler zwischen Lateinamerika und Deutschland, aber auch im Literaturbetrieb zwischen Ost- und Westdeutschland.

In einem Atelier wurden aktuelle Projekte von NachwuchswissenschaftlerInnen zum Thema Übersetzung zur Diskussion gestellt. CLÉMENT FRADIN (Paris) beleuchtete die textgenetischen und verlegerischen Rahmenbedingungen der René-Char-Übersetzungen und zeigte anhand der Lesespuren in Werken der Autorenbibliothek Paul Celans, dass sich Celan über den Rekurs auf andere Übersetzungen und traditionelle DichterInnen – wie etwa Hölderlin und Hofmannsthal – Übersetzungshilfen verschaffte. Daraus, dass die Übertragungen nie mit „von Paul Celan übersetzt“, sondern „Deutsch von Paul Celan“ unterschrieben wurden, schlussfolgerte er, dass Celan sie als ein „zweites Sprechen, ein Nachsprechen“ verstanden haben wollte.

Zwischen den Veranstaltungen in Marbach und Caen, am 27.11.2019, fand eine Podiumsdiskussion am Pariser Standort des IMEC statt, bei der Bernard Banoun (Paris), Susan Pickford (Paris), Sandra Richter (Marbach), Gisèle Sapiro (Paris) und Anne Weber (Paris) unter der Leitung von François Bordes und Franziska Humphreys (Paris) anlässlich der Veröffentlichung des vierten und letzten Bandes der Histoire des traductions en langue française über die Bedeutung von Übersetzung debattierten.

Konferenzübersicht:

Sandra Richter, Anna Kinder (Marbach): Bestandsaufnahme. Eine Theorie von Übersetzernachlässen

Sektion 1: Übersetzernachlässe als Wissenstransferquelle

Albrecht Buschmann (Rostock): Die Leerstelle im Archiv. Vom Fehlen der Übersetzer in der Kulturgeschichte

Marie Luise Knott (Berlin): Übersetzen – ein Sonderfall des Selbstschreibens? Warum wir Übersetzernachlässe brauchen

Elisabeth Backes (Berlin): Sprachkontaktforschung und linguistische Übersetzungstheorien

B. Venkat Mani (Madison): Die Republik und das Lesepublikum. Übersetzungsinitiativen und der demokratische „Pact with Books“

Regina Toepfer und Annkathrin Koppers (Braunschweig): Übersetzungen als kulturelle Nachlässe. Perspektiven der Übersetzungskulturen in der Frühen Neuzeit (1450–1800)

Sektion 2: Übersetzungstheorie-Felder

Anat Feinberg (Heidelberg): Der Nationaldichter Bialik übersetzt Schillers Wilhelm Tell ins Hebräische

Shuangzhi Li (Shanghai): Übersetzung chinesischer Gedichte bei Brecht und seinen Zeitgenossen

Márcio Seligmann-Silva (Campinas): Übersetzung als Methode des „disordering“

Robert Zwarg (Marbach): „How he reads in English“ – Adornos Unübersetzbarkeit

Sektion 3: Übersetzung und Digital Humanities

Uwe Muegge (Menlo Park): Terminologiemanagement bei der Übersetzung kreativer Marketingtexte

Holger Fock (Heidelberg): Übersetzungsprogramme und literarisches Übersetzen

Mário Gomes (Concepción): Der Übersetzer als Literaturmaschine

Andreas F. Kelletat (Mainz/Germersheim): Das „Germersheimer Übersetzerlexikon“. Konzeption und Perspektiven eines historisch-sammelbiographischen Forschungs- und Editionsprojekts

Sektion 4: Fallstudien

Olaf Müller (Marburg): Dario Fo deutsch. Zum übersetzerischen Werk und zum Nachlass von Peter O. Chotjewitz

Helmut Galle (São Paulo): Jenny Klabin Segall als Faust-Übersetzerin in Brasilien

Lydia Schmuck (Marbach): Übersetzung in Verlagsarchiven. Anneliese Botond – zwischen lateinamerikanischer Literatur und französischer Theorie

Renata Makarska (Mainz/Germersheim): Übersetzer und/im Archiv. Der Fall Hermann Buddensieg (1893–1976)

Douglas Pompeu (Marbach): Exil und Übersetzung zwischen Ost und West. Erich Arendt und Curt Meyer-Clason

Michi Strausfeld (Berlin/Barcelona): Lesung und Gespräch. „Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren. Lateinamerika erzählt seine Geschichte“

Sektion 5: Atelier

Anna Popova (Freiburg): Peter Urbans Übersetzung von Daniil Charms

Clément Fradin (Paris): Paul Celans übersetzerische Arbeit. Einblicke anhand seiner Bibliothek

Ian Ellison (Leeds): Auf der Suche nach der verlorenen Übersetzung. À la Recherche von Proust auf Deutsch

John Raimo (New York): Die Übersetzung und Übersetzer der tschechischen Literatur in der frühen Bundesrepublik

Roberta Colbertaldo (Frankfurt am Main): Die Übersetzungen Carlo Emilio Gaddas durch Toni Kienlechner und Heinz Riedt

Anmerkung:
1 Tagungsbericht: Übersetzernachlässe in globalen Archiven / Fonds de traducteurs dans les archives globales II, 28.11.2019 – 30.11.2019 Caen, in: H-Soz-Kult, 19.05.2020, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8765>.