Eigen-Sinn reloaded. Auseinandersetzungen mit dem Denken Alf Lüdtkes

Eigen-Sinn reloaded. Auseinandersetzungen mit dem Denken Alf Lüdtkes

Organisatoren
Historisches Seminar, Universität Erfurt; Forschungsgruppen Erfurter RaumZeit-Forschung (ERZ) und Freiwilligkeit
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.01.2020 - 31.01.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Meike Katzek, Historisches Seminar, Universität Erfurt

Im Gedenken an den am 29. Januar 2019 verstorbenen Historiker Alf Lüdtke veranstaltete das Historische Seminar der Universität Erfurt einen interdisziplinären Workshop, um sich mit dem von Lüdtke entworfenen Konzept des Eigen-Sinns auseinanderzusetzen. BERNHARD KLEEBERG (Erfurt) formulierte einführend das Ziel, das Konzept „gewissermaßen wissenschaftlich nachzuladen, um zu sehen, ob es immer noch trägt und in welche Richtung es sich möglicherweise weiterentwickeln ließe“.

Einführend nahm REINER PRASS (Erfurt) einen genealogischen Abriss des alltagsgeschichtlichen Konzepts „Eigen-Sinn“ vor, mit dem Lüdtke nicht-angepasste Handlungen von Subjekten insbesondere in Herrschaftsbeziehungen zu erklären suchte. Mit diesen schufen sich die AkteurInnen Räume „eigenen“ Handelns und ermächtigten sich selbst durch die Aneignung von Raum und Zeit. Dabei können diese Verhaltensweisen mit ihren individuellen Sinn-Zuschreibungen sowohl als widerständige wie auch als herrschaftskonforme Handlungen interpretiert werden. Das von Lüdtke anhand von Verhaltensweisen von Fabrikarbeitern um 1900 und in den beiden deutschen Diktaturen entworfene Konzept sollte nun in neuen Anwendungsfeldern ausgetestet, neu ausgelegt und weitergedacht werden – ganz im Sinne der kritischen Haltung Alf Lüdtkes, wie JÜRGEN MARTSCHUKAT (Erfurt) betonte.

ANGELIKA EPPLE (Bielefeld) beschrieb in ihrem theoretischen Grundlagenvortrag, wie das Konzept des Eigen-Sinns produktiv in die Praxistheorie integriert werden kann. Anhand eines Quellenauszugs von Alexander von Humboldt zeigte sie, wie Praxistheorie davon profitieren kann, stärker mit dem Eigen-Sinn zu arbeiten. Wo der Praxistheorie die Erklärung von Veränderungen durch den Verzicht auf die Heranziehung der Intentionen von AkteurInnen schwerfalle, könne Eigen-Sinn dabei helfen, solche blinden Stellen anzuzeigen. So könnten Praktiken stärker als Ermöglichungsräume eigensinniger AkteurInnen interpretiert werden.

Ebenso stellte SEBASTIAN JOBS (Berlin) in seinem Versuch, Gerüchte und Eigen-Sinn zusammenzudenken, heraus, wie der Eigen-Sinn als produktiver Indikator von archivalischen Blindstellen in der historischen Forschung genutzt werden kann. Auch wenn das Gerücht als kollektive Erzählung der individuellen, als eigensinnig beschriebenen Handlung entgegensteht, verbinde die beiden doch eine methodologische Unsicherheit. Wo das Gerücht ein „Zeichen von kollektiver wie individueller Unsicherheit und Instabilität“ der historischen AkteurInnen darstelle, sei auch der Eigen-Sinn ein Analysewerkzeug der HistorikerInnen, mit dem unsicheres Schreiben selbstbewusst in das wissenschaftliche Narrativ integriert werden könne. Wo hier die Grenze zur Spekulation verlaufe, ließ Jobs offen. Die Einführung angrenzender Begrifflichkeiten zu dem Konzept des Eigen-Sinns, wie „Eigen-Leben“ und „Eigen-Dynamik“, bot eine fruchtbare Grundlage für anschließende Diskussionen.

Die produktive Deutung subalterner Blindstellen von Archivquellen, für die Jobs plädierte, zeigte RAINER BECK (Konstanz) anhand der Analyse von Verhörstrategien angeklagter Jugendlicher in den Freisinger Hexenprozessen von 1715-1723. Die Angeklagten verstanden es in den Verhandlungen und ihren Geständnissen, das „Böse“ oder den Teufel durch ihre Sprechakte als einen von ihnen selbst emanzipierten dritten Sprecher taktisch zu nutzen. Die in den archivalischen Verhörprotokollen der Inquisitoren zwar verstummende Intentionalität der Angeklagten wird durch die mit dem „Bösen“ erwirkte Kommunikations- und Prozessveränderung deutbar. Mit der „Installation einer Beobachtungsordnung“ schafften sich die Angeklagten widerständige Räume für ihre Verteidigungsstrategie und ließen sich so im Rahmen des historischen Narrativs Eigen-Sinn attestieren.

Bernhard Kleeberg gab den Denkanstoß, den Eigen-Sinn von Dingen im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext als eine neue Konzeptdimension zu denken, als produktive Irritation bestehender Systeme und stabilisierend für folgende neue Denkgewohnheiten. Die Untersuchung des Eigen-Sinns von Dingen spitzt die Frage nach möglichen Bedingungen für die Zuschreibung von Eigen-Sinn zu. Wissenslücken über Dinge eröffnen zwar einen Interpretationsraum für diese Zuschreibung, dennoch stellt die fehlende Handlungsfähigkeit von Dingen deren Eigen-Sinnigkeit in Frage.

So zögerte NINA MACKERT (Leipzig), der Materie Körperfett Eigen-Sinn zuzuschreiben. Könne man es Eigen-Sinn nennen, wenn Körperfett nicht der wissenschaftlichen Erwartung oder dem Diätratgeber entsprechend reagiere? In der neoliberalen Gesellschaft sei dieses Zusammendenken von Eigen-Sinn und Körperfett, das die vermeintlich unbegrenzte Körperkontrolle des Individuums herausfordert, zumindest eine interessante politische Frage. Körperfett entziehe sich dabei, ganz im Verständnis des Eigen-Sinns, zwar der Herrschaft des Subjekts. Dennoch lasse sich fragen, ob und wieviel Agency oder „Sinn“-Stiftung dem Fett überhaupt zugeschrieben werden könne. Gleichzeitig laufe die Zuschreibung von Agency oder Eigen-Sinn an Dinge im Rahmen von Debatten des New Materialism Gefahr, der Materie wieder ein essentiales Wesen zuzuschreiben und damit zu ermächtigen. Körperfett, so Mackert, lasse sich nur in Bezug auf Praktiken auf Eigen-Sinn hin untersuchen. Das Fett werde in Praktiken, wie seiner chemischen Untersuchung in Präparaten, enacted. Es „wird“ in relationalen Situationen, in denen sich die Beteiligten und der materielle Charakter des Körperfetts änderten, „getan“. Daher bleibe der Eigen-Sinn des Körperfetts selbst als stark bedingte Zuschreibung fragwürdig. Trotzdem lasse sich durch den Zugriff über die Praktiken die Annahme eines durch Subjekt oder Objekt absolut determinierten Körperfetts in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten vermeiden. Es zeigte sich wieder die produktive Trennung zwischen Eigen-Sinn als Zuschreibung und als Analysewerkzeug. Obwohl die Zuschreibung von Eigen-Sinn an Dinge kritisch zu betrachten ist, ließ sich, in Anschluss an Epple, der Eigen-Sinn wieder produktiv mit der Praxistheorie zusammenbringen. Fruchtbar wäre es darüber hinaus, die konzeptionelle Frage nach der Differenzierung von Eigen-Sinn und Agency dezidierter zu diskutieren, die sich durch die wissenschaftshistorischen Debatten stellte.

Disziplinenübergreifend führte ALEXANDRA OESER (Nanterre/Paris) den Eigen-Sinn mit einer soziologischen Analyseperspektive zusammen. Ihr Vortrag zu sexueller Gewalt am Arbeitsplatz war ein Plädoyer für die stärkere Verflechtung von Eigen-Sinn und Feminismus, um alltägliche Machtverhältnisse differenzierter analysieren zu können. Mit der Verbindung der Konzepte in ihrer Forschung brach sie gängige Forschungsthesen zu sexueller Gewalt auf und setzte der Reduzierung von Frauen auf ihren Opferstatus durch den Eigen-Sinn ein Gegengewicht. Durch eigensinnige Räume, die sich betroffene Frauen schafften und in denen sie die erfahrene Gewalt umdrehten und umdeuteten, würden hierarchisierte Rollenzuschreibungen in Frage gestellt. Dass die Frauen trotzdem in Geschlechterhierarchien verharrten oder mit der Anwendung von physischer Gegengewalt männliche Gewalt reproduzierten, könnte eine Grenze des Eigen-Sinns darstellen. Oeser warf weiterhin die Frage auf, inwiefern auch Mächtige, hier wirtschaftlich führende Männer, eigensinnig handeln könnten. In der Anwendung auf Geschlechternormen als Hierarchiestrukturen zeigte sich wieder verstärkt die Ambivalenz des Eigen-Sinn-Konzepts. Eigen-Sinn als Aneignung von Raum und Zeit für sich selbst kann gleichzeitig ein Entzug von und Verharren in geschlechtlichen Hierarchiestrukturen darstellen. Sehr deutlich wurde durch die methodische Verbindung von Eigen-Sinn und Feminismus, dass ein Konzept, das in disziplinarischen Industriegesellschaften festgestellt und angewendet wurde, auch in neoliberalen Gesellschaftsstrukturen neu aufgespürt und aufgelegt werden kann.

Zweifel an dieser Neuauflage äußerte STEFANIE GRÄFE (Jena). Mit einer weiteren soziologischen Betrachtung der Gegenwartsgesellschaft zeigte sie auf, dass der Eigen-Sinn nicht nur eine analytische Perspektive ist, sondern ebenso eine ständig angeeignete gesellschaftliche Handlungsform. Gräfe richtete noch einmal grundlegende theoretisch-konzeptionelle, aber auch politisch-normative Fragen an das Konzept des Eigen-Sinns. Ihr analytischer Ausgangspunkt war die Vereinnahmung des alltäglichen „Eigensinns“. Zum einen geschehe dies in gouvernemental-spätneoliberalen Handlungsanweisungen mit dem Ziel der individuellen Potentialentfaltung und Findung einer vermeintlich authentischen Identität. Zum anderen werde der Eigensinn rechtspopulistisch als Authentifizierung der nonkonformistischen und exkludierenden Identitätspolitik der Neuen Rechten instrumentalisiert. Ist der Eigensinn dann noch zu retten bzw. ist der Eigen-Sinn als Zuschreibung im Lüdtkeschen Sinne noch funktional? In den Formen der neoliberalen und rechtspopulistischen Aneignung des Eigensinns erkannte die Soziologin die postdemokratischen Aspekte einer depolitisierten Öffentlichkeit, eines Krisennarratives sowie das Phantasma einer intakten Identität. Hierin zeige sich die völlige Vereinnahmung des Wortgebrauchs. Zur Rettung des Eigen-Sinns, der zu einer in sich widersprüchlichen Handlungsnorm geworden sei, müsse das Konzept zum einen selbst historisiert werden. Zum anderen schlug Graefe die Differenzierung von Eigen-Sinn und kritischer Handlungsfähigkeit vor. Kritische Handlungsfähigkeit, die durch Eigensinn ermöglicht werde, schaffe es, sich von den herrschenden Normen und der Herrschaftspraxis abzuwenden, ohne dogmatisch zu sein. Eigen-Sinn ist vor diesem Hintergrund nicht mehr nur das methodische Analysewerkzeug oder die narrative Zuschreibung, sondern wird zum gesellschaftlich schon immer vereinnahmten Ausgangspunkt, dessen Formen von Aneignung und Integration kritisch analysiert werden sollten.

Der Workshop warf eine Vielzahl konzeptioneller Fragen auf und thematisierte methodische Ansätze und Problematisierungen. Eigen-Sinn in unterschiedlichen historischen Kontexten auszutesten trug dazu bei, die schon etablierte Nutzung des Konzepts als geschichtswissenschaftliche Methode und Interpretationsraum nun als Analysewerkzeug und Zuschreibung differenzierter zu fassen. Bei dem Versuch, das Konzept auf wissenschaftsgeschichtliche und soziologische Themenfelder auszuweiten, zeigten sich insbesondere die Reibungen im Nachdenken über den Eigen-Sinn der Dinge und die Verbindung zu gegenwartsanalytischen Fragestellungen als produktiv. Fragen nach der Verbindung von Eigen-Sinn und Intentionalität, Agency oder Handlungsfähigkeit bieten Potenzial, das Konzept nicht nur politisch-normativ weiterzudenken. Die genauere Verortung in der Praxistheorie erlaubt auch eine schärfere konzeptionelle Differenzierung des Eigen-Sinns. Als lohnend zeigte sich ebenso die weitere Beschäftigung mit dem Konzept in Form einer Historisierung oder der Verbindung zu anderen hierarchiekritischen Perspektiven und Politiken wie dem Feminismus. Nicht zuletzt wurde gerade durch die gegenwartsgeschichtliche Transformation der politischen Bedeutung von eigensinnigen Handlungen die Relevanz der weiteren Auseinandersetzung mit dem Konzept des Eigen-Sinns deutlich.

Konferenzübersicht:

Sebastian Dorsch / Bernhard Kleeberg / Jürgen Martschukat / Reiner Prass (alle Universität Erfurt): Eröffnung

Sebastian Jobs (Freie Universität Berlin): Unsicheres Wissen – unsicheres Schreiben: zum Eigen-Sinn von Gerüchten

Angelika Epple (Universität Bielefeld): Der Eigen-Sinn der Praxistheorie

Rainer Beck (Universität Konstanz): Vexierspiele. Oder Eigen-Sinnigkeiten im Medium des „Bösen“. Beobachtungen anlässlich eines Hexenprozesses

Alexandra Oeser (Université de Nanterre / Institut Universitaire de France, Paris): Sexuelle Gewalt am Arbeitsplatz: Feministische Perspektiven auf Alf Lüdtkes Konzept des Eigen-Sinns

Nina Mackert (Universität Leipzig): Fat That Matters. Zum Eigen-Sinn von Körperfett

Stefanie Graefe (Friedrich-Schiller-Universität Jena): Ist der Eigen-Sinn noch zu retten? Über kritische Handlungsfähigkeit in Zeiten der Postdemokratie