Protagonists of Production. Staging male and female entrepreneurs, craftspeople, and workers in preindustrial Spanish and European economic tracts, literature and press (1700–1800)

Protagonists of Production. Staging male and female entrepreneurs, craftspeople, and workers in preindustrial Spanish and European economic tracts, literature and press (1700–1800)

Organisatoren
Beatrice Schuchardt / Christian von Tschilschke, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.11.2019 - 09.11.2019
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Von
Beatrice Schuchardt, Universität Münster

Ausgehend von der negativen Darstellung von Fabrikanten und Unternehmern in Literatur und Presse seit dem 19. Jahrhundert und daraus resultierenden einseitigen Darstellungen des Arbeiters als einer sozial marginalisierten, unterdrückten und ausgenutzten Figur sowie der nur marginalen Rolle von Handwerkern, die ab 1900 kaum mehr von literarischer Relevanz sind, beleuchtete die in englischer und spanischer Sprache abgehaltene internationale Tagung positive Entwürfe von Unternehmern, Tagelöhnern, Handwerker/innen, Bauern und Bäuerinnen in der Epoche der europäischen Aufklärung (1700–1788). Die Tagung ging von der Hypothese aus, dass die Aufklärung als „heroisch-experimentelle“ Epoche der Produktion zu betrachten sei, in der sich der Fokus der Darstellung noch nicht auf die Dichotomie Ausbeuter versus Ausgebeutete verengt hat, sondern ein breitgefächertes Feld umfasst, dem neben Fabrikanten und den für sie tätigen Arbeitern auch Handwerker, nicht-angestellte Werktätige sowie Bauern und Landarbeiter angehören. Unternehmer/innen1, Arbeiter/innen, Handwerker/innen sowie Bauern und Bäuerinnen wird, so lautete die Vorannahme, als „Wirtschaftsheld/innen“ ein Modellcharakter zugewiesen, der in der Literaturgeschichte einmalig ist. Im Zuge der sich im 18. Jahrhundert wandelnden Geschlechterordnung war der Tagung besonders an dem Nachweis des Umstands gelegen, dass weibliche Akteure unter den produzierenden Menschen eine zuvor nicht dagewesene Beachtung finden. Deshalb kam dem Genderaspekt ein besonderer Stellenwert zu.

In einem interdisziplinären Ansatz versammelte die Tagung Wissenschaftler/innen aus den Disziplinen der Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften sowie aus den Philologien der Anglistik, Hispanistik, Frankoromanistik und Italianistik, um wirtschaftstheoretische Überlegungen, wie sie in der Traktatliteratur des europäischen 18. Jahrhunderts formuliert werden, zu journalistischen und literarischen Darstellungen von Repräsentanten produzierender Berufe in Beziehung zu setzen. Ein spezielles Augenmerk richtete die Tagung neben England und Frankreich auf die iberische Halbinsel als einem in älteren wie jüngeren Studien zur europäischen Aufklärung immer noch marginalisierten Raum, der gemeinsam mit dem ebenfalls durch die Tagung in den Blick genommenen Italien eine „europäische Peripherie“ zu bilden scheint.

Die auf der Tagung aufgeworfenen Fragen untersuchten die Darstellung von Protagonist/innen der Produktion in den im 18. Jahrhundert populären Medien Theater, Roman und Presse und nahmen zugleich die diskursiven, insbesondere die wirtschaftstheoretischen, aber auch die kulturellen und sozialanthropologischen Grundlagen in den Blick, auf denen diese Darstellungen beruhen. Deren ideologisch-doktrinäre Komponente analysierte die Ökonomin DEIRDRE MCCLOSKEY (Chicago) in ihrer Keynote zum Aufstieg des Bürgertums im Zuge der Verbreitung eines aufklärerischen Liberalismus und den daraus resultierenden, auch gegenwärtig noch global spürbaren ökonomischen Entwicklungen. Den wirtschaftstheoretische Achsen dieser Grundlagen widmeten sich auch FELIX SPRANG und NATHALIE ROXBURGH (beide Siegen) in ihren jeweiligen Beiträgen zu Wissensproduktion und Freizeit in den sogenannten Aerial Studies (Sprang) sowie zum Eigentumsrecht bei Defoe und Locke und den daraus sich für wirtschaftliche Akteure des englischen 18. Jahrhunderts ergebenden Möglichkeiten. CHRISTOPH STROSETZKI (Münster) untersuchte in seinem Vortrag seinerseits anhand der deutschen Übersetzung des Dictionnaire universel de commerce die Rezeption des Konzeptes des ehrbaren Kaufmanns und seine aufklärerische Aktualisierung in verschiedenen nationalen Kontexten.

Da die Tagung einen besonderen Schwerpunkt auf die Rollenbilder legte, die mit der Darstellung vor allem produzierender Frauen verbunden sind, und Wirtschaftsverhalten also geschlechtlich kodieren, widmeten sich gleich mehrere Beiträge diesem Thema, so auch der Hispanist DAVID T. GIES (Charlottesville) in seiner Studie der Darstellung arbeitender Frauen im spanischen Theater des 18. Jahrhunderts oder ELENA SERRANO (Berlin/Valencia), die Frauen und weibliches Wissen in der Ökonomischen Gesellschaft von Madrid aus historischer Perspektive betrachtete. Dabei nahm sie zugleich auf zahlreiche Bildquellen der Epoche Bezug. Die Rolle von Frauen im Wirtschaftsgeschehen untersuchte auch ANA HONTANILLA (Greensboro) in ihrem ebenfalls durch historisches Bildmaterial anschaulich unterfütterten Beitrag zur Figur der maja als Arbeiterin im Theater des spanischen Dramatikers Ramón de la Cruz. Die vielgestaltige Darstellung der auf dem Heiratsmarkt versiert wirtschaftenden Frau in den Dramen Goldonis, und damit aufklärerische Aktionsräume weiblichen wirtschaftlichen Handelns, analysierte ESTHER SCHOMACHER (Friedrichshafen).

Gezielt fragte die Tagung nach den korrekten Beziehungen zwischen wirtschaftstheoretischen Überlegungen, wie sie sich in der ökonomischen Traktatliteratur finden, und Darstellungen von Protagonist/innen der Produktion in den Unterhaltungsmedien Theater und Roman sowie in der Presse. Dieses Themenfeld nahmen auf die Figur des Unternehmers fokussierte Beiträge in den Blick, etwa der von KLAUS DIETER ERTLER (Graz) zur Darstellung des Entrepreneurs in der Presse oder die Studien zum Unternehmertum im aufklärerischen Spanien, die JAN-HENRIK WITTHAUS (Kassel) am Beispiel Goyeneche y Gastóns und CHRISTIAN VON TSCHILSCHKE (Münster) anhand von Pablo de Olavide untersuchten. Dabei wurde auch die Möglichkeit einer propagandistischen Indienstnahme von Theater, Roman und Presse durch die neue Politische Ökonomie der Aufklärung diskutiert, etwa in der Analyse von ANDREAS GELZ (Freiburg) zur Nation als ökonomischer Akteur in spanischen Apologien des 18. Jahrhunderts oder in dem Vortrag von BEATRICE SCHUCHARDT (Münster) zu den Wurzeln, die die theatrale Inszenierung von Protagonist/innen der Produktion ihrerseits in der Politischen Ökonomie sowie der Wirtschaftstheorie der Epoche hat. Mit der politischen Indienstnahme der Literatur rückten aber auch Widerstände in den Fokus der Betrachtung, etwa im Beitrag von CLAIRE PIGNOL (Paris) zur Verweigerung unternehmerischen Kalküls in Rousseaus Émile und Goethes Wilhelm Meister.

Als besonders augenfällig erwies sich im Hinblick auf die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen ökonomischen Traktaten und literarischer Produktion der Einfluss der physiokratischen Doktrin auf die Darstellungen des ländlichen Idylls, wie sie SUSANNE SCHLÜNDER (Osnabrück) in ihrer Untersuchung des Zusammenhangs von aufklärerischem Naturverständnis und der Konzipierung der Landwirtschaft im Spanien des 18. Jahrhunderts in den Blick nahm. Der Beitrag von ANNIKA NICKENIG (Berlin) fokussierte seinerseits anhand von Saint Pierres Paul et Virginie das „natürliche’Inselidyll“ im Gegensatz zur Artifizialität der durch den Menschen initiierten Produktionsprozesse. Wie die Beiträge des Ökonomen NILS GOLDSCHMIDT (Siegen) und des Romanisten URS URBAN (Berlin) zeigten, erweist sich das Inselidyll spätestens seit der Gattung der Robinsonade als idealtypisches aufklärerisches Laboratorium wirtschaftlichen Handelns. Während Goldschmidt den Nachhall von Defoes Robinson Crusoe anhand zahlreicher Beispiele von wirtschaftswissenschaftlichen Deutungen (und auch Fehldeutungen) bis in Lehrbücher der Gegenwart hinein nachwies, widmete sich Urban den lateinamerikanischen und französischen Prätexten des Robinson.

Ein wesentliches Ergebnis der Tagung war, dass sich zwischen der ökonomischen Theoriebildung und der literarischen Produktion unmittelbare Wechselwirkungen nachweisen lassen, die auf innereuropäischen Rezeptionsprozessen beruhen und über Gattungs-, Medien- und Ländergrenzen hinaus verlaufen. In Bezug auf im Zuge der Aufklärung sich verändernde weibliche Geschlechterrollen wurde deutlich, dass sich das Aufgabenfeld weiblicher Figuren im 18. Jahrhundert nicht mehr nur auf die familiäre Haushaltsführung beschränkt. Vielmehr sind Frauen, sei es in den Desideraten der Politischen Ökonomie, sei es in ihrer literarischen Inszenierung, sei es faktisch, in unterschiedlichen Funktionen aktiv an Produktionsprozessen beteiligt. Dieser Umstand manifestiert sich, wie die Beiträger/innen zeigen konnten, in ökonomischen Traktaten ebenso wie in den literarischen und journalistischen Erzeugnissen der Epoche. Überdies stellte sich heraus, dass der Themenkomplex der im Tagungstitel bezeichneten „Protagonist/innen der Produktion“ angesichts

a) einer Vielzahl von ökonomischen Traktaten und Theorien zum Handwerk sowie zu arbeitenden und produzierenden Männern und Frauen,

b) der thematischen Prominenz von Figuren wie dem vir faber und der femina fabra in Literatur und Presse2,

c) zahlreicher in England, Frankreich, Spanien und Italien entstehender Theaterstücke und Novellen, die figurale Typen produzierender Menschen in verschiedenen Arbeitsfeldern inszenieren, aber auch angesichts

d) zahlreicher Darstellungen arbeitender Menschen in den bildenden Künsten und insbesondere in der Grafik und Malerei
als ein zentraler, aber bisher zu sehr vernachlässigter Bereich der europäischen Aufklärungsforschung gelten kann. Auch herrschte unter den Tagungsbeteiligten Einigkeit, dass dazu weiterführende, vor allem länder- und disziplinenübergreifende Studien ebenso fruchtbar wie notwendig sind. Diese Studien wurden durch die Tagung angestoßen und sollen im gleichnamigen Tagungsband zeitnah bereitgestellt werden.

Zu besonders fruchtbaren Einsichten gelangten die Tagungsteilnehmer/innen bezüglich der Verschränkung von ökonomischer Theorie und literarischer Produktion bei der figuralen Darstellung männlicher und weiblicher (Proto-)Typen aus dem Arbeitsleben: Konnte die Konferenz zeigen, dass der Merkantilismus und Colbertismus sowie der Industrialismus neben einer Aufwertung von Luxusgütern auch in Figurentypen wie den ehrbaren Kaufmann und den philanthropen Unternehmer münden, sind die französische Physiokratie, der spanische Agrarismus und die Agronomie anglophoner Prägung für eine Aufwertung des Landlebens insgesamt und insbesondere des Bauern und der Bäuerin ursächlich – eine Entwicklung, die die Gattung der Robinsonade bereits präfiguriert. Auch zeigten die Beiträge, dass insbesondere im Kontext der aufklärerischen Repräsentation des Bauern, der Bäuerin und des agrarischen Tagelöhners eine literarische Sublimierung dieses ehemals verachteten und noch vor 1700 der literarischen Lächerlichkeit preisgegebenen Berufsstandes greift.

Mit den Protagonist/innen der Produktion rückten aber auch ihre Gegenbilder, die Verschwender/innen, Faulen, Tunichtgute, aber auch die Bettler und Besitzlosen in den Fokus der Tagung und damit eine Armut, die nicht notwendigerweise nur die Unproduktiven, sondern auch die Produzent/innen der unteren gesellschaftlichen Schichten kennzeichnet. Dies zeigte der Beitrag von MANFRED TIETZ (Bochum) in besonders anschaulicher Weise anhand des Bildes des Armen, das im aufklärerischen Frankreich und Spanien zwischen Kriminalisierung und dem Bedürfnis, diesem die Menschenwürde zuzuerkennen, schwankt. Nichtsdestotrotz scheinen Besitzlosigkeit, Schulden und Unmoral hingegen in den betrachteten aufklärerischen Narrativen stets ein Merkmal der Untätigen zu sein. Damit konnte die Tagung die Kopplung von Ökonomie und Moral zu einer aufklärerischen Moral- und Affektökonomie herausarbeiten.

Insgesamt kann festgehalten werden, dass der Veranstaltung daran gelegen war, das Konzept der Interdisziplinarität möglichst weitreichend umzusetzen. Dies manifestierte sich etwa in der Kooperation mit dem Centrum für Interdisziplinäre Wirtschaftsforschung unter der Leitung von THOMAS APOLTE (Münster), der die Tagung eröffnete, und dem Zentrum für ökonomische Bildung unter der Leitung von Nils Goldschmidt. Es gelang, die geladenen Philolog/innen, Ökonom/innen und Historiker/innen miteinander ins Gespräch zu bringen und angeregte, auch kontroverse Diskussionen anzustoßen.

Konferenzübersicht:

Thomas Apolte (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Welcoming Speech

Deidre McCloskey (University of Chicago): The Bourgeois Revaluation and the Rise of Liberalism, 1648–1848

Natalie Roxburgh (Universität Siegen): Defoe, Locke, and the Emergence of Economically Constructed Property

Felix Sprang (Universität Siegen): Baldwin’s Airopaidia (1786) and Harrington’s Treatise on Air (1791). Aerial Studies, Leisure, and Knowledge Production

Christoph, Strosetzki (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): The Dictionnaire universel de commerce (1723) and its Translation by Carl Günther Ludovici

Annika Nickenig (Humboldt-Universität zu Berlin): Idyllic Industries. Natural vs. Human Productivity in Bernardin de Saint-Pierre’s Paul et Virginie

Claire Pignol (Maison des Sciences Économiques, Paris): Goethe’s Wilhelm Meister and Rousseau’s _Émile:. Two Characters Reluctant to Entrepreneurship

Susanne Schlünder (Universität Osnabrück): On the (Un)Productivity of Agriculture – Human-Environment Relations and Concepts of Nature in Eighteenth Century Spain

Andreas Gelz (Universität Freiburg): The Nation as Economic Agent in Spanish Eighteenth Century Apologetic Texts

Urs Urban (Humboldt-Universität zu Berlin): The Literary Genealogy of the Working Man. Protagonists of Production in Spanish- and French-speaking Pretexts of Robinson Crusoe (Inca Garcilaso de la Vega and François Leguat)

Nils Goldschmidt (Universität Siegen): Robinsonades in Literature and Economics

Esther Schomacher (Zeppelin Universität, Friedrichshafen): Work it, Baby! Goldoni’s Women as Entrepreneurs on the Marriage Market

Elena Serrano (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin/Universidad de Valencia): Gender, Useful Knowledge, and Literary Female Natural Philosophers in the Madrid Economic Society c.1780

David T. Gies (University of Virginia, Charlottesville): Two Women, Two Ways. Economy and Theater in Enlightenment Spain

Ana Hontanilla (Greensboro): Maja’s Labors’ Lost in Ramón de la Cruz’s Sainetes. The Micro Aggressions of Everyday Life

Jan Henrik Witthaus (Universität Kassel): Entrepreneurship in Eighteenth Century Spain. The Case of Juan de Goyeneche y Gastón

Christian von Tschilschke (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Between State-Managed Reforms and Private Utopia. The Entrepreneurial Projects of Pablo de Olavide

Beatrice Schuchardt (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): From “Civilian Heroes” to Male and Female “Protagonists of Production”

Manfred Tietz (Universität Bochum): La pobreza entre dignidad y criminalización en las Luces francesas y españolas

Klaus-Dieter Ertler (Universität Graz): Entrepreneurs in the moral press of the “Spectators”

Anmerkungen:
1 Dass die Unternehmerin beispielsweise in der deutschen Literatur erst im beginnenden 21. Jahrhundert literarische Relevanz erlangt, hat Franziska Schößler, Femina oeconomica. Arbeit, Geschlecht und Konsum in der Literatur. Von Goethe bis Händler, Frankfurt am Main 2017 gezeigt.
2 Zu den Begriffen vir faber, femina fabra und „Protagonist/innen der Produktion“ vgl. Beatrice Schuchardt, Ökonomie in spanischen Komödien der Spätaufklärung, Frankfurt am Main, in Vorbereitung.