16. Werkstattgespräch zur DDR-Planungsgeschichte

16. Werkstattgespräch zur DDR-Planungsgeschichte

Organisatoren
Harald Engler / Monika Motylinska / Kai Drewes, Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschng (IRS), Historische Forschungsstelle, Erkner; Hans-Georg Lippert, Technische Universität Dresden, Lehrstuhl für Baugeschichte; Hans-Rudolf Meier, Bauhaus-Universität Weimar, Lehrstuhl für Baugeschichte und Denkmalpflege; Harald Kegler, Universität Kassel, Zentrum für Planungsgeschichte
Ort
Erkner
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.01.2020 - 24.01.2020
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Von
Jannik Noeske, Institut für Europäische Urbanistik, Bauhaus-Universität Weimar

Die Beschäftigung mit dem städtebaulichen und architektonischen Erbe der DDR ist eine wichtige wissenschaftliche Sendung des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner bei Berlin. Die Werkstattgespräche bieten eine Plattform, NachwuchswissenschaftlerInnen und etablierte ForscherInnen mit ZeitzeugInnen in Kontakt zu bringen und den Austausch zwischen Forschung und persönlicher Erfahrung zu befruchten. Sie vereinen eine Vielzahl von wissenschaftlichen Zugängen zur Historiografie von Architektur, Städtebau und Stadtplanung. Das diesjährige Kolloquium zeigte einmal mehr die Bandbreite der zu erforschenden Themen. Der Anspruch, „neue Forschungen zur DDR-Planungsgeschichte“ zu präsentieren, äußerte sich darin, dass viele Beiträge unerforschtes Gebiet erschließen und beispielsweise neue methodische Zugänge zur Diskussion stellten.

Schon der erste Beitrag von NICOLAS KARPF und GRETA PAULSEN (Leipzig), die im Rahmen eines Kunstgeschichts-Seminars Interviews mit ZeitzeugInnen aus Architektur und Städtebau führten, stellte das Verhältnis von individuellen Freiräumen, der Arbeit im Kollektiv sowie die Vorgaben des zentralisierten Bauwesens heraus. Die im Studienprojekt unter Leitung von Arnold Bartetzky geführten Interviews werden derzeit für ein Publikationsprojekt aufbereitet. STEFANIE BRÜNENBERG (Erkner) und SOPHIE STACKMANN (Bamberg) präsentierten anschließend erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes am IRS zur Darstellung von Architekturkollektiven in Medien der DDR.

Aufschlussreich für das Verständnis von Akteuren und Strukturen der DDR-Architektur waren die beiden folgenden Beiträge. ULLRICH HARTUNG (Berlin) vermochte einen konstruktiven Zugang zu Typenlösungen eng mit der Werkbiografie des in der DDR wichtigen Architekten Richard Paulick zu verknüpfen, während ROMAN HILLMANN (Bochum) neueste Ergebnisse zu Forschungen zu baukonstruktiven Lösungen im Typisierungsprozess für Skelettbauten vorstellte – dies mit der Absicht, den „Charakter“ der DDR-Architektur unter besonderer Bedeutung von institutionellen Rahmenbedingungen einer fordistischen Gesellschaftspolitik zu ermitteln. Beide Beiträge zeigten, wie klein die Forschungsdesiderata der DDR-Bauforschung teilweise geworden sind und inwieweit eine Erweiterung des methodischen Fragenkatalogs produktiv für die weitere Erforschung sind.

Die Beiträge von TANJA SCHEFFLER (Dresden) zur Leipziger Messe in den 1940er- und 1950er-Jahren, von ANDREAS KRIEGE-STEFFEN (Dresden) zum Neuaufbau der Dresdner Innenstadt um 1950 sowie von ANNE KLUGE (Dresden) zum inzwischen abgerissenen Interhotel „Motel Dresden“ zeigen die Präzision, mit der inzwischen zu diesen Themen geforscht wird.

Bis heute beinahe gänzlich unbeachtet geblieben ist dagegen die Rolle der Sicherheitsinstitutionen für das Bauwesen. Ein Forschungsprojekt von EMINE SEDA KAYIM (Ann Arbor/Michigan) widmet sich nun erstmals der Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Dass es sich bei den einzusehenden Akten zu DDR-Zeiten um Dokumente der höchsten Vertraulichkeitsstufen handelte, ist selbstverständlich. Seit nunmehr 30 Jahren (und damit 30 Jahren Architekturforschung zur DDR) sind die Stasi-Akten allerdings zugänglich und stünden damit einer Erforschung zur Verfügung. Angesichts einer Geschichtspolitik, die die Erinnerungsarbeit auf „Täter und Opfer der Stasi“ zu reduzieren versucht1, ist dieser Aspekt der Baugeschichte bis heute erstaunlich wenig beleuchtet worden. Bis dato sind bei einigen durch das MfS realisierten Gebäuden, insbesondere durch den dem Ministerium zugeordneten „VEB Spezialhochbau“, genaue Angaben zu Nutzungsdauer und -zweck nicht bekannt – ganz zu schweigen von durch die Stasi (um-)gebauten Wohnungen, Häusern und ganzen Nachbarschaften. Die Historiografie-Forschung wird möglicherweise in der Zukunft eine Erklärung für diesen bis jetzt eher neglektischen Umgang liefern.

Mit dem zeitlichen Abstand erscheinen nun auch die 1980er-Jahre mit ihrer Fokussierung auf die Innen- und Altstädte verstärkt auf der Bildfläche der DDR-Städtebauforschung. THOMAS HOSCISLAWSKI (Leipzig), noch mit dem etwas erweiterten Blick auf die gesamte Zeit der DDR, untersuchte Strategien der Stadterneuerung anhand der Leipziger Ostvorstadt und zeigte das Spektrum der Bemühungen um die Sanierung der Altbauviertel – und dass die verkürzte Sichtweise, die DDR sei generell „gegen Altstädte“ gewesen, nicht zutrifft.2

Fast ganz neu ist zudem der Zugriff auf bürgerschaftliches Engagement gegen Verfall und Abriss von innerstädtischen Wohnquartieren, der derzeit unter anderem am IRS entwickelt wird. ANJA SCHRÖTER (Berlin) präsentierte Ergebnisse von Forschungen zu Initiativen in Berlin und Schwerin, die sie am Zentrum für Zeithistorische Forschung begonnen hat und nun als Mitarbeiterin der Robert-Havemann-Gesellschaft fortführt. Sie arbeitet vor allem mit dem Begriff der Zivilgesellschaft, den sie als „freiwillige, über private Interessen hinaus, (teil-)öffentlich wirksame und selbstorganisierte Vergemeinschaftung“ versteht. JULIA WIGGER (Erkner) hingegen untersucht im Rahmen des Verbundprojektes „Stadtwende“ dieses Engagement mit den Methoden der historischen Bewegungsforschung. Der Beitrag von ANDREAS BUTTER (Erkner) zur Darstellung von Altstadtthemen in der Fachzeitschrift „Deutsche Architektur“ bzw. „Architektur der DDR“ lud dazu ein, die DDR-Stadterneuerung und die Wiederentdeckung der Altstädte seit den 1970er-Jahren in einem größeren Bogen zu erforschen. Alle drei Beiträge zeigten, wie die „Altstädte“ – die jedoch zu sozialistischen Stadtzentren uminterpretiert und -gestaltet werden sollten – gesellschaftsprägend für die DDR wurden. Wenngleich die Zahlen der an den Initiativen und Treffen Teilnehmenden im Vergleich zur Umwelt- oder Friedensbewegung vergleichsweise klein waren, konnten durchaus, teilweise sogar spektakuläre, Erfolge vorgewiesen werden: Es wurden Ausstellungen organisiert, ganze Straßenzüge vor dem Abriss bewahrt oder über systemkonforme Methoden wie Eingaben oder die Wohnbezirksausschüsse Einfluss ausgeübt.

Methodisch aufschlussreich war der Beitrag von FRANZISKA KLEMSTEIN (Weimar), die sich mithilfe einer Graphdatenbank dem Leben und Werk des DDR-Denkmalpflegers Fritz Rothstein näherte. Die Graphdatenbank ermöglicht es, Erkenntnisse durch die semantische Verknüpfung von Datensätzen zu erlangen. So weit, so etabliert. Die Möglichkeit, digitale Methoden in die (Architektur-)Geschichtsforschung einzuführen, ist keineswegs neu, und einige Beiträge des Werkstattgesprächs hatten schon – mehr oder weniger bewusst – Ergebnisse solcher Forschungsstrategien gezeigt. Klemstein konnte ihre Arbeitsweise anschaulich darstellen, die Rückfragen waren insbesondere technischer Natur – wohl auch, weil die strategische Implementation von digitalen Methoden in den Forschungsprozess noch alles andere als selbstverständlich ist. Angesichts dieser Nachfragen kamen die üblichen wissenschaftstheoretischen Bedenken – Präfiguration der Ergebnisse durch die Methode, Positivismus-Verdacht, vermeintlicher Objektivitätsanspruch usw. – etwas zu kurz. Hier wird weiter zu beobachten sein, was die Forschungsgemeinschaft hervorbringt. Die Methode der Referentin konnte an dieser Stelle jedenfalls überzeugen.

Das Panel zu Entwicklungen im ländlichen Raum ist vermutlich dasjenige mit der größten Ausstrahlungskraft auf die heutige Zeit, da die Historiografie, und damit teilweise auch die Historisierung, erstens noch nicht weit fortgeschritten ist und zweitens die Kontinuitäten seit der Industrialisierung des ländlichen Raums in der DDR bis heute spürbar sind. FRIDTJOF FLORIAN DOSSIN (Bamberg) erläuterte das Konzept der „Ländlichen Siedlungszentren“ im Kontext der industrialisierten DDR-Landwirtschaft. Diese Siedlungszentren seien weder sozialistische Musterdörfer, wie sie noch in den 1950er-Jahren konzipiert worden waren, noch einfach „Platten auf dem Acker“, wie Erzeugnisse des industrialisierten Wohnungsbaus häufig vereinfachend dargestellt werden. Vielmehr handele es sich um eine eigenständige städtebaulich-raumplanerische Kategorie, die in der Ausprägung einer sozialistischen Lebensweise auf dem Land eine wichtige Rolle spielen sollte. Auch JULIA ESS (Cottbus) behandelte mit der Umsiedlung ganzer Dorfgemeinschaften für den Tagebau ein zwar im weitesten Sinne städtebauhistorisches Thema, das aber durchaus Relevanz für aktuelle Debatten zum Braunkohleabbau aufweist.

Zwei Beiträge zur Ausbildung von ArchitektInnen, PlanerInnen und IngenieurInnen in Weimar (ILONA HADASCH, Kassel/Wien) sowie Wismar und Cottbus (ELKE RICHTER, Cottbus) leisteten wertvolle Hinweise zu den determinierenden Faktoren des DDR-Bauwesens und fanden – und das ist wenig überraschend – sichtlich Anklang bei den anwesenden ZeitzeugInnen.

Nicht bloß an dieser Stelle zeigten sich einmal mehr Produktivität und Problematik des Formates der IRS-Werkstattgespräche. Dass Forschungsergebnisse auch vor ZeitzeugInnen verteidigt werden müssen, ist jedoch eine zentrale Herausforderung der Zeitgeschichtsforschung. So ist es kein Wunder, dass sowohl die Fachleute von damals als auch die ForscherInnen eine systematischere Einbeziehung der Erfahrungen in die Forschung vorschlagen. Dies ist dem Werkstattgespräch auch zu empfehlen – allerdings nicht in Form der eingeforderten Ko-Referate. Für die strukturierte Aufbereitung von Meinungen und Erinnerung damals Beteiligter hat die zeithistorische Forschung Methoden der Oral-history-Forschung erarbeitet, die das Erinnerte und Erzählte kontextualisieren und überhaupt handhabbar machen. Forschungsergebnisse durch Ko-Referate von ZeitzeugInnen öffentlich relativierbar zu machen, gehört indessen nicht dazu. Dennoch sei dem Organisationsteam hier zumindest eine Überlegung angeraten, wie die durchaus wertvollen Brücken zwischen den Generationen erhalten und weiter ausgebaut werden können. Diese Möglichkeit muss in den kommenden Jahren genutzt werden; es müssen aber auch Wege gefunden werden, die Erinnerungen der ZeitzeugInnen langfristig zu systematisieren, zu speichern und zugänglich zu machen.

So passte auch der Beitrag von MARK ESCHERICH (Weimar), der Architekturen der DDR auf schlüssige und lebendige Weise mit Denkmalpflege und emotionalen Werten in Verbindung brachte. Er betonte, dass nicht zuletzt spontane Solidarisierungen und subjektive Inwertsetzungen, auch durch ehrenamtliche DenkmalpflegerInnen, für die Unterschutzstellung von DDR-Baudenkmälern – neben der Arbeit zum Beispiel von Universitäten und natürlich der Landesdenkmalämter – wichtig seien. Diesen Prozess veranschaulichte er anhand der Untersuchung von Schulbauten.

Fazit: Die Werkstattgespräche müssen auch Widersprüche aushalten. So handelt es sich zweifelsohne um ein wichtiges Vernetzungstreffen nicht nur horizontal zwischen den WissenschaftlerInnen, die mit unterschiedlichem Profil einschlägig forschen, sondern auch vertikal zwischen den Generationen. Für EinsteigerInnen mag die Einsicht ernüchternd sein, wie eng die Verbindungen zwischen ZeitzeugInnen und WissenschaftlerInnen sind, die teilweise methodische Schwierigkeiten produzieren. Dennoch ist dieser Austausch für die zeithistorische Bauforschung unerlässlich – vor allem wenn man davon ausgeht, dass es sich nicht um eine rein objektbezogene Architekturgeschichtsschreibung handeln soll. Die Werkstattgespräche geben einen Überblick über das Spektrum des Forschungsstandes zum Planen und Bauen in der DDR. Der thematische Umfang, die methodische Vielfalt und die Diskussionen auf unterschiedlichem Niveau unterstreichen den Werkstattcharakter der Tagungsreihe.

Konferenzübersicht:

Harald Engler / Monika Motylinska (beide Erkner): Begrüßung

Sektion 1: Biografische Zugänge

Nicolas Karpf / Greta Paulsen (beide Leipzig): Architektur und Städtebau in der DDR aus der Sicht von AkteurInnen

Stefanie Brünenberg (Erkner) / Sophie Stackmann (Bamberg): Architektenkollektive in Medien der DDR

Sektion 2: Baukonstruktion und Bauweisen

Ullrich Hartung (Berlin): Richard Paulick und die Typen des industriellen Wohnungsbaus 1953 bis 1966 in der DDR

Roman Hillmann (Bochum): Zentrale Rationalisierung versus bezirkliche und betriebliche Eigenentwicklungen im Skelettbau der DDR 1951–1970

Sektion 3: Spezialbauten

Emine Seda Kayim (Ann Arbor, MA): Stasi as Architectural Producer: The Ministry of State Security’s “Building Enterprises for Special Production”

Tanja Scheffler (Dresden): Eine „politische Frage“ – die Umgestaltung und Neustrukturierung der Leipziger Messe während der SBZ- und frühen DDR-Zeit

Anne Kluge (Dresden): Das Interhotel „Motel Dresden“ und die Entwicklung der Raumelementebauweise in der DDR

Sektion 4: Städtebaulicher Neuaufbau und Stadterneuerung

Andreas Kriege-Steffen (Dresden): Städtebauliche Planungen in Dresden um 1950 – Der Wettbewerb für den städtebaulichen Neuaufbau

Thomas Hoscislawski (Leipzig): Die „Rekonstruktion“ der Ostvorstadt – Strategien der Stadterneuerung in Leipzig

Sektion 5: Bürgerinitiativen gegen den Altstadtverfall

Anja Schröter (Berlin): Den Abriss verhindern – lokale Politik gestalten. Altstadtinitiativen und die politische Partizipation vor, während und nach 1989

Andreas Butter / Julia Wigger (beide Erkner): Altstädte. Erhaltungsdiskurse und bürgerschaftliches Engagement

Sektion 6: Planen und Bauen im ländlichen Raum

Fridtjof Florian Dossin (Bamberg): Städtebau und Konzeption Ländlicher Siedlungszentren im Kontext der industrialisierten DDR-Landwirtschaft

Julia Ess (Cottbus): Alte Heimat – Neue Heimat. Braunkohlebedingte Umsiedlungen in der Niederlausitz im Wertewandel (1980er- bis 1990er-Jahre)

Sektion 7: Hochschulen: Architekten- und Ingenieurausbildung

Harald Kegler (Kassel) / Ilona Hadasch (Kassel/Wien): 50 Jahre Städtebau-Lehre an der HAB Weimar

Elke Richter (Cottbus): WI/CB – Die Ingenieurhochschulen in Wismar und Cottbus als Teil der Bauingenieur-Ausbildung in der DDR

Sektion 8: Denkmalpflege und digitale Forschungsansätze

Mark Escherich (Weimar): Denkmalpflegerische Auswahlpraxis zwischen bauhistorischer Wissenschaft und emotionalen Werten

Franziska Klemstein (Weimar): Graphdatenbanken als Forschungsumgebung und Vermittlungsstrategie am Beispiel des Architekten und Denkmalpflegers Fritz Rothstein

Anmerkungen:
1 Dieser Umstand wird immer wieder öffentlich kritisiert, zuletzt zum Beispiel durch den Historiker Karsten Krampitz, vgl. Karsten Krampitz, DDR neu erzählen. Im Auftrag des HAU Hebbel am Ufer anlässlich des Festivals „Comrades, I Am Not Ashamed of My Communist Past – Erinnerungspolitik 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer“, März 2019, https://www.hebbel-am-ufer.de/fileadmin/Hau/festivals_projekte/Comrades/hau_comrades_krampitz.pdf.
2 Zum Forschungsstand der Stadterneuerung in der DDR und zur DDR-spezifischen Verwendung des Begriffs der Rekonstruktion vgl. zuletzt: Andreas Putz, Wo Paul und Paula lebten. Zur Erhaltung und „Rekonstruktion“ des Baubestands in der DDR, in: Tino Mager / Bianka Trötschel-Daniels (Hrsg.), Rationelle Visionen. Raumproduktion in der DDR, Weimar 2019, S. 80–99.


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