Islam in der Praxis – Akteur/innen, Praktiken und Alltag

Islam in der Praxis – Akteur/innen, Praktiken und Alltag

Organisatoren
Ayşe Almıla Akca / Aydın Süer / Buesra Oenay / Mona Feise, Nachwuchsgruppe „Islamische Theologie in der Praxis: Wissenschaft und Gesellschaft“, Zentralinstitut Berliner Institut für Islamische Theologie (BIT), Humboldt-Universität zu Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.11.2019 - 30.11.2019
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Von
Buesra Oenay / Mona Feise, Berliner Institut für Islamische Theologie, Humboldt-Universität zu Berlin

Normativität und Praxis werden nicht als ein Gegensatzpaar betrachtet, zweifellos findet die Auseinandersetzung mit ihren Wirkungsmechanismen oftmals einseitig – häufig „normativ“ – statt. Die erste Veranstaltung der neu gegründeten Nachwuchsgruppe „Islamische Theologie im Kontext: Wissenschaft und Gesellschaft“ veranlasste einen Perspektivwechsel in der Wirkungsrichtung. Mit der Grundhaltung, dass religiöse Praxen stetig zu neuen Aushandlungen von Normen führen, ergab sich das Anliegen, die Performanz des Religiösen stärker ins Blickfeld islamtheologischer Forschung zu rücken, um so die Wissensbestände und Bezüge der Islamischen Theologie zu erweitern und zu übergreifenden Fragen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften beizutragen.

Der zweitägige Workshop zielte darauf ab, Forscher/innen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenzubringen und Praxisfragen aus der Islamischen Theologie und Islamwissenschaft unter praxeologischen Gesichtspunkten herauszuarbeiten. Im Zentrum standen die Fragen, wie sich verschiedenen Erscheinungsformen islamisch-religiöser Praxis adäquat beschreiben und analysieren lassen, was ihre materiellen Elemente sind und welchen geteilten sozialen Sinn Muslim/innen ihren jeweiligen Praxen zuschreiben.

Eröffnet wurde der Workshop durch den Gründungsdirektor des Berliner Instituts für Islamische Theologie MICHAEL BORGOLTE (Berlin). Im Vortrag von AYŞE ALMILA AKCA (Berlin) wurde die Diskussion um die im theologischen Diskurs häufig vorgenommene Einteilung in „normative Wissensbestände“ und „gelebte Religiosität“ aufgenommen. Sie hob hervor, wie wesentlich die begriffliche Unterscheidung von religiöser Praxis, Religionspraxis und religiösen Praktiken ist. Sie definierte religiöse Praktiken als das Zusammenkommen von menschlichen Körpern und religiösen Artefakten, die durch sich ereignende und damit körperlich wie dinglich verankerte religiöse Aktivitäten von Menschen sichtbar werden. Religiöse Praxis sei eine Verkettung religiöser Einzelpraktiken, die einer impliziten und von den Beteiligten nicht immer rationalisierten Logik folgten. Unter Religionspraxis sei wiederum das Praktizieren von Religion und Spiritualität im Sinne der bewussten und reflektierten Anwendung von Religion mit dem Ziel der Heilserlangung zu verstehen.

FRANK HILLEBRANDT (Hagen) nahm sich der Formulierung des Religiösen in sich wandelnden Modernitätstheorien an und ging dabei auf eine analytische Fassung des Religiösen als Artikulation (Laclau/Mouffe), Rechtfertigungsordnung (Boltanski/Thévenot) in der Praxis sowie die Verkörperlichung und Verdinglichung einer Vollzugswirklichkeit ein. Daraus leitete Hillebrandt die praxissoziologische Identifikation des Religiösen her, welche an das Paradigma der materiellen Vollzugswirklichkeit anknüpft. Er zeigte, wie die Prinzipien Ereignis, Körper, Materialität, Ding, Sinn und Formation in die Operationalisierung des soziologischen Begriffs der religiösen Praxis als Vollzugswirklichkeit eingebunden sind. An dieser Stelle endete der öffentliche Teil des Workshops.

Der Beitrag von MAHMUD EL-WERENY (Göttingen) thematisierte den Cyberspace als Raum zur Schaffung sunnitischer und schiitischer Normativität anhand zweier Fallbeispiele. Zum einen die Gratulation nichtmuslimischer Bürger/innen zu ihren religiösen Festen und zum anderen die Begrüßung des anderen Geschlechtes per Handschlag. Er stellte die Frage nach der Bedeutung von Fatwas zur religiösen Ratgebung (iftāʾ) für in Deutschland lebende Muslim/innen und deren Rückgriff auf unterschiedliche Quellen, um ihr Handeln normativ und praktisch zu legitimieren.

FATMA SAGIR (Freiburg) zeigte wie durch die Verwendung individueller visueller Episteme Akteur/innen in sozialen Medien neue Räume und Äußerungsformen schaffen und zugleich Informationsquellen für intime und teils tabuisierte Themen von Muslim/innen kreieren. Mit Fokus auf den visuellen Medienplattformen YouTube und Instagram stellte Sagir die Bewegung der „Mipster“ – ein Neologismus aus Muslim und Hipster – vor und wies auch auf die Bedeutsamkeit finanzieller und unternehmerischer Erfolge muslimischer Influencer/innen hin. Neben materiellen Vorteilen schafften die Mipster in ihrer Verbindung von der Mehrheit der Gesellschaft als gegenläufig betrachtete religiöse, individuelle und visuelle Epistemologien, neue Referenzräume und Äußerungsformen.

Gegenderte und emotionale Praktiken der Selbstkultivierung wirken auf die Herstellung von Geschlechtergrenzen und Erzeugung islamischer Räumlichkeit, wie MIRIAM KURZ (Berlin) in ihrem Beitrag zeigte. Anhand von ethnografischem Material legte Kurz dar, wie räumliche Geschlechtergrenzen im Kontext eines gemischtgeschlechtlichen Seminars und in Jugendgruppen innerhalb von Moscheen reguliert werden. Sie beschrieb ihren Zugang zu den Moschee-Jugendgruppen und stellte ihre Erfahrungen im Feld anhand eines Seminars sowie eines durch die Gruppe organisierten Festes dar. Kurz argumentierte, dass durch die Herstellung von Geschlechterdifferenz und damit verbundene Prozesse der Grenzziehung Formen islamischer Räumlichkeit erzeugt werden und führte zudem die etwaige Bedeutung von Klassenaspekten und die protestantisch geprägte segmentierte Vorstellung von Religion an.

Für Kunst als legitimen Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen und für künstlerisches Schaffen als Träger spezifisch religiösen Gehalts argumentierte NWG-Mitglied AYDIN SÜER (Berlin). Er stellte fest, dass Kunst das Potenzial trägt, als islamische Praxis zu wirken und das Transzendente erfahrbar zu machen. Zur Veranschaulichung zeigte Süer, wie Muslim/innen als Kunstschaffende unterschiedlicher Genres und ästhetischer Repertoires Kunst zum Ausdruck von genuin religiösem Erleben heranziehen: die Comiczeichnerin, die ihre Erfahrungen als Muslima in Deutschland thematisiert, einen Breakdancer, der mystisch-religiöse Einsichten im Tanz verkörpert und einen Maler, der seine abstrakten Gemälde nach Erzählungen aus dem Koran benennt. Süer betonte, dass Kunst dabei nicht lediglich etwas abbilde, was sich außerhalb von ihr ereignet, sondern auch das, was Teil ihres Erschaffungsprozesses ist.

Eine islamtheologisch fundierte Auseinandersetzung mit dem Demenzparadigma entwickelte HADIL LABABIDI (Erlangen). Einleitend beschrieb sie Demenz als Krankheitsbild und legte deren Krankheitsverlauf sowie mögliche Therapieformen dar. Im Anschluss analysierte sie das Krankheitsverständnis im Islam und fragte, welche Implikationen für Menschen mit Demenz und für ihre Angehörige daraus abgeleitet werden können. Die Etablierung einer islamischen Betrachtung von Demenz als Krankheit, als Alterserscheinung und als geistige Beeinträchtigung soll unter anderem Handlungsoptionen für pflegende und betreuende Angehörige schaffen und ein Diskursraum für Demenz im Islam eröffnen.

Hillebrandt eröffnete den zweiten Tag durch einen Impulsvortrag zu Methoden einer Soziologie der Praxis. Exemplarisch skizzierte er am Beispiel der Popmusik (Neue Deutsche Welle) die praxissoziologischen Messinstrumente sowie die Aufbereitung und Auswertung von Datenmaterial. Er kam zu dem Schluss, dass praxissoziologische Fragestellungen eine Methoden-Triangulation benötigen, zumal Praxen aus mehreren Variablen zusammengesetzt seien, darunter Materialität, Ereignishaftigkeit, praktischer Sinn und Artefakte.

FARAH HASAN (Berlin) beschäftigte sich unter dem Titel „Muslimische Instagram-Influencerinnen“ mit dem Identitätsstiftungsprozess junger Musliminnen im Cyberspace. Für sie stellte sich die Frage, in welcher Form und inwieweit religiöse Praktiken durch Instagram-Influencerinnen initiiert werden. Anknüpfend an mehreren Beispielen von muslimischen Instagram-Profilen argumentierte sie, dass mit steigender Reichweite der Personen die „muslimisch“ codierten Inhalte der Beiträge abnehmen würden. Eine mögliche Erklärung dieses Phänomens seien die erhöhten finanziellen Anreize, die in Korrelation mit einer erhöhten Reichweite stehen.

MONA FEISE (Berlin) referierte zu religiösen Praxen in interreligiösen Partnerschaften und Familien. Sie stellte den aktuellen Diskurs zu muslimisch-interreligiösen Partnerschaften, sowohl aus sozialwissenschaftlicher als auch aus islamtheologischer Perspektive, dar. Während die Sozialwissenschaften sich häufig auf quantitative Statistiken beriefen, werde der islamtheologische Diskurs von normativ-idealtypischen Paarnarrativen dominiert. Durch die Erweiterung dieser zwei Herangehensweisen mit qualitativ-empirischen Methoden sei es möglich, die paarspezifischen Aushandlungsprozesse in einem interreligiösen Nahfeld als einen selbstgenerierten Bedeutungszusammenhang herauszuarbeiten und die Autorisierungsprozesse in Partnerschaften nachzuzeichnen.

BUESRA OENAY (Berlin) setzte sich mit religiösen Praktiken von muslimischen Älteren auseinander. Angesichts des demographischen Wandels korrelierten steigende Lebenserwartungen mit oftmals längeren Krankheitsphasen, die durch abnehmende Geburtenraten begleitet würden. Trotz dieser Entwicklung fehle es gänzlich an empirischen Arbeiten zu gerontologischen Fragestellungen in der islamischen Theologie. Auf Basis von ethnographischen Daten zeigte Oenay auf, dass eine Selektion der religiösen Praktiken von älteren Muslim/innen nach körperlicher Beschaffenheit stattfinde. Diese werde durch eine Optimierung bestehender religiöser Praktiken ergänzt, wohingegen fehlende Fähigkeiten durch den Einsatz von Hilfsmitteln kompensiert würden. Die religiösen Praxen seien gleichzeitig Messinstrumente der eigenen körperlichen Funktionsfähigkeit.

DILEK UCAK EKINCI (Fribourg) schloss den Workshop mit einem Beitrag zur islamischen Seelsorgeforschung. Ekinci warf vor dem Hintergrund der aktuellen wissenschaftlichen Debatten zu muslimischer Seelsorge im Krankenhaussetting die Frage auf, inwieweit bereits aktuell eine spirituelle Gesundheitsversorgung im Krankenhaus durchgeführt werde. Auf Basis von Gesprächsprotokollen der Seelsorger/innen und den eigenen Erfahrungen als Seelsorgerin berichtete sie von Aufgabengebieten und alltäglichen Herausforderungen. Der „Seelsorge-Begriff“ führte zu einer kontroversen Diskussion über die normativen Grundlagen der Seelsorge aus islamtheologischer Perspektive und den adäquaten Umgang mit der „christlichen“ Konnotation des Terminus.

Abgeschlossen wurde die Tagung mit einer Reflexion der Ergebnisse des gesamten Workshops durch SARA BINAY (Berlin), Hillebrandt, Akca und Süer. Bilanziert wurde, dass sich die praxissoziologischen Elemente, bestehend aus materiellen, körperlichen und dinglichen Einheiten, an unterschiedlichen Orten wie im Cyberspace, in den Moscheen oder in Partnerschaften reproduzieren. Akca betonte, dass praxissoziologische Forschungsansätze als eine Ergänzung der aktuell stark normativen und textbasierten Ausrichtung der islamischen Theologie in Deutschland zu betrachten seien.

Die Vorträge zeigten durch ihre Interdisziplinarität die vielfältigen Zugänge auf die religiösen Praxen von Muslim/innen auf und erweiterten den Diskurs innerhalb der islamischen Theologie um die Vollzugswirklichkeit des „Religiösen“. Es bieten sich nun neue Anknüpfungspunkte und Fragestellungen zum Verhältnis von Praxis und Norm, die es in zukünftigen Veranstaltungen zu klären gilt.

Konferenzübersicht:

Michael Borgolte (Humboldt-Universität zu Berlin): Begrüßung

Ayse Almila Akca (Humboldt-Universität zu Berlin): Einführung in die Tagung und Vorstellung der NWG

Ayse Amila Akca (Humboldt-Universität zu Berlin): Religiöse Praxis, Religionspraxis und religiöse Praktiken: Impulse für die theologische und soziologische Forschung

Frank Hillebrandt (FernUni Hagen): Was ist Praxis und was ist Praxissoziologie der Religion?

Workshop 1: „Verflechtung Praxis und Norm“

Miriam Kurz (Freie Universität Berlin): Ich sehe was, was du nicht siehst – Geschlechtergrenzen im Moscheeraum. Eine praxeologische Perspektive

Mahmud El-Wereny (Universität Göttingen): Islamische Normativität und muslimische Lebenspraxis im deutschen Kontext – Sunnitischer und schiitischer Standpunkt

Fatma Sagir (Universität Freiburg): Wie forschen wir zu muslimischen Frauen? Forschungspraxis und Positionalität in digitaler Umgebung und im Feld

Aydin Süer (Humboldt-Universität zu Berlin): Kunst als Form islamisch-religiöser Praxis

Hadil Lababidi (Universität Erlangen-Nürnberg): Demenz aus islamischer Perspektive: Verflechtungen normativen Wissens mit der Praxisforschung

Sara Binay (Humboldt-Universität zu Berlin): Zwischenerkenntnisse

Workshop 2: „Doing Religion im Alltag“

Frank Hillebrandt (FernUni Hagen): Methoden einer Soziologie der Praxis

Farah Hasan (Humboldt-Universität zu Berlin): Muslimische Instagram-Influencerinnen

Mona Feise (Humboldt-Universität zu Berlin): Religiöse Praxis in interreligiösen Familien

Buesra Oenay (Humboldt-Universität zu Berlin): Religiöse Praktiken bei muslimischen Senior/innen

Dilek Ucak Ekinci (Universität Freiburg): Case Studies: Ein Fall für die islamische Seelsorgeforschung?

Frank Hillebrandt / Ayse Almila Akca / Sara Binay / Aydin Süer: Reflexion: Religiöse Praxis in praxissoziologischer Perspektive: Welche Impulse gibt es für Theologie und Soziologie


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