Wissenstransfer über Grenzen und Zeitenwenden. Die Wissenschaftsgeschichte der Gesellschaftswissenschaften in der DDR (1970–1989)

Wissenstransfer über Grenzen und Zeitenwenden. Die Wissenschaftsgeschichte der Gesellschaftswissenschaften in der DDR (1970–1989)

Organisatoren
Christian Dietrich, Axel Springer-Lehrstuhl für Deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration; Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur; Nachwuchsförderung der Kulturwissenschaftlichen Fakultät, Europa-Universität Viadrina
Ort
Frankfurt (Oder)
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.04.2020 - 17.04.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Christoph Kapp, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Ausgehend von der Feststellung, dass die Debatten um die Gesellschaftswissenschaften sich bisher vornehmlich den 1950er- und 1960er-Jahren widmeten, sollte ihre Entwicklung in den letzten zwei Jahrzehnten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) näher in den Blick genommen werden. Schwerpunkte waren dabei die „interdisziplinäre Genese und der transdisziplinäre Transfer von Wissen“. Neben Keynote und Einführung gab es vier Sektionen zur Geschichtswissenschaft, Philosophie, Soziologie und Ästhetik. Die für den 16. und 17. April geplante Tagung fand nicht wie vorgesehen an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, sondern als schriftlicher Austausch statt. Da ein physisches Zusammentreffen nicht möglich war, wurden über vier Wochen hinweg die eingeschickten Beiträge kommentiert und diskutiert.

In seiner Keynote gab PEER PASTERNACK (Halle-Wittenberg) einen Überblick über die bisherige Forschung zu den Gesellschaftswissenschaften in der DDR. Dabei legte er eine Systematik der Bezugnahmen vor, die die Fülle an Material sortieren helfen kann. Neben einer Sichtweise, die die Forscher/innen in der DDR als „Parteiarbeiter an der ideologischen Front“ bewerte, trete die Würdigung von einzelnen „Spitzenergebnissen“, die Arbeiten, die nur im Wissenschaftskontext der DDR verständlich und sinnvoll sind, sowie die „breite Basis solider Forschung […], die überzeitlich nicht belangvoll“ ist in den Vordergrund. Für die bisher erschienen circa 1.900 selbständigen Publikationen und die zahllosen weiteren Aufsätze zum Thema konstatiert er eine „bemerkenswerte Präsenz von Konfliktdarstellungen“, die sich entweder den „Häretiker[n] der marxistischen Gesellschaftswissenschaften“ oder der „Normabweichung“ im „Normalbetrieb“ zuwenden. Drei Gründe sieht Pasternack dafür, dass die Forschungsergebnisse der Gesellschaftswissenschaften in der DDR „weitgehend unsichtbar“ geworden seien: den Vorwurf, sie seien „vollständig durchideologisiert“; das Verschwinden des ganzen Wissenschaftssystems, dessen Verständlichkeit abhänge „von sozialen Trägern – Personen, Gruppen, Institutionen, Zeitschriften“, die nicht mehr im akademischen Rahmen präsent seien; und eine heute nicht mehr unmittelbar verständliche Sprache, die der Dechiffrierung bedürfe. Dafür stellte er ein systematisierendes Decodierungsverfahren vor.

HEINZ-ELMAR THENORTH (Berlin) und ULRICH WIEGMANN (Berlin) zeichneten die Entwicklung der Pädagogik in der DDR nach. War sie bis in die 1960er-Jahre eine „Systembetreuungswissenschaft“, die kaum Wissenschaft genannt werden könne, weil sie unter Rückgriff auf die sowjetische Pädagogik nur nach „handlungsleitenden Formeln“ für ein vorgegebenes ideologisches Programm suchte, wurde sie ab den 1970er-Jahren schrittweise zu einer diese Bezeichnung auch verdienenden Gesellschaftswissenschaft. Angestoßen wurde dieser Prozess in der „Akademie der Pädagogischen Wissenschaften in der DDR“, die nicht nur begann, das Grundkonzept der „kommunistischen Erziehung“ auf seinen Gehalt zu befragen, sondern auch in Kooperation mit anderen Institutionen empirische Forschung betrieb, deren Ergebnisse auf die Grundlagenreflexionen zurückwirkten. Deswegen sei eine Geschichte der Pädagogik in der DDR noch zu schreiben, weil sie, wenn auch nicht „pluralistisch im westlichen Sinne“, „vielschichtiger, […] diverser und […] gebrochener“ gewesen sei, als sie im Rückblick erscheine.

Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft ab den 1970er-Jahren war das Thema von CHRISTIAN DIETRICH (Frankfurt/Oder). Wegen und trotz der „Festlegung des Marxismus-Leninismus als verbindlichem ideologischen Schema“ kam es zu einer „Wissenschaftsdynamik“, bei der an der parteilichen Geschichtsschreibung festgehalten wurde, aber neue Methoden und Themen ins Blickfeld kamen. Während die Einschätzung des Kapp-Putsches von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre im Wesentlichen konstant blieb, nur regionalhistorisch ergänzt wurde, zeigte sich die Faschismusforschung innovativer, weil sie nun auch die „Massenbasis des Nationalsozialismus sowie die Relevanz des Antisemitismus“ untersuchte. Bedingung der Möglichkeit für die neuen Forschungsperspektiven sei das Fehlen von „starken Narrativen […], auf die in der Forschung hätte Rücksicht genommen werden müssen“.

Den Gründen für die „Preußen-Renaissance“ in der DDR ging DANIEL BENEDIKT STIENEN (Berlin) nach. Gegen monokausale Erklärungen, die sie nur als Reaktion auf bundesrepublikanische Impulse oder nur aus der Ablösung der „Zwei-Klassenlinien-Theorie“ durch die „Tradition-und-Erbe-Theorie“, die nun auch nach dem fortschrittlichen Seiten des Klassengegners fragte, oder nur durch den persönlichen Einfluss Erich Honeckers herleiten wollen, betont er die Multikausalität. Die „deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte“, die „historiographisch-methodologische Debatte“ in der DDR und „geschichtspolitische Abwägungen“ seien sich wechselseitig erhellende Begründungen eines „komplexen Phänomens“.

MARTIN KÜPPER (Kiel) resümierte die Forschungen zur Philosophie in der DDR. Quantitativ seien gerade die 1970er-Jahre am wenigstens erforscht. Inhaltich dominierten zwei Sichtweisen, die auf teils fragwürdigen Prämissen beruhen. Werde die Philosophiegeschichte als „Zwickmühle“ verstanden, in der sich die Disziplin „zwischen Ideologie und Erkenntnissuche“, die Philosophen zwischen „Dissidenz und Opportunismus“ befanden, so lege man ein „Autonomieverständnis […] der klassischen deutschen Philosophie“ zugrunde, das selbst historisiert werden muss. Versteht man sie mit Reinhard Mocek als Produkt formaler und realer Vergesellschaftung, drohen die konkreten historischen Bedingungen aus dem Bick zu geraten. Küpper schlägt für eine diese Probleme vermeidende Philosophiegeschichte vor, sie nach der „Rekonstruktion der gesellschaftlichen Gesamtsituation“ als eine „Praxis, Tätigkeit und Arbeit und ferner als Folge und Motor spezifischer Vergesellschaftung“ zu begreifen.

Die Geschichte des kurzlebigen Lehrstuhls für wissenschaftlichen Atheismus an der Universität Jena rekonstruierte DIRK SCHUSTER (Potsdam). Als Grund für dessen Auflösung 1969 arbeitet er methodische, nicht ideologische Differenzen heraus. War man sich einig, dass Religion, wie Marx postuliert habe, eine bürgerliche Herrschaftsideologie sei, die im Sozialismus sukzessive ihre Funktion verlieren werde, lehnte die Abteilung Wissenschaften beim Zentralkomitee der Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) den vom Lehrstuhl angestrebten empirisch mittels Umfragen geführten Beweis dafür ab. Damit verlor auch die sich in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von ihren westlichen Varianten gerade herausbildende Religionssoziologie in der DDR ihre institutionelle Grundlage und somit die öffentliche Sichtbarkeit.

REINER FENSKE (Dresden) präsentierte propädeutische Überlegungen für einen „wissenshistorischen Zugang“ zu den Regionalwissenschaften in der DDR. Ihre Geschichte könne man nicht einfach in Vergleich mit und Abgrenzung zur westlichen Entwicklungssoziologie schreiben, weil sich auf diesem Feld kein „disziplinärer Kern“ und auch keine allgemein anerkannten Methoden herausgebildet haben. Die Regionalwissenschaften seien zudem lange Zeit gekennzeichnet durch einen teleologischen Entwicklungsbegriff, der sich erst in den 1970er-Jahren von „einfachen, schematischen Sichtweisen“ trennte. Eine transnational vergleichende Studie des Wissensgebietes biete deshalb die Möglichkeit, sich von Beengungen durch starre disziplinäre Grenzen zu befreien.

Die „Herauslösung der Ästhetik aus der Kunstphilosophie“ untersuchte JAN LOHEIT (Jena) anhand des „Wörterbuchs der ästhetischen Grundbegriffe“. Weil Lexika Gradmesser der „semantischen Konventialisierung“ seien, könne deren Analyse auch neugewonnene „Freiräume für die disziplinäre Theoriebildung“ anzeigen. Die Konzeption des Wörterbuchs in den 1980er-Jahren zeige so die Auswirkungen einer „multiplen Krise in Ost und West“, die als „Vorbote einer umfassenden ‚Wissensrevolution‘“ gedeutet wurde. Die Krise des Marxismus und die kritische Auseinandersetzung mit der Postmoderne führten zu einer „wachsende[n] Innovationsdynamik marxistischer Theorie“, die im in den 1990er-Jahren beendeten Projekt dann nicht mehr erkennbar ist.

Für die „bisher unzureichend historisch aufgearbeitet[e]“ Fachgeschichte der Musikwissenschaft forderte FREDERIC VON VLAHOVITS (Mainz) eine Sicherung der Quellen. Dafür biete sich die Digitalisierung der „Berichte über die Musikwissenschaftlichen Arbeiten der Deutschen Demokratischen Republik“ an, weil in den 1960er-Jahren – also etwa zur selben Zeit – das „Répertoire International de Littérature Musicale“ publiziert wurde, in das auch die Ergebnisse der „Berichte“ einflossen. Da aber nicht alle Titel an das internationale Projekt gemeldet wurden, könnten sich aus dem Abgleich der beiden Bibliographien Rückschlüsse auf das Selbstbild und das Repräsentationsbedürfnis der Musikwissenschaft in der DDR ziehen lassen.

Die schriftliche Debatte der einzelnen Beiträge konnte, anders als eine allein mündlich geführte, textnäher argumentieren. Präzisierungen der Begrifflichkeiten wurden vorgenommen, unterstützende Literaturhinweise nachgeliefert. Bei aller Differenz der Meinungen wurde festgehalten, dass eine Forschung zu den Gesellschaftswissenschaften in den 1970er- und 1980er-Jahren notwendig ist, die deren Eigendynamik ideengeschichtlich und als wissenschaftliche Praxis stärker in den Blick nimmt.

Die Veröffentlichung ausgewählter Beiträge in der Zeitschrift „Berliner Debatte Initial“ ist in Planung. Die Tagung wurde von der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Nachwuchsförderung der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina unterstützt.

Konferenzübersicht:

Peer Pasternack (Halle-Wittenberg): Die Dimensionen des Nachlebens der DDR-Gesellschaftswissenschaften

Heinz-Elmar Tenorth / Ulrich Wiegmann (Berlin): Erziehungsforschung in der DDR – Pädagogik auf dem Weg zu einer Gesellschaftswissenschaft

Christian Dietrich (Frankfurt/Oder): Im Modus der Loyalität. Die Entwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren

Daniel Benedikt Stienen (Berlin): Wie aus Friedrich „dem Zweiten“ Friedrich „der Große“ wurde. Ein Literaturbericht zu den Hintergründen der ostdeutschen „Preußen-Renaissance“ um 1980

Martin Küpper (Kiel): Welche Probleme brauchen Philosophie? Die Interdisziplinarität der Philosophie in der DDR in den 1970er-Jahren als Gegenstand der Philosophiegeschichtsschreibung

Dirk Schuster (Potsdam): ‚Besser leben ohne Gott‘. Die wissenschaftliche Interpretation von Religion in der marxistischen Religionssoziologie der DDR

Reiner Fenske (Dresden): Die DDR-Regionalwissenschaften als Form der Entwicklungssoziologie (ca. 1970 – 1990)? Wissenshistorische Fragen an die Positionierung eines Faches

Jan Loheit (Jena): Zwischen kritischer Innovation und postmoderner Rekonversion – das Wörterbuch der ästhetischen Grundbegriffe in der Krise des Staatssozialismus

Frederic von Vlahovits (Mainz): Perspektiven für die Fachgeschichte der Musikwissenschaft: Die Berichte über die Musikwissenschaftlichen Arbeiten der Deutschen Demokratischen Republik als Datenquelle künftiger Forschung


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