Historikertag 2002: Altes Herkommen und neue Frömmigkeit. Reform in Frauenklöstern des 15. Jahrhunderts

Von
Franz J. Felten, Mainz

Das Motto des diesjährigen Historikertags -Traditionen und Visionen - forderte geradezu, so schien es Sigrid Schmitt und mir, eine Anwendung auf das Kloster- und Ordenswesen, das beständig in dieser Spannung lebte und lebt. Stärker noch als die Geschichte der Kirche ist es insgesamt geprägt von Aufbruch und Institutionalisierung, von Berufung auf visionäre Ursprünge und traditionelles Herkommen, gerade auch im scheinbar gesetzmäßigen Auf und Ab von Verfall und Erneuerung, von Dekadenz und Reform, die das mittelalterliche Ordenswesen nach weit verbreiteter Meinung geprägt hat.

Dieses Spannungsverhältnis ist nicht nur ein prägendes Element der Geschichte selbst, sondern auch ein traditionsreiches Thema der mediävistischen Historiographie, insbesondere der Darstellung und Erforschung des späten Mittelalters. Diese Epoche, und in ganz besonderem Maße das 15. Jh., wurde lange Zeit nicht nur mit Blick auf Papsttum und Kirche, sondern gerade auch auf Kloster- und Ordenswesen geradezu als "vorreformatorisches Zeitalter" begriffen. So sehr schien das kirchliche Leben im Ganzen, das Leben in Klöstern und Stiften im Besonderen, geprägt von innerem und äußerem Verfall, dem erst die große Reformation des 16. Jh.s steuern konnte. Zahlreich in der Tat sind die Zeugnisse über Verfallserscheinungen wie Missachtung der Gelübde, verantwortungslose oder unfähige Äbte und Äbtissinnen, disziplinlose Mönche und Nonnen. Sie stammen nicht nur von Gegnern monastischen und stiftischen Lebens überhaupt oder einzelner Ausprägungen und Einrichtungen, sondern auch von Ordensangehörigen und wohlwollenden Außenstehenden, denen die Qualität der Lebensform am Herzen lag und liegt.

Dem farbigen Bild des Verfalls kann man freilich, wie die jüngere Forschung nachdrücklich herausgearbeitet hat, ein ebenso reiches Bild der Erneuerung, von Reformen und Neugründungen gegenüberstellen. Gerade diese moderne, vergleichende Ordensforschung hat das Bewusstsein für die methodischen Probleme geschärft, die mit der Erfassung, Beschreibung und Deutung der Phänomene verbunden sind, die man unter den nur scheinbar griffigen Termini Dekadenz und Reform subsummiert; hier sei nur auf die zu Klassikern gewordenen Arbeiten von K. Elm, K Schreiner und D. Mertens verwiesen. Sie lehrten uns fragen: Wie ist zwischen Herkommen und Tradition einerseits, Erstarrung und Verfall andererseits zu unterscheiden? Woher gewinnen wir die Maßstäbe für unser Urteil? Wo liegen die Ursachen für die konstatierten Phänomene? In der inneren Logik der Entwicklung, manche wollten gar von einem ‚Gesetz' sprechen? Im je individuellen und kollektiven Versagen der Beteiligten, der Herde wie der Hirten? Oder sind diese zu entlasten durch den Hinweis auf die Rahmenbedingungen, auf gesellschaftliche Notwendigkeiten (insbesondere die vielberufenen Versorgungsinteressen!) oder auf die krisenhaften Erscheinungen der Zeit, die schon von Zeitgenossen oft entschuldigend angeführt wurden? - Zeitlose Probleme so scheint es.

Ist in den letzten Jahren unser Wissen um die Reformen und die Reformer von Klöstern und Orden sehr gewachsen, so fanden die von den Reformen und Reformversuchen betroffenen Männer und Frauen viel weniger Aufmerksamkeit - und Verständnis, so scheint es. Sie sind gewissermaßen Opfer der geschichtlichen Ereignisse wie des Schreibens darüber. Um so mehr, so meinen wir, gilt es auf die Stimmen derer zu hören, die gegen ihren Willen reformiert wurden, Widerstand leisteten, auch wenn sie nur spärlich überliefert sind - und in der Wissenschaft bis heute nicht selten abfällig kommentiert werden: "kleinlicher Nonnenklatsch" wäre ein einschlägiges Urteil. Angesichts des tiefgreifenden Einschnitts, den eine Kloster- oder Ordensreform für das Leben jedes, jeder Einzelnen bedeutet, scheint es geboten, die Legitimität des reformerischen Eingriffs ebenso zur Diskussion zu stellen wie die des Widerstandes dagegen. Sind ‚Neuerungen', ‚Reformen' oder das, was man dafür ausgibt, per se ebenso positiv zu werten wie der Widerstand dagegen negativ?

In unserer Sektion sollten einige Fragen aus diesem Problemfeld mit unterschiedlichen Akzentsetzungen bearbeitet werden. Bewusst wurden dabei Frauenklöster in den Mittelpunkt gestellt, weil sie immer noch besonderer Forschungsanstrengungen bedürfen, ist doch das weibliche Religiosentum trotz aller Fortschritte in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer noch ein Stiefkind der Historiographie. Bewusst auch haben wir uns um die Zusammenarbeit von Profanhistorikern und Kirchenhistorikern bemüht.

Bernhard Neidiger (Standesgemäßes Leben oder frommes Gebet? Die Haltung der weltlichen Gewalt zur Reform von Frauenklöstern) fragte vor allem danach, warum Landesherren und Städte die Reform von Frauenklöstern durch die Observanz unterstützten. Anhand der drei früh reformierten Dominikanerinnen-Konvente Schönensteinbach im Elsaß, Steinenkloster in Basel und Liebenau bei Worms betonte er gegenüber den traditionell in den Vordergrund gerückten wirtschaftlichen und politischen Interessen der Städte und Landesherren (Kontrolle der Konvente) die kirchlichen und religiösen Interessen von frommen Frauen und Laien und stellte heraus, wie attraktiv das spirituelle Leben reformierter Frauenkonvente mit seiner praktischen, auf sittliche Besserung bemühten Frömmigkeit gerade für ein gebildetes Laienpublikum gewesen sei. Dabei sei die Grenze zwischen Observanz und Nichtobservanz wichtiger gewesen als Unterschiede zwischen den einzelnen Orden.

Sigrid Schmitt (Dominikanerinnenreform und Familienpolitik: Die Einführung der Observanz im Kontext städtischer Sozialgeschichte) verknüpfte am Beispiel der Reform der Straßburger Dominikanerinnen von St. Agnes (1464-1466) und St. Margaretha (1475) auf methodisch anregende Weise reformgeschichtliche Quellen mit sozialgeschichtlichen Befunden und gelangte so über reine Strukturanalysen hinaus. Es gelang ihr überzeugend, die Handlungsmöglichkeiten der agierenden und betroffenen Frauen aufzuzeigen. Offenbar waren nicht nur die politische Konstellation in der Stadt und die Haltung des Rates zur Observanz für Erfolg bzw. Misserfolg von Reformen entscheidend, sondern auch die Einflussnahme der Familien der Nonnen in den betroffenen Konventen.

Michael Oberweis (Cura monialium - cura posterior? Zum Stellenwert der Frauenklöster in zisterziensischen Reformkonzepten des 15. Jahrhunderts) stellte mit dem Himmeroder Liber dictaminum, einem Formelbuch des ausgehenden 14. Jh.s, eine einzigartige Quelle für die Praxis der cura monialium der Zisterzienser vor. Die Analyse zeigte deutlich, in welch hohem Maße der Abt durch die Aufsichtspflichten über die sieben bis neun ihm unterstellten Frauenklöster beansprucht wurde, wie sehr er sich um die Erhaltung oder Wiederherstellung der monastischen Disziplin bemühte - auch wenn sein Wirken u.a. durch den Diözesanbischof und die ökonomische Krise des Klosters zu Beginn des 15. Jahrhunderts beeinträchtigt wurde. Die recht erfolgreichen Maßnahmen der Himmeroder Äbte, können jedoch nicht, so das Fazit, über die historisch gewachsenen strukturellen Defizite der cura monialium im Orden hinwegtäuschen. Mangels zentraler Konzepte sei ihnen dauerhafte Wirkung versagt geblieben.

Thomas Lentes zielte unter dem provokanten Titel "Vom Mythos der Observanz oder: Wo lagen die Grenzen zwischen observanter und nicht-observanter Frömmigkeit?" auf eine Neubewertung des Verhältnisses zwischen den beiden sich oft polemisch voneinander abgrenzenden Gruppen. Anhand dreier Problemkreise (Reform als Rückkehr zu einem goldenen Zeitalter?, Reform als religiöse Erneuerung, als Institution?, Warum Gruppenbildung Observanz/ Nichtobservanz?) verwies er auf die wachsende Bedeutung der privaten Frömmigkeit in der Zelle als dem privaten Erfahrungsraum des Subjekts. Zum zweiten unterschied er zwischen Reform als Ereignis und als Prozeß religiöser Erneuerung. Die Revision historiographischer Quellen zur Reform des 15. Jh.s sowie ein Vergleich von Handschriftenbeständen, Frömmigkeitspraxis und Liturgie legen nahe, die Grenzen zwischen Observanten und Nicht-Observanten in hohem Maße als fließend anzusehen und Reform-Frömmigkeit weit stärker als Ausdruck eines kulturellen Transformationsprozesses zu verstehen, dem die gesamte Frömmigkeit des 15. Jh.s unterlag.

Statt einer Zusammenfassung der Vorträge formulierte der Sektionsleiter einige Punkte, die sich aus dem Gesagten ergeben und weiteres Nachdenken und Forschen erfordern:
Reform und Verfall - das wird man als Fazit ohne weiteres ziehen können - sind noch differenzierter zu betrachten, je stärker die Grenzen zwischen ihnen ins Ungefähre zu verschwimmen drohen. Zwischen unzweifelhaften Missständen wie etwa auf der Reichenau oder in St. Gallen und reformierten Konventen wie in St. Eucharius/ St. Matthias in Trier, um die hier nicht behandelten Benediktiner ins Spiel zu bringen, ist leicht zu richten. Was unterscheidet aber, so fragt man sich insbesondere nach den Ausführungen von Frau Schmitt und von Herrn Lentes "gute" Konventualen von Observanten? Wie erklärt sich die Verbreitung von Reformen? Alle Vorträge zeigten, dass globale Erklärungsmodelle nicht ausreichen, auch nicht im modernisierten Gewand der "normativen Zentrierung" (B. Hamm) oder, um eine aktuelle Chiffre zu gebrauchen, der "gesellschaftlichen Beschleunigung".

Aktuell bleiben folgende Probleme: Wie steht es um die Attraktivität der unterschiedlichen Reformkonvente und Reformverbände im Vergleich zu den nicht reformierten? Wie reagieren die Stifter vor und nach der Reform bzw. im Vergleich zwischen reformierten und nichtreformierten Häusern? Wie entwickeln sich die Konventsstärken? Werden die reformierten Häuser, wie in Straßburg und anderwärts zu beobachten, besonders nachgefragt? Wenn ja, wer "drängt" hinein? Neue Schichten, oder sind sie für alle attraktiv?

Das sind nur einige Fragen, die sich nach der Sektion aufdrängten. Mit- und Weiterdenken wie auch Widerspruch sind willkommen unter der email-Adresse: felten@mail.uni-mainz.de. Ich lade auch ein, unsere homepage zu besuchen, die einschlägige Titel und laufende Arbeiten nennt: http://www.uni-mainz.de/FB/Geschichte/hist2/.

[Eine ausführliche Fassung dieses Sektionsberichts finden Sie unter:
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/daten/2002/sektion_felten_2002.pdf R.H.]

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